In der Harburger Erstaufnahmestelle Neuland ll hilft die Sozialarbeiterin Emily Brandenburg Flüchtlingen bei ihrer Ankunft in Deutschland. Dabei versinkt alle Energie im Camp-Blues.

„Es gibt Orte, die sollte man früh verlassen, wenn man noch etwas vorhat im Leben”, schreibt Heinz Strunk in seinem Buch „Fleisch ist mein Gemüse“. Gemeint ist der Hamburger Bezirk Harburg. Er sei einfach der „falsche Stadtteil“, vernachlässigt und identitätslos – irgendwie uncool. Am äußersten Rand Harburgs erstreckt sich die Schlachthofstraße. Auf der einen Seite brettern S-Bahnen über die Schienen. Auf der anderen PKW über die Autobahn. Dazwischen: Ein Baumarkt und eine umzäunte Halle mit dem Namen Neuland II: Sie ist eine von sechs Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete in Harburg, die 2015 vom Deutschen Roten Kreuz errichtet wurde.

Es ist morgens um 8.30 Uhr. Während gegenüber Nordmanntannen mit Tiefpreis-Garantie bei Bauhaus verkauft werden, ist es im Camp noch ganz ruhig. Die meisten Bewohner von Neuland II schlafen noch. Die meterhohen, weißen Decken der Halle erinnern an den Großmarkt, der hier einst untergebracht war. Heute befinden sich auf der weitläufigen Fläche unzählige Unterkünfte, aus weißen Pappwänden gezimmert.. Dicht an dicht. Weiß an weiß. DieMenschen, die in ihnen leben, sind aus dem Irak, Afghanistan oder Syrien nach Deutschland geflüchtet.

Für die DRK-Sozialarbeiterin Emily Brandenburg beginnt der Arbeitstag im Camp mit dem Lesen des Protokolls, das die Mitarbeiter der Sicherheitsfirma in der Nacht geschrieben haben. „Wenn Streitigkeiten, Krankheiten oder sonstige Probleme auftauchen, muss ich gleich mit den Betroffenen sprechen“, sagt sie.

Das Protokoll am heutigen Morgen ist kurz:

“Es ist ein Fuchs durch das Camp gelaufen. das soll schon öfter vorgekommen sein.”

Die letzte Nacht war also ruhig.

„Jeder Tag ist wie ein Überraschungsei. Ich weiß nie, was mich erwartet“, sagt Emily lächelnd. Ein Arbeitsalltag mit wiederkehrenden Abläufen wäre nichts für die 27-jährige. Ihren Bachelor-Abschluss in Psychologie machte sie an der Universität Hamburg. Das war 2015,das Jahr, in dem über eine Million Asylsuchende in Deutschland registriert wurden. Wie viele Studenten sehnte sich Emily nach einer praktischen Tätigkeit, einer Auszeit vom Studium, bevor es mit dem Master weitergehen sollte. Durch ihre ehrenamtliche Mithilfe in der Transitzone am Hauptbahnhof erfuhr sie von dem Job als Sozialarbeiterin in einer neu eingerichteten Flüchtlingsunterkunft in Harburg.

Die Schlachthofstraße im Osten Harburgs. Foto: Ellen Wolff

„Mein erster Tag war der denkbar schlechteste Start. Es gab zuvor eine Massenschlägerei zwischen Neuland II und der benachbarten Schwesternunterkunft”, sagt Emily Brandenburg. Das Ereignis musste aufgearbeitet werden. (Wie?) Außerdem waren den neuen Mitarbeitern die Behördengänge, Abläufe und Kommunikationswege im Camp noch weitestgehend unbekannt. „Es war ein ganz schönes Chaos. Echt ein Sprung ins eiskalte Wasser“. Damals war sie sich sicher, dass sie nicht lange bleiben würde. Das ist ein Jahr und drei Monate her. „Seitdem ist in der Flüchtlingsarbeit viel passiert. Wie auf einer Autobahn, mit unglaublicher Geschwindigkeit. (komisches Bild) Wir sind mittlerweile viel besser organisiert.“

Emily sitzt in ihrem kleinen Büro. Die Wände sind mit Kinderzeichnungen dekoriert. Ein Bild zeigt eine Barbie mit blondem Haar, kurzem Mini-Rock und einem Hund an der pinken Leine. Darüber in krakeliger Schrift „Amle“: Emily in kurdischer Lautschrift. „Das ist mein Alter Ego“ sagt die Sozialarbeiterin. Die Ironie in ihrer Stimme ist nicht zu überhören – erinnert ihr braunes, locker gebundenes Haar, die wachsamen Augen und die überlegten Worte der Halbgriechin doch so gar nicht an die meistverkaufte Puppe der Welt.

