Friedhof der Avatare

In einer Klinik in der Nähe von Hamburg begraben Patienten rituell ihre digitalen Avatare. Eine Multimediareportage über pathologisches Computerspielen.

Ein Text von Tobias Bug und Lukas Gebhard mit Illustrationen von Yannick de la Pêche

„Starte das verdammte Spiel!“ Der junge Mann mit der Brille kann es kaum erwarten. Mit wutverzerrtem Gesicht sitzt er vor dem PC-Bildschirm und kreischt. Krachend hämmert er auf die Tastatur ein, hebt sie an, klatscht sie auf den Schreibtisch. Irgendwann lösen sich Tasten, bevor er schwer atmend innehält. Nun bekommt die Maus seine Wut zu spüren. Endlich scheint das Spiel zu starten. Jubelnd hebt der Junge die Arme: „Jetzt geht’s los!“

Vier Minuten und zweiundzwanzig Sekunden pure Raserei. Die Szene stammt aus einem Video, das bei „Youtube“ eineinhalb Millionen Mal angeklickt wurde. Angry German Kid wird der Heranwachsende genannt. Oder UT-Kid, weil er das Spiel „Unreal Tournament“ zum Laufen bringen möchte. In extremer Art und Weise spiegelt sein Ausraster wider, was Computerspiele bei ihren Nutzern auslösen können. Welche Aggressionen ein nicht funktionierender PC verursachen kann.

Das Video ist ein „Fake“, es ist nur geschauspielert. Doch es zeigt eine Problematik, die real ist. Gespielt werden Computerspiele im Digitalen, doch die Ursachen und Folgen ihres problematischen Konsums – schlimmstenfalls einer Sucht – liegen in der Realität.

Faustformel für die Sucht: Eine Tragödie

Was ist eigentlich eine Sucht? Tim Aalderink, leitender Psychologe an der Schön Klinik Bad Bramstedt, führt die ICD-10-Kriterien von der Weltgesundheitsorganisation WHO als Definition auf. Demnach werde eine Abhängigkeit diagnostiziert, wenn wenigstens drei der folgenden sechs Kriterien innerhalb des letzten Jahres bei dem Patienten vorhanden waren:

  1. Ein starkes Verlangen nach dem Gegenstand der Sucht

  2. Der Patient kann Beginn und Ende sowie Menge des Konsums nicht mehr kontrollieren

  3. Eine Dosissteigerung infolge einer Toleranzentwicklung

  4. Körperliche Entzugserscheinungen beim Patienten

  5. Andere Interessen werden vernachlässigt und zurückgedrängt – wie etwa die Karriere oder soziale Kontakte

  6. Der Patient konsumiert, obwohl er um die negativen Konsequenzen seines Verhaltens weiß

Der schüchterne Alkoholiker

Helge Tönsing, Diplom-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut in der Suchtambulanz des Hamburger Universitätsklinikums Eppendorf (UKE), beschreibt: "Am besten erklärt man eine Sucht mit dem Bild eines Menschen mit kaputtem Bein, der zum Laufen auf eine Krücke angewiesen ist, wobei das Suchtmittel die Krücke darstellt."

Bezogen auf eine soziale Phobie, bei der Betroffene ausgeprägte Ängste haben, in sozialen Situationen im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und sich peinlich oder beschämend zu verhalten, könne zum Beispiel die Schüchternheit das kaputte Bein sein. Der Introvertierte trinke dann etwa Alkohol, um gesprächiger zu werden. Die "Funktion" des Suchtmittels sei es dann, die Angst kurzfristig zu senken. "Tragisch daran ist, dass durch eben diesen Mechanismus die Angst langfristig erhalten bleibt oder zunimmt", sagt der Psychologe.

Einige Spiele sollen süchtig machen

"Computerspielsucht hat das Potenzial, ein Leben zu zerstören. Einige Computerspiele sind bewusst so designt, dass sie süchtig machen", sagt Tönsing. Ein Beispiel hierfür ist das MMORPG, Mehrspieler-Online-Rollenspiel, "World of Warcraft". Der Therapeut berät auch pathologische Zocker – aber ausschließlich in Erstgesprächen. Seine Einrichtung ist eher auf stoffgebundene Süchte spezialisiert und kann den steigenden Ansturm an Computerspielsüchtigen kaum stemmen. Eine ausgewiesene Therapie bietet die Hamburger Klinik ihnen nicht. Es finden jedoch Erstgespräche mit einer entsprechenden Diagnostik statt. Die Mitarbeiter geben den Patienten dann, je nach Krankheitsgrad, Hinweise zur Selbstkontrolle oder verweisen an spezialisierte Einrichtungen wie die in Bad Bramstedt.

