Früher galt Kaviar in Russland als günstiges und minderwertiges Lebensmittel. Heute fahren Luxusschlitten als Kaviar-Notdienst durch Hamburg. Eine Geschichte über ein skurriles Geschäftsmodell.

„Als Kind hing mir Kaviar zum Hals raus“, sagt er. Jetzt fährt Sergey Andreev Kaviar in teuren Luxuswagen aus. Der Motor seines feuerroten Bentleys heult laut auf. Mit offenen Fenstern steht der Wagen an einer roten Ampel auf der Hamburger Reeperbahn. „Normalerweise halte ich mich an die Verkehrsregeln“, sagt der 44 Jahre alte Unternehmer verlegen. „Caviar-Notdienst“ prangt in großen, schwarzen Druckbuchstaben auf dem Heck des 760 PS starken Wagens. „Früher hatte ich noch eine Kaviardose auf dem Auto montiert“, erklärt der Moskauer. „Die Leute auf der Straße dachten ständig, ich hätte etwas auf dem Dach vergessen.“

Ebenso einmalig wie das Fahrzeug ist die Geschäftsidee seines Unternehmens. Er liefert in Hamburg Kaviar auf Bestellung aus. Rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche.

Das ist Sergey

Es ist Freitagnachmittag und der erste warme Tag des Jahres. Sergey sitzt in einem schweren Ledersessel in der „Winebank“, einem Club direkt am Hamburger Stephansplatz. Der muskulöse Oberkörper passt kaum in den orangefarbenen Kaschmirpullover. Dazu trägt Sergey eine beige Bundfaltenhose mit Hahnentrittmuster. Er hat einen Kurzhaarschnitt, darunter blicken freundliche Augen hervor.

Bei gedimmtem Licht und mit einem Zigarillo im Mundwinkel erzählt der gebürtige Moskauer von seinem Unternehmen und sich selbst. 1994 war er zum ersten Mal in Deutschland. Das war damals noch etwas Besonderes. In diesem Jahr ermöglichte es der russische Staat seinen Bürgern erstmals, ohne Angabe von Gründen in den Westen zu reisen.

Zu Sergeys Schulzeit, in der er Deutsch gelernt hatte, war die Sprache in Russland noch verpönt: Deutsch lernen zu müssen galt als Strafe. „Eigentlich war das der Stempel, dass aus mir nichts werden könne.“

Die Liebe zum Westen

Später wurde der fleißige Schüler Klassenbester im Fach Deutsch, studierte im Anschluss Literatur und Germanistik in Moskau. Dann verliebte er sich – und zwar in Berlin.
Auch deshalb entschied Sergey sich, seinen Lebensmittelpunkt nach Deutschland zu verlegen. Zunächst zog er nach Lübeck, vor vier Jahren dann nach Hamburg. Lange pendelte er noch zwischen Lübeck und Moskau, war Luxusuhrenhändler für ein Schweizer Unternehmen.

Protz und Prunk

Die dabei geknüpften Kontakte halfen ihm später in der Selbstständigkeit. 2014 verkaufte er seine Anteile an verschiedenen Unternehmen. Die Idee für sein aktuelles Geschäft entstand bei einem abendlichen Barbesuch mit Bekannten in der Schweiz. „Dort gab es ausschließlich Kaviar, Champagner und Wodka – und wir hatten einen der besten Abende zusammen.“ Diesen Luxus wollte er den Menschen in Deutschland auch ermöglichen. Seine Idee von einer Kaviar-Bar war geboren.

Caviar-Bar
Die Kaviar-Bar: Dort serviert Sergey regelmäßig Kaviar, Champagner und Wodka. Foto: Lisa Kretz

Die Grundausstattung sollte ein altes Segelboot sein. Früher hatte Sergey eine ganze Weile bei einem Kunsthändler ausgeholfen. Dort entdeckte er seine Leidenschaft für das Restaurieren von Antiquitäten aus Holz. Im Internet stieß er auf ein Segelboot, Baujahr 1957, von einem Sammler in Bielefeld. Dieser ist mittlerweile ein guter Freund und sein Anwalt.

Seit zehn Jahren schon macht der Russe mit seiner Familie im französischen Luxusort St. Tropez Urlaub. „Andere protzen hier mit ihren Yachten, wieso sollte ich nicht daneben mit einer Bar und Kaviar auch protzen können.“
Innerhalb eines Jahres bereitete Sergey in liebevoller Kleinarbeit das Boot auf und rüstete es zu einer Bar um. Um die Wartezeit bis zur Fertigstellung zu überbrücken, lieferte er Kaviar, Champagner, Zigarren und Wodka mit seinen teuren Sportwagen aus. Aus der Übergangslösung wurde sein heutiges Geschäftsmodell.

