Tanzen auf Abstand: Besonders schwer hat es die Veranstaltungsbranche in der Corona-Pandemie getroffen. Wie man sich durchs Jahr schlug, erzählen Johannes Everke vom Reeperbahn Festival und die Pianistin Utako Washio.
Ein Text von Ha An Nguyen und Mats Bente
Beitragsbild: www.mediaserver.hamburg.de / K. Beck
Laute Musik dröhnt aus den Boxen. Die Künstler*innen schwitzen im Scheinwerferlicht. Vor der Bühne tanzen Hunderte Leute, grölen den Refrain mit. Das sind Szenen, die vor nicht allzu langer Zeit noch ganz normal waren und jeden Tag in einer Großstadt wie Hamburg abliefen. Doch hat sich seit März 2020 mit der Ausbreitung der Corona-Pandemie vieles verändert. Besonders mit den strengen Hygieneauflagen zu kämpfen hat die Musikindustrie: Künstler*innen konnten nicht vor Publikum spielen und Veranstalter*innen nicht ihrem Kerngeschäft nachgehen. Das Ergebnis war kulturelle Flaute im System – