Das Digitalprojekt juvenal.org dokumentiert die Zunahme der Videoüberwachung in Hamburg. Der Hamburgische Datenschutzbeauftragte würde gerne schärfer kontrollieren, was da passiert – aber ihm fehlt das Personal.
“Wer bewacht die Wächter?” Dieses berühmte Zitat des altrömischen Satirikers Juvenal ist der Leitsatz des Digitalprojekts juvenal.org. Auf einem digitalen Stadtplan tragen die Initiatoren Überwachungskameras ein, die sie in Hamburg entdecken. Sie rufen auch alle Hamburger dazu auf, selbst neue Kameras zu fotografieren und zu melden. Mit dem Projekt wollen sie den Zuwachs von im öffentlichen Raum installierten Kameras dokumentieren.
Grund ist vor allem der G20-Gipfel, der im Juli in Hamburg stattfindet: “Die Polizeipräsenz und die Anzahl der Kameras werden in den betroffenen Vierteln ja schon seit ein paar Wochen hochgefahren”, sagt “Dodger” aka Michael Hirdes vom Chaos Computer Club Hamburg, einem der Initiatoren von juvenal.org. “Aus der Vergangenheit wissen wir, dass neu installierte Überwachungstechnik gerne ‘vergessen’ und nach dem Anlass nicht wieder zurückgebaut wird. Deshalb machen wir die Inventur jetzt selbst.”
Zu der Frage, ob zum G20-Gipfel zusätzliche Überwachungskameras aufgestellt werden, können laut Polizei Hamburg keine belastbaren Aussagen getroffen werden, da die Gesamtkonzeption noch nicht abgeschlossen sei. Die Polizei verweist stattdessen auf die Schriftliche Kleine Anfrage der Bürgerschaftsabgeordneten Christiane Schneider (Die Linke) vom 29. November 2016. Der Antwort des Senats zufolge könnten vorhandene Videoanlagen während des G20-Einsatzes jedoch “anlassbezogen” genutzt werden, insbesondere Verkehrsbeobachtungskameras und die Überwachungskameras der Messe Hamburg. Darüber hinaus sei eine Bildübertragung in den Führungsstab der Polizei Hamburg und in ausgewählte Befehlsstellen sowie eine anlassbezogene Aufzeichnung möglich. Eine Rund-um-die-Uhr-Aufzeichnung, Tonübertragungen und Übersichtsaufnahmen von Demonstrationen werde es aber nicht geben.
Videoüberwachung oft gegen die Regeln
Seit Projektstart am 29. April sind auf juvenal.org laut Michael Hirdes schon über 100 Kameras gemeldet worden. “Ein Großteil davon sind Kameras in und vor Ladenlokalen, die den öffentlichen Raum filmen.” Er geht davon aus, dass die Zahl der gemeldeten Kameras noch steigt, wenn das Wetter besser wird. Paragraf 30 des Hamburger Datenschutzgesetzes schreibt vor, dass eine Videoaufzeichnung durch “geeignete Maßnahmen” für die Betroffenen erkennbar zu machen ist. Das ist aus Hirdes Sicht nicht gegeben: “Die ‘offiziellen’ Kameras sind großteils gekennzeichnet, die privaten in der Innenstadt oder auf der Reeperbahn zu großen Teilen nicht.” Hier würden die Prioritäten falsch gesetzt: “Es werden Milliarden für Überwachung ausgegeben, aber die
Kontrollstelle wird nicht mit ausreichend Mitteln ausgestattet, um ihrem Auftrag gerecht zu werden”.
Auf die schwierige Lage in seiner Behörde weist der Hamburger Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar selbst seit Jahren hin. Im Rahmen einer Anhörung vor dem Ausschuss für Justiz und Datenschutz der Hamburger Bürgerschaft hatte er vor drei Jahren statt seinem jährlichen Tätigkeitsbericht eine Analyse seiner Ausstattungssituation vorgelegt. Die stellte er als so prekär dar, dass seine Behörde sowohl im öffentlichen Bereich, als auch im Bereich der Unternehmen quasi handlungsunfähig sei. In Hinblick auf die Videoüberwachung sagte Caspar FINK.HAMBURG: “Problematisch ist, dass wir mit unseren begrenzten Ressourcen nicht zu einer angemessenen Kontrolle der Videoüberwachung in der Lage sind. Dies führt zu einer Vielzahl rechtswidrig betriebener Überwachungskameras.”