Vom Teenie bis zum Glööckler

An seine ersten Abnehmer erinnert Sergey sich noch ganz genau: „Meine Website war gerade seit zwei Tagen online, da riefen zwei junge Männer an und wollten eine Dose Kaviar bestellen.“ Die beiden seien ganz normale Jungs gewesen, die spontan Lust auf etwas Besonderes gehabt hatten und im Internet auf den Notdienst gestoßen seien.

Seither ist die Zielgruppe des Notdienstes bunt gemischt. Von Neugierigen über Freunde und Bekannte bis hin zu Gastronomen, die exklusive Wünsche erfüllen müssen, sei alles dabei. Selbst der schrille Modedesigner Harald Glööckler zählte schon zu seinen Kunden.

„Der Stör ist weit mehr als nur ein Fisch, für mich ist er ein magisches Wesen, das die Dinosaurier kommen und gehen sehen hat. Ein bewundernswerter Überlebenskünstler mit Charakter.“ Sergey Andreev

„Christian ist eins mit dem Stör“

Sergey parkt seinen Bentley vor der Tür des Hamburger Traditionsunternehmens Dieckmann & Hansen an der Großen Elbstraße in Altona. Bei dem Aufbereitungsbetrieb für Störrogen bezieht der Moskauer sein schwarzes Gold – den Kaviar.

Sergey begrüßt Christian Zuther-Grauerholz, Geschäftsführer des Fischhändlers, herzlich.  Christians Leidenschaft für Stör und Kaviar ist bei einem Blick in die Räumlichkeiten nicht zu übersehen. Über zwei Stockwerke verteilen sich Bilder und Modelle verschiedener Störarten, Kaviardosen und Fachbücher. Selbst auf dem Zifferblatt der Wanduhr prangt ein Bild des Knochenfischs.

Nach einem ausgedehnten Gespräch bei Kaffee und Zigaretten geht es in die Produktion. Einwegkittel, Haarhaube und ausgiebiges Händewaschen sind vor dem Betreten der Produktionshallen Pflicht. „Zunächst wird der Rogen fein säuberlich durch Sieben getrennt“, erklärt Zuther-Grauerholz und baut zur Veranschaulichung ein grobmaschiges Sieb auf. Anschließend werde dieser für den Geschmack und eine verlängerte Haltbarkeit in Salz und Borax – ein natürliches Mineral – eingelegt. Dieser Prozess veredelt somit den Rogen zum Kaviar. „Bildet sich beim Öffnen der Dose eine glattgeformte Oberfläche, ist alles perfekt gelaufen.“

„Das schmeckt wie Brackwasser“

Kaviar aus der Dose
Abb. v.l.: Beluga, Russischer Stör, Sibirischer Stör. Foto: Lisa Kretz

Auf die Theorie folgt abschließend der Praxistest: Eine Kostprobe der drei Kaviarsorten, die Sergey mit seinem Mobil ausliefert. Anders als erwartet, platzen die Fischeier der ersten Sorte nicht im Mund. Stattdessen verschmelzen die „Beluga“-Eier zu einer breiartigen Masse, die geschmacklich an abgestandenes Meerwasser erinnert. Keine Sorte gleicht der anderen.
Die nächste Sorte: „Osietra“ oder „Russischer Stör“. Die Konsistenz ist deutlich fester, der Geschmack salzig und nur leicht fischig. „Hier kann man einen deutlichen Unterschied schmecken“, sagt Sergey. Das liege am Reifegrad der Störeier. Je nach Alter und Pflege der Fische seien Farbe, Geschmack und Konsistenz einmalig.
„Kaviar bedarf nicht viel Schnickschnack”, sagt Zuther-Grauerholz. “Eine einfache Scheibe gutes Baguette, ein bisschen Butter – und den Kaviar darauf häufen. Et voilà, mehr braucht es nicht.“

Ein Notfall

Der Weg aus der Produktion führt an überlebensgroßen Fotografien von Stören vorbei. Für die Aufnahmen hat die Fotografin den ganzen Tag bei den Fischen im eiskalten Wasser gelegen, sagt Zuther-Grauerholz stolz und verabschiedet sich somit. Sergey, der Gentleman, kommt noch mit vor die Tür. Da klingelt auch schon sein Handy. „Ich muss los, die Kundschaft ruft. In einer halben Stunde muss die Ware ausgeliefert sein.“ Sergey eilt zum roten Bentley und rast davon.