Während sie Therapie-Termine für die Bewohner auf Zetteln notiert, sagt sie amüsiert: „Mit Terminen haben es die meisten hier nicht so, deshalb schreibe ich sie auf und übergebe sie persönlich“. Zweimal pro Woche arbeiten Traumatherapeuten die Flucht- und Kriegserfahrungen mit den Patienten auf. Mit den kleinen Zetteln in der Hand betritt Emily die große Halle und klopft an die Außenwand einer Unterkunft. Eine Bewohnerin steckt ihren Kopf durch den blauen Plastikvorhang, die Tür zu ihrem Zimmer. Sie nimmt den Zettel entgegen und bedankt sich mit einem Lächeln. Sie sieht müde aus.

Langsam erwacht das Leben in Neuland II. Wie jeden Morgen gehen Menschen in Badelatschen mit ihren Duschutensilien im Arm zu den Sanitäranlagen auf dem Hof. Hier beginnt der Tag mit der Morgenwäsche. Eine afghanische Familie ist heute schon länger auf den Beinen. Auf einem Rollwagen bringen sie ihre Besitztümer, in blaue Müllsäcke verstaut, auf den Hof. Heute ist für sie Transfertag: Sie ziehen um. Die jüngste Tochter sitzt auf den gestapelten Umzugstüten und wackelt aufgeregt mit den Füßen. „Transfer ist hier ein großes Thema“, sagt Emily. Viele Bewohner wollen Neuland II verlassen, weil ihre Verwandten in anderen Camps untergebracht sind. „Die Bewohner wissen, dass es eine Warteliste gibt. Trotzdem fragen sie regelmäßig nach einem Transfer. Das ist pure Verzweiflung“.

Die Familie aus Afghanistan verlässt Neuland II an diesem tristen Morgen und wird vorerst in einer anderen Erstaufnahmestelle leben. Ein Wagen vom Roten Kreuz verlässt den graubetonierten Hof und bringt die blauen Säcke zur nächsten Station auf dem unbestimmten Weg der Familie. Denn ob sie langfristig in Deutschland bleiben dürfen, das wissen die wenigsten.Nur ein Drittel der Campbewohner habe eine Aufenthaltserlaubnis: „Die fehlende Stabilität ist für die Geflüchteten am schwierigsten“, sagt Emily. „Viele wissen gar nicht, ob sie im nächsten Monat überhaupt noch hier sind. Und dann kriegen sie von unserer Gesellschaft zu hören: Integrier‘ dich, lern‘ die Sprache und das am besten gleich morgen!”

Die Unsicherheit, der Stress und die fehlende Privatsphäre erschweren das Leben der Bewohner zusätzlich: „Ich mag Menschen mit Rebellion im Blut. Aber hier leben unterschiedlichste Menschen auf engstem Raum. Da müssen viele Bewohner zurückstecken.” Dass dies unter den Bedingungen nicht immer klappt, scheint wenig überraschend: „Klar, gibt es im Camp ab und zu mal Stress. Die Gründe dafür sind so divers wie die Bewohner selbst”, erzählt Emily und fügt hinzu: „Das ist wie in jedem deutschen Kleingartenverein.“

Und dennoch höre man ständig Vorwürfe, beispielsweise, dass die Geflüchteten froh sein sollen, dass sie ein Dach über dem Kopf haben. Solche Relativierungen regen die Sozialarbeiterin auf. „Haben die noch nie was von der Maslowschen Bedürfsnishirarchie gehört? Haben wir A, wollen wir B! So ist der Mensch gestrickt”, sagt die Sozialarbeiterin aufgebracht. „Nur weil es einem mal schlecht ging, verschwindet doch nicht das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, Glückseligkeit und Autonomie. Das ist absoluter Bullshit.” Erschrocken ist sie auch darüber, dass ihr im persönlichen Umfeld immer häufiger Ressentiments begegnen. Die Stimmung sei dabei völlig losgelöst von Fakten: „Die Realität die ich in Harburg wahrnehme, hat rein gar nichts mit der Stimmungsmache in den Medien gemein”, sagt Emily, während sie die Unterlagen für eine Sozialberatung zusammensucht.