In der Hamburger Innenstadt von keiner Kamera erfasst zu werden, ist kaum möglich
Der Hamburgische Datenschutzbeauftragte ist nicht nur die datenschutzrechtliche Aufsichtsbehörde für rund 160.000 in Hamburg ansässige Handelsunternehmen, sondern auch für alle allgemein- und berufsbildenden Schulen sowie die über 20 Hamburger Hochschulen. Daneben ist die Behörde auch für die Datenriesen Google und Facebook zuständig, die beide ihren Deutschlandsitz in Hamburg haben. Dafür stehen ihr aktuell 21 Stellen zur Verfügung. Im Ländervergleich der Personalausstattung liegt Hamburg damit auf einem der letzten Plätze.
Caspar hält es, unabhängig von der konkreten Aktion von juvenal.org, grundsätzlich für sinnvoll, “wenn das Bewusstsein für diese inzwischen allgegenwärtige Form der Überwachung geschärft wird”. Die Karte zeigt schon jetzt: Bei einem Spaziergang durch die Hamburger Innenstadt von keiner Kamera erfasst zu werden, ist kaum möglich. Wer nicht auf dem aufgezeichneten Bildmaterial zu sehen sein möchte, kann dem Datenschutzbeauftragten zufolge nur eins tun, “die entsprechende Bereiche meiden” – vorausgesetzt, der Hinweispflicht werde überhaupt genüge getan.
“Das grundsätzliche Problem ist der allgegenwärtige Überwachungsdruck”
Ob die installierten Kameras tatsächlich aktiv sind oder nicht, ist von Außen nicht unbedingt sichtbar. Das ist für Michael Hirdes aber auch nicht entscheidend. Ihm gehe es neben dem aktiven Datenschutz auch um den “chilling effect“: “Auch Attrappen oder deaktivierte Kameras erzeugen das Gefühl, beobachtet zu werden, und führen dazu, dass ich bewusst mein Verhalten ändere und beispielsweise nicht mehr auf Demos gehe.” Dadurch werde die Meinungsfreiheit und die Bereitschaft sich einzubringen unterdrückt.
Ähnlich sieht es auch Johannes Caspar: “Das grundsätzliche Problem mit der inzwischen nahezu allgegenwärtigen Videoüberwachung ist der ebenfalls allgegenwärtige Überwachungsdruck.” Der führe oft zu einer unerwünschten Verhaltensanpassung, die bis hin zum Verlust der freien Persönlichkeitsentfaltung führe.
Die Installation neuer Kameras wird oft damit begründet, so für mehr Sicherheit sorgen zu können. Ob das gelingt, ist allerdings unklar. Es gibt nur wenige Studien, die den Einfluss von Kameras auf die Kriminalitätsrate untersucht haben. Eine tat das am Beispiel der Berliner U-Bahn – mit dem Ergebnis, dass die Überwachung nichts verändert. Eine Weitere beschäftigte sich mit Kameras in London, einer der weltweit am intensivsten überwachten Städte. Auch hier sinkt die Verbrechensrate nicht.
Michael Hirdes spricht in diesem Zusammenhang von “gefühlter Sicherheit”: “Bei den Terroranschlägen und Amokläufen der letzten Jahre hat die Überwachung dazu geführt, dass man hinterher Bilder der erfolgreichen Selbstmordattentäter hatte.” Das helfe aber weder den Opfern, noch ihren Hinterbliebenen.
Das Innenministerium, die Deutsche Bahn, die Bundespolizei und das Bundeskriminalamt wollen noch in diesem Herbst an einem Berliner Bahnhof ein Videoüberwachungssystem testen, das mit Hilfe einer Software automatisch Gesichter und Gefahrensituationen erkennen soll. Derartige Planungen sind laut Caspar für Hamburg nicht bekannt: “Wir halten dies im Echtbetrieb für einen fundamentalen Eingriff, für den eine spezielle Rechtsgrundlage erforderlich wäre. Mit der bestehenden Rechtsgrundlage zur polizeilichen Videoüberwachung wäre dies nach unserer Auffassung unzulässig.”