Lebensmittel aus Supermarktmülltonnen zu entwenden ist illegal. Viele Menschen containern trotzdem regelmäßig. Wie fühlt es sich an, nachts heimlich in Abfalleimern zu wühlen?

Illustration: Karline Schönbach

Das dumpfe Licht der Laternen beleuchtet die Straße nur spärlich. In der Luft liegt ein beißender Geruch von vergorenem Obst und muffigem Käse. Er strömt aus einer am Straßenrand stehenden Supermarktmülltonne. Phillipp Mönch holt eine Taschenlampe aus seiner Tasche und richtet den grellen Lichtkegel auf den Inhalt der Tonne. Er schiebt Plastikmüll und Orangenschalen zur Seite, um Wurstaufschnitt, Salate und Fertigpizzen freizulegen. Phillipp muss sich weit über den Rand der Mülltonne lehnen, um an die Lebensmittel zu kommen. Er zieht das Essen aus der Tonne und wirft es neben sich in eine große Einkaufstasche. Schon nach wenigen Minuten ist sie bis zum Rand mit Lebensmitteln gefüllt, die für die Müllhalde bestimmt waren.

Wenn Abfall zu Abendessen wird

Laut dem Bundesministerium für Ernährung wurden 2020 in Deutschland elf Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Über die Hälfte (59 Prozent) von ihnen verursachten Privathaushalte. Doch auch der Einzelhandel entsorgte über 750.000 Tonnen Lebensmittel. Dabei waren viele von ihnen noch essbar. Phillipp geht deshalb containern. Das bedeutet: Er entwendet nach Ladenschluss nicht verkaufte Lebensmittel aus den Mülltonnen von Supermärkten. Containern wird als Diebstahl gewertet und ist strafbar. Phillipp möchte deshalb anonym bleiben, sein Name wurde von der Redaktion geändert. Er ist 26 und im Studium. Seit fünf Jahren geht er regelmäßig containern.

Er hat schon viele Lebensmittel gerettet. Nicht immer hatte er Glück: „Manchmal geht man dahin und findet tatsächlich gar nichts. Oder Sachen, die man vielleicht nicht haben will oder Sachen, die wirklich nicht mehr gut sind. Das kommt alles vor“. Oft aber findet er viele gute Lebensmittel in den Mülltonnen. Die Supermärkte werfen sie weg, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) abläuft. Phillipp lässt sich davon nicht abhalten und verlässt sich auf seine Sinne. Wenn die Lebensmittel noch gut riechen, aussehen und schmecken, isst er sie noch – egal, welches Datum auf der Packung steht.

Salate und ein Milchshake vom Containern
Täglich frisch zubereitete Salate werden am Ende des Tages weggeworfen. Foto: Louisa Eck

Um den Supermarkt stehen große Häuser, an der Straße parken BMWs und Audis. Im Viertel wohnen viele wohlhabende Personen. Sie ziehen vermutlich nicht in Erwägung, ihr Essen aus Mülltonnen zu holen. Phillipp findet schade, dass Containern oft stigmatisiert wird. Für ihn ist es vor allem praktisch: Er rettet Lebensmittel, die sonst auf dem Müll landen. Und er spart Geld. Allerdings werden gerade Grundnahrungsmittel wie Brot oder Müsli nur selten weggeworfen, sodass Phillipp diese weiterhin einkaufen muss: „Nur davon leben ist schon schwierig. Es ist einfach nicht verlässlich, dass so viele Lebensmittel weggeschmissen werden, wie man braucht.“

Eine Stunde vorher steht Phillipp zuhause und bereitet sich auf das Containern vor. Er streift sich seine „Containerjacke“ über. Die grüne Regenjacke hat bereits dunkle Flecken vom Mülltonnenrand am Bauch. Phillipp geht oft mehrfach die Woche containern. Die heutige Tour ist für ihn nichts Besonderes. Normalerweise hat er dabei kein mulmiges Gefühl im Bauch. Doch heute sieht er ein Licht in einem Fenster über dem Supermarkt. Jemand ist im Büro. Verunsichert dreht Phillipp wieder um.

Straftatbestand: Lebensmittelrettung

Erwischt werden will Phillipp beim Containern nicht. Es ist illegal, Lebensmittel aus Supermarktmülltonnen mitzunehmen. In der Praxis kommt es aber nur in wenigen Fällen zu einer Verurteilung, weil Verfahren oft eingestellt oder die Angeklagten freigesprochen werden. Seit vielen Jahren gibt es Diskussionen zur Entkriminalisierung des Containerns. 2023 warben Bundesjustizminister Buschmann und Bundesernährungsminister Özdemir für eine Änderung der Richtlinien zum Verfahrensrecht beim Containern: Verfahren sollen einfacher eingestellt werden können, wenn es sich dabei um reinen Diebstahl handelt. Das Aufbrechen von Schlössern oder Überwinden von Zäunen sei aber weiter verboten.

Auch die Fraktion Die Linke hat im Bundestag einen ähnlichen Gesetzesentwurf zur Entkriminalisierung des Containerns vorgestellt. Im April 2023 äußerte sich der Rechtsausschuss des Bundestags zum Gesetzesentwurf und riet von der Verabschiedung des Gesetzes ab. Eine Änderung der Verfahrensrichtlinien sei kein passendes Mittel für die Entkriminalisierung. Zwar könnten die Verfahren dann einfacher eingestellt werden, strafrechtlich gesehen sei Containern aber weiterhin verboten. Aus den Gesetzesentwürfen wurde deshalb bis heute nichts – obwohl der Rechtsausschuss inhaltlich kaum Einwände gegen eine Entkriminalisierung hat.

Phillipp muss also weiter aufpassen, nicht erwischt zu werden. Auch er würde begrüßen, keinen Diebstahl begehen zu müssen. Hausfriedensbruch oder Sachbeschädigung beim Containern verurteilt Phillipp aber: „Schlösser aufbrechen oder so ist für mich auf jeden Fall kein Thema“. Eine Lösung wäre für ihn, Supermärkte zu verpflichten, Mülltonnen öffentlich zugänglich hinzustellen.

Nach einer halben Stunde probiert Phillipp es erneut. Das Licht über dem Supermarkt brennt immer noch, aber es ist niemand im Fenster zu sehen. Phillipp wagt es diesmal und öffnet den Müllcontainer. In seinem Umfeld wurde noch nie jemand fürs Containern bestraft. „Ich glaube, es ist auch schon mal Polizei an uns vorbeigefahren“. Während er die Lebensmittel aus der Tonne zieht, fahren Autos auf der Straße vorbei. Ihre Fahrer*innen schauen Phillipp an. Die Blicke sind unangenehm, aber es passiert nichts weiter. Kurze Zeit später ist Phillipp wieder auf dem Heimweg. In seiner Hand eine Tasche mit geretteten Lebensmitteln, die so schwer ist, dass er sie kaum tragen kann. Oft findet er so große Mengen, dass er nicht alles mitnehmen kann: „Wenn ich schon fünf Packungen Wurst in der Tasche habe, überlege ich – wieviel esse ich, wieviel isst du, wie lange hält das noch. Zehn Packungen hat vielleicht keinen Sinn“.

Viele verkehrsfähige Lebensmittel aus der Mülltonne nach dem Containern
Die Ausbeute von zehn Minuten containern. Foto: Louisa Eck

Was sagen die Supermärkte zum Containern?

Der Bundesverband des deutschen Lebensmittelhandels (BVLH) spricht sich gegen eine Entkriminalisierung des Containerns aus. Es gebe bereits heute genug Möglichkeiten, das Containern strafrechtlich nicht zu verfolgen. Auch sei es kein wirksamer Beitrag zur Reduzierung von Lebensmittelverschwendung, weil Privatpersonen die meisten Lebensmittel wegwerfen. Ähnlich positionieren sich große Supermarktketten wie die Rewe Group oder Aldi Nord auf Anfrage von FINK.HAMBURG. Nach eigener Aussage würden sie beinahe alle verkehrsfähigen Lebensmittel spenden und nur Lebensmittel entsorgen, die nicht mehr sicher für den Verzehr sind.

Auch sorgt sich der BVLH um potenzielle gesundheitliche Schäden, die das Containern verursacht. Oft könne man den Lebensmitteln nicht ansehen, dass ihr Verzehr nicht mehr sicher ist. Phillipp meint, das sei Eigenverantwortung. Als größere Mengen von einem Produkt in den Mülltonnen lagen, hat er auch schon im Internet nachgeschaut und gesehen, dass es einen Rückruf gab – allerdings erst, nachdem er sie gegessen hatte. Ebenso müsse man während des Containerns darauf achten, sich nicht an dem Müll zu verletzen: „Man muss ein bisschen auf seine eigene Sicherheit achten. Kommt schon oft vor, dass da kaputte Glasflaschen drin sind oder sowas“.

Zuhause breitet Phillipp die Ausbeute auf seinem Küchentisch aus. Käse, Aufschnitt und Salate bedecken den halben Küchentisch. 85 Euro hätte er im Supermarkt dafür zahlen müssen. Einige Lebensmittel sind mit einem weißen Film bedeckt. Ein Joghurtbecher ist in der Tasche aufgeplatzt. Phillipp spült sie ab. Jetzt weist nichts mehr darauf hin, dass sie vor einer halben Stunde noch in einer Mülltonne lagen. Die Lebensmittel auf dem Küchentisch beweisen, dass Supermärkte weiterhin viele verkehrsfähige Lebensmittel wegwerfen. Bis sich dies ändert, wird Phillipp weiter regelmäßig nachts an Supermarktmülltonnen stehen.

Louisa Eck, Jahrgang 2002, schrieb in der 3. Klasse für die Schülerzeitung einen Artikel über einen Bauern, der Kastanien für seine Schweine sammelte. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war klar: Sie möchte Journalistin werden. Louisa studierte Medienwissenschaft in Köln. Auch ein Abstecher in die PR beim dortigen Institut der deutschen Wirtschaft brachte sie nicht vom Journalismus ab. In der Domstadt entdeckte sie neben ihrer Liebe zum Karneval auch ihr Talent für die Herstellung von veganem Gebäck. Seit ihrem Umzug in ihre Geburtsstadt Hamburg ruht ihr Froschkostüm. Im HAW Newsroom verteidigt sie jetzt Alaaf gegen Helau und Kölsch gegen Alt und Astra. Kürzel: eck

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