Egal ob Krankenversicherung, Aufenthaltserlaubnis, HVV-Ticket oder Steuernummer: Mit Hilfe eines Dolmetschers begleitet Emily die Bewohner in der Sozialberatung beim Slalom durch die deutsche Bürokratie. 2016 mussten Geflüchtete im Durchschnitt knapp zehn Monate auf ihren Asylbescheid warten. Eine Zeit, in der sie kein Recht auf Arbeit und nur selten Zugang zu Deutschkursen haben. Die Frustration ist entsprechend groß. „Die Leute wollen ein neues Leben beginnen. Da ist so viel Potenzial“, so Emily. „Unserer Gesellschaft könnte nichts Besseres passieren. Trotzdem parkt man sie erstmal in Unterkünften und all die Euphorie versiegt im Camp-Blues. Das ist unfassbar.”

Ein Hintereingang der Flüchtlingsunterkunft Neuland II. Foto: Ellen Wolff

Erste Schatten der untergehenden Sonne legen sich auf die Dächer von Neuland II. Emilys Arbeitstag neigt sich dem Ende. Im Hof raucht sie eine selbstgedrehte Zigarette und bläst erschöpft den Rauch in die kalte Luft. „Am wichtigsten ist, dass man das Nähe-Distanz-Problem in den Griff bekommt. Zu Beginn haben mich die Schicksale hier sehr mitgenommen. Ich habe viele Geschichten mit nach Hause genommen”, erzählt sie nachdenklich. „Jeder Mitarbeiter muss hier für sich klar kriegen: Wie viel kann ich geben, um arbeitsfähig zu bleiben? Wer mitleidet, kann nicht richtig helfen!”

Emilys Heimweg führt sie hinaus aus Harburg. Jeden Abend verlässt sie den „falschen Stadtteil” und fährt in ihre WG im Zentrum des belebten Schanzenviertels. Hier lebt sie Tür an Tür mit dröhnenden Bars, die nachts röhrende Betrunkene auf die Straßen speien.Die Bewohner von Neuland II liegen sechszehn Kilometer entfernt in ihren Betten und warten auf den nächsten Tag. Die Meute in der Schanze hält das nicht vom Feiern ab.

„Warum auch?” fragt Emily. „Auf den Philippinen wird ein brutaler Krieg gegen Drogen geführt und in Kenia wurde das größte Flüchtlingslager der Welt geschlossen. Da bin ich ja auch nicht emotional involviert. Jeder sucht sich das, was ihn interessiert, das, was er oder sie tragen und ertragen kann”, sagt Emily während sie sich geübt ihren Weg durch die Massen bahnt.

Nach ihrem Master möchte sie im Strafvollzug arbeiten. Die verstörenden Geschichten der Insassen faszinieren sie. Einen routinierten Arbeitstag wird sie dort auch nicht haben. Das wäre für die Psychologin aber ohnehin keine Alternative. „Ein Leben, in dem man zu lange am selben Punkt tritt und sich nichts mehr bewegt?” Ihre Augen blicken bestürzt. “Vergiss es!”

Lena Frommeyer ist Journalistin und Dozentin für Online-Journalismus am Mediencampus der HAW Hamburg. Sie betreut hier den Newsroom von FINK.HAMBURG. Sie schreibt u.a. für das Mobilitäts-Ressort beim SPIEGEL über Mobilität der Zukunft, Fahrradkultur, öffentlichen Nahverkehr und Verkehrspolitik. Davor hat sie unter anderem für das Stadtmagazin HAMBURG SZENE und die ZEIT gearbeitet.

Ellen Wolff