An der dortigen Schön Klinik ist Tim Aalderink leitender Psychologe. Er nennt als typische Beispiele für das Störungsbild "pathologischer Computer-Gebrauch" folgende Arten: "Gamen" ist vor allem unter Männern verbreitet – sie spielen Rollenspiele oder Ego-Shooter wie "Counter-Strike". Frauen sind häufiger abhängig von sozialen Netzwerken und verbringen sehr viel Zeit auf Instagram, Tumblr oder Facebook. Auch Surfen im Internet – ob mit oder ohne konkretem Ziel – kann abhängig machen.

DIE GAMING-INDUSTRIE SOLLTE GELD BEZAHLEN FÜR DIE SUCHTBEHANDLUNG.

— Helge Tönsing, Diplom-Psychologe

Verführung im PC-Spielekeller

Die sechs ICD-10-Kriterien sind auf Computerspielabhängigkeit anwendbar. Pathologische Zocker haben ein starkes Verlangen: den Wunsch, in die virtuelle Welt des Spieles zu versinken. Ein Kontrollverlust ist auch erkennbar, da der Betroffene Beginn und Ende seines Computerspielkonsums nicht mehr kontrollieren kann. Der Spieler steigert seinen Konsum kontinuierlich, um das gleiche Maß an Spannung beizubehalten und vernachlässigt Schule, Ausbildung, Familie und Freunde. Der Zocker weiß meist sehr gut, dass sein exzessiver Konsum ihm nicht gut tut – und spielt trotzdem. Körperliche Entzugserscheinungen sind etwa Unruhe, Traurigkeit, Gereiztheit oder Ängstlichkeit.

Tönsing hat ein Belohnungssystem als Ursache dafür ausgemacht, dass die Betroffenen den PC nicht mehr ausschalten. Besonders bei Ego-Shootern und MMORPGS gibt es kurzfristige Belohnungen für erreichte Ziele. "Ich hab dich umgebracht!" Das Angry German Kid johlt vor Freude. Für ihn bedeutet das Töten des Feindes in dem virtuellen Spiel eine kurzfristige Befriedigung.

Der einsame Zockerlehrling

So ging es auch Dirk Schmidt, der eigentlich anders heißt. Der 24 Jahre alte Industriekaufmann war vier Jahre lang computerspielsüchtig. An dem Rollenspiel "League of Legends" reizte ihn vor allem die Möglichkeit, immer weiter aufzusteigen. Doch das Spiel machte ihn einsam. Aus eigener Erfahrung weiß Schmidt: Seine Abhängigkeit funktionierte nach dem gleichen Mechanismus wie eine Drogen- oder Alkoholsucht. Das Gefühl des Mangels kompensierte Schmidt lange mit Zocken. "Während man die Droge konsumiert, fühlt man sich besser, glücklicher."

Computerspielsucht hat negative Auswirkungen auf Betroffene. Schmidt redet im Video-Interview mit FINK.HAMBURG etwa über sozialen Rückzug und das Vernachlässigen von Verpflichtungen wie Schule, Ausbildung und Beruf. Helge Tönsing, der Hamburger Psychologe, fordert: "Die Gaming-Industrie sollte Geld bezahlen für die Suchtbehandlung."

Die Leiden des jungen Zockers

Tasten flogen auch schon im Kinderzimmer von Schmidt. Doch weder war das für eine Videoplattform geschauspielert, noch passierte es aufgrund von Schmidts eigener Raserei. Er konnte wenigstens jemand anders die Schuld geben. Eines seiner Elternteile hatte die Tastatur zertrümmert – vor den Augen von Schmidt, der nicht mehr aufhören konnte mit dem Zocken. Er war damals 18 Jahre alt, hatte das Abitur gerade so bestanden und war seit über drei Jahren "auf jeden Fall computerspielsüchtig", sagt er.

WÄHREND MAN DIE DROGE (das Spiel, d. Red.) KONSUMIERT, FÜHLT MAN SICH BESSER, GLÜCKLICHER.

— "Dirk Schmidt", ehemals computerspielsüchtig

Die Datenlage

In einer DAK-Studie von 2016 wurde die Verbreitung von Computerspielsucht untersucht. Die Forscher befragten über 1.500 Menschen zwischen zwölf und 25 Jahren. Dabei verwendeten sie die durch die Internet Gaming Disorder Scale (IGDS) festgelegten neun Kriterien für Computerspielsucht.
Erfüllt ein Mensch wenigstens fünf dieser neuen Kriterien, ist er im Sinne der IGDS computerspielsüchtig.


