Antje Müller und Susanne Buse musizieren mit Demenz-Patienten. Durch das Singen erinnern sich die meist älteren Erkrankten besser an die Vergangenheit. Ein Besuch mit den Musikpatinnen in der Wohn-Pflegegemeinschaft Parkquartier.
“Alle Vögel sind schon da”, tönt es schwungvoll aus dem Mund einer älteren Dame. Sie lebt in der Wohn-Pflege-Gemeinschaft Parkquartier in Hohenfelde. Das Besondere dieser Einrichtung: Alle Bewohner sind in unterschiedlichen Stadien an Demenz erkrankt. “Frau T. gibt heute den Ton an”, sagt Antje Müller und schmunzelt.
Nacheinander steigen auch die anderen Bewohner in das Frühlingslied ein – unterschiedlich laut, mal schräg, mal hoch, mal tief. Dennoch vermischen sich die Stimmen zu einem schönen Gesamtklang. Zwei Bewohnerinnen sind besonders textsicher, sie singen von der ersten bis zur letzten Strophe mit. Andere summen nur leise vor sich hin, während wieder andere mitklatschen oder die Arme zur Melodie bewegen. Die Musik verbindet gerade Menschen in diesem Raum, die den Kontakt zu ihrer Umgebung durch ihre Krankheit immer mehr verlieren.
Susanne Buse und Antje Müller sind Musikpatinnen. In ihrer Freizeit musizieren sie mit Demenz-Patienten. Bei jedem Besuch schütteln sie zuerst allen Bewohnern die Hand und blicken ihnen tief in die Augen. Sie können sich nicht sicher sein, wiedererkannt werden. Der wöchentliche Kurs findet im Aufenthaltsraum statt. Zwei türkisfarbene Sofas und antike Sessel sind im Kreis angeordnet. Eine Pflegerin und eine Angehörige sind ebenfalls vor Ort. Los geht es mit den ersten Liedern über den Frühling.
“Für Demenz-Patienten bedeuten die musiktherapeutischen Sitzungen eine Stunde des Wohlbefindens, da Musik emotional anregt”, sagt Dr. Christiane Neuhaus, Privatdozentin für Systematische Musikwissenschaft an der Uni Hamburg. Und nicht nur das: Sich an Texte und Melodien zu erinnern, ist eine schöne Erfahrung. Musik aktiviert Verbindungen in Bereichen des Gehirns, die von der Erkrankung nicht betroffen sind. “In einer Art Vorratskammer sind vertraute Melodien oder Texte aus früheren Jahrzehnten abgespeichert. Diese werden während des Musizierens abgerufen”, so Christiane Neuhaus.
“Es gibt drei verschiedene Phasen von Demenz”, so die Wissenschaftlerin. “Zuerst macht sich eine gewisse Vergesslichkeit im Alltag bemerkbar. In einer zweiten Phase verlieren die Personen die Orientierung.” Dann seien Patienten bereits auf Hilfe von außen angewiesen. Später würden selbst Familienangehörige nicht mehr erkannt. Doch selbst dann singen viele Patienten die Volkslieder noch engagiert mit.
Demenz: Schlager für die gute Laune
Der Ablauf ihrer Besuche ist für die Musikpatinnen kaum planbar. Sie reagieren auf die Tagesform der Bewohner. Diverse Liederhefte liegen bereit. “Der eine mag lieber Schlager, der andere kann damit aber überhaupt nichts anfangen. Deshalb sind wir auf mehrere Szenarios eingestellt”, sagt Susanne Buse.
Antje Müller und Susanne Buse haben ihre Ausbildung bei der Homann-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Hamburgischen Brücke und dem Klang-Centrum absolviert. Die Teilnehmer können in vier Monaten ihre musikalischen Kenntnisse erweitern: Lieder lernen, Instrumente von der Triangel bis zum Didgeridoo ausprobieren, rhythmische Übungen machen. Einen professionellen Hintergrund muss aber niemand haben. In einer zweiten Phase setzen sich angehenden Musikpaten mit dem Krankheitsbild der Demenz auseinander. „Die Vorbereitung in diesen Kursen ist auch deshalb so gut, weil Situationen, wie sie in Pflegeeinrichtungen vorkommen können, nachgestellt werden“, sagt Susanne Buse.
Emotionen spielen eine große Rolle
“Die Reaktion der Bewohner zu sehen, ist toll. Vor allem, wenn sie sich freuen”, sagt Susanne Buse. Trotzdem gibt es auch traurige Momente, beispielsweise, wenn Patienten verstorben sind. „Es geht mir nah, weil uns die Teilnehmer ans Herz wachsen. Man lernt aber, damit umzugehen“, so Antje Müller. In der Gruppe verarbeiten sie den Todesfall meistens, indem sie gemeinsam eines der Lieblingslieder des Verstorbenen singen. Für alle Beteiligten ist das eine gute Möglichkeit, sich zu verabschieden – ob bewusst oder unbewusst.
Die Gruppe in der Wohn-Pflege-Gemeinschaft Parkquartier hat gerade ein weiteres Lied gesungen und Susanne Buse riskiert es, zu einem Schlager zu wechseln. Vielleicht ist es Zeit zu Tanzen, schließlich haben einige Bewohner schon gut gelaunt mit den Füßen zur Musik gewippt. Schon stehen die ersten Tanzpaare in der Mitte des Raumes und bewegen sich zum Schlagerwalzer „Tulpen aus Amsterdam“. Auch die Musikpatinnen sind dabei.
Professionelle Musikerinnen sind die beiden nicht. Susanne Buse hat vorher in einem Chor gesungen und spielt Gitarre. Antje Müller spielt Klavier und Gitarre, hat aber auch schon Geige und Flöte ausprobiert. Die musikalischen Kenntnisse helfen ihnen, den Kurs abwechslungsreich zu gestalten. Die gute Stimmung tut den Patienten gut: “Sich wohl zu fühlen und sich an vertraute Sachen zu erinnern, zu singen und zu tanzen, motiviert einen Demenz-Patienten”, sagt PD Dr. Christiane Neuhaus. Die Musik habe aber keine heilende Wirkung. Die gute Stimmung könne am nächsten Tag wieder kippen.
Ritual zur Verabschiedung
Fast ist die Stunde vorbei und das Schlussritual steht an. Die Musikpatinnen gestalten es immer auf dieselbe Art und Weise. Zum Abschiedslied bilden alle Anwesenden einen Kreis und halten sich gegenseitig an den Händen. Das gemeinsame Musizieren hat positive Spuren hinterlassen: Die Bewohner wirken weniger abwesend, eine Art Gemeinschaftsgefühl ist entstanden. Die Musikpatinnen verlassen den Raum, begleitet vom Summen von Frau T. Das gute Gefühl bleibt im Raum – zumindest für einen Augenblick.