In einem Quiz könnt ihr testen, ob ihr selbst süchtig nach Computerspielen seid oder zumindest einige Kriterien der IGDS erfüllt.
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Jeder zwölfte Mann computerspielsüchtig

Von den in der DAK-Studie Befragten, erfüllten etwa 8,5 Prozent der männlichen Erwachsenen, Jugendlichen und Kinder die Kriterien für eine Abhängigkeit. Das bedeutet, dass jeder zwölfte Mann in Deutschland abhängig von PC-Spielen ist: etwas unter 3,5 Millionen Männer. Bei Frauen fiel die Quote geringer aus. Knapp unter drei Prozent, also 1,2 Millionen Frauen, erfüllten ausreichend Kriterien für eine Abhängigkeit.

Mehr als jeder sechste männliche Befragte zwischen zwölf und 14 Jahren gab an, ernsthafte Probleme wegen des Spielens zu haben – sei es in der Beziehung, mit der Familie oder mit Freunden. Weitere vier Prozent der männlichen Teilnehmer gaben an, den Kontakt zu Freunden und Familienangehörigen zu vernachlässigen.

Und welche Spiele werden gespielt? Bei den Mädchen am beliebtesten sind laut DAK-Studie „Die Sims“, gefolgt von „Candy Crush Saga“ und „Pokémon Go“. Bei den Jungen liegt „Minecraft“ vorn, beliebt sind auch „FIFA“ und „League of Legends“.

Gibt es PC-Spielsucht?

Über die Frage, ob pathologisches Computerspielen einer Sucht nach Drogen gleichzusetzten ist, herrscht Uneinigkeit. Die Weltgesundheitsorganisation WHO stuft es mittlerweile als Krankheit ein und nahm Gaming Disorder im Sommer 2018 in ihren Katalog unter Punkt ICD 11 auf. Der Psychiater Ronald W. Pies definiert in seiner Abhandlung  "Internet-Abhängigkeit – Eine psychische Krankheit?": "Pathologischer Computergebrauch ist die Unfähigkeit von Individuen, ihre Nutzung zu kontrollieren, wenn diese zu bedeutsamen Leiden und oder Beeinträchtigung der Funktionalität im Alltag führt." Das Suchtproblem wird der relativ neuen Kategorie der Verhaltenssüchte zugeordnet. Eine solche ist etwa auch die Kaufsucht.

Sogar unter Psychologen ist die Frage nach der Sucht umstritten, wie Tim Aalderink von der Schön Klinik Bad Bramstedt beschreibt: "Die nosologische Einordnung, die eine Krankheit systematisch beschreiben soll, war aufgrund der unzureichenden Belege lange offen und wird auch aktuell noch von Forschern und Klinikern kontrovers diskutiert."

Journalist gegen Bezeichnung als Sucht

Gegen eine Einstufung des exzessiven Zockens als Sucht ist der Journalist Christian Schiffer: "Das Computerspielen ist ein Symptom von anderen psychischen Erkrankungen." Schiffer setzte sich intensiv mit dem Thema auseinander und produzierte unter anderem einen Hörfunkbeitrag über pathologischen PC-Gebrauch sowie eine ZDF-Dokumentation über "Killerspiele".

ICH MÖCHTE NICHT IN EINER WELT LEBEN, IN DER ALLES ZUR KRANKHEIT ERKLÄRT WIRD.

— Christian Schiffer, Journalist und Gründer des Gaming-Magazins "WASD"

FINK.HAMBURG: Gibt es Computerspielsucht, Herr Schiffer?

Christian Schiffer:

Was halten Sie davon, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO pathologischen Computergebrauch als Krankheit eingestuft hat?

Pathologische PC-Spieler versuchen, durch das Eintauchen in die digitale Welt der Realität zu entkommen. Was sagen Sie zu dieser Behauptung?

Inwiefern haben Sie sich bereits mit dem Thema Computerspielsucht journalistisch auseinandergesetzt? 

Eine bessere Selbststeuerung

Ob Sucht oder nicht, Computerspielen kann für die Spieler zum Problem werden. Todesfälle durch Zocken ohne Pause hat es auch schon gegeben. So starb in Südkorea ein Mann, nachdem er 50 Stunden lang spielend vor dem PC gesessen und Schlaf und Nahrung vernachlässigt hatte. Das ist natürlich die Ausnahme, doch manchmal ist das Problem so groß, dass die Betroffenen ihren PC-Konsum nicht mehr kontrollieren können und negative Auswirkungen im Alltag spüren. Dann bietet sich eine Therapie an.

In der Therapie lernen Patienten, ihr Verhalten wieder bewusst zu steuern. Dafür führen sie ein Computertagebuch und erstellen einen Wochenplan. Jeder Patient folgt anderen Regeln, um wieder normal mit dem PC umgehen zu können. Sofortiger und völliger Verzicht ist meist schwierig. Deshalb legen Patienten eine maximale Anzahl an Stunden fest, die sie in einer Woche vor dem Monitor verbringen. Oder sie nehmen sich vor, nur noch gemeinsam mit real anwesenden Personen zu spielen.

ICH HATTE EINEN TEIL MEINER SEELE IN DICH GESTECKT, DEN MEIN KÖRPER NUN WIEDER SELBST BENÖTIGT, OHNE DABEI IN INTERNETGAMES ZU SEIN. R.I.P.

— Todesanzeige für Avatar, Schön Klinik Bad Bramstedt

Wahlverwandtschaften mit Avataren

Manchmal greifen die Psychologen in Bad Bramstedt auch zu unkonventionellen Methoden: Dann werden etwa die Avatare der Süchtigen in die Behandlung mit einbezogen. In den Rollenspielen sind die PC-Spieler in die Persönlichkeiten ihrer Avatare geschlüpft. Diese werden im Zuge der Behandlung auf einer rituellen Beerdigung auf dem "Friedhof der Avatare" zu Grabe getragen. Die Therapeuten versprechen sich von der Zeremonie, dass die Betroffenen endgültig mit ihrer virtuellen Identität abschließen können. Eine Todesanzeige für einen Avatar zeigt etwa folgenden Text: "Ich hatte einen Teil meiner Seele in dich gesteckt, den mein Körper nun wieder selbst benötigt, ohne dabei in Internetgames zu sein. R.I.P."

Die Rettungsboje

Ist das Problem mit dem Computerspielen beim Betroffenen weniger stark ausgeprägt, kann eine Suchtberatung auch ambulant erfolgen: etwa im Suchthilfezentrum Boje in Hamburg. Die durch Zuwendungsgelder der Stadt finanzierte Einrichtung hat den Auftrag, "Süchtige oder potenziell Suchtgefährdete zu beraten." Markus Gätje ist Suchtberater und Therapeut bei der Boje. Er erklärt, dass bei den Therapiekostenträgern wie Krankenkassen und Rentenversicherung schon seit einiger Zeit Einigkeit bestehe, dass "Medienabhängigkeit eine behandlungswürdige Problematik" ist. Und das nicht erst seit ihrer Einstufung als Krankheit durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Wie kann man vermeiden, süchtig zu werden, Herr Gätje? Als Therapeut stand Gätje schon vielen Patienten mit Geduld zur Seite – sozusagen als Hafen der Hoffnung. Die Antwort des erfahrenen Psychologen lautet: "Ein Spiel kann unheimlich reizvoll und spannend sein. Aber es ist wichtig, dass die Dinge in einem Gleichgewicht sind, dass eine gewisse Ausgewogenheit da ist." Um ein aufregendes und befriedigendes Leben führen zu können, sollten sich Süchtige oder suchtgefährdete Menschen "dem Abenteuer Leben" auf vielfältige Weise stellen.

Klick um Klick: Dirk Schmidts Selbsttherapie

Schmidt hat nicht den Weg einer Behandlung gewählt. Zwar informierte er sich eine Zeit lang intensiv über Spezialtherapien zur Bekämpfung seiner PC-Spielsucht. In Anspruch nahm er jedoch nie eine. Der Journalist Christian Schiffer erklärt: "Problematischer PC-Spielkonsum ist häufig eine Phase, die sich mit steigendem Alter wieder gibt." Obwohl Schmidt von einer heilenden Selbsttherapie spricht, hatte er doch eine motivierende Person: seine Frau. Da die Beziehung unter seinem ständigen Zocken litt, entschied er sich, aufzuhören. "Das war nicht einfach. Aber es war die beste Entscheidung meines Lebens."

SPIELEN IST EINE TÄTIGKEIT, DIE MAN GAR NICHT ERNST GENUG NEHMEN KANN.

— Jacques-Yves Cousteau, französischer Dokumentarfilmer a. D.

2 KOMMENTARE

  1. Was für ein toller Bericht. Umfangreich beleuchtet und umfangreich ausgedrückt. Alle Sinne angesprochen – lesen sehen hören toll weiter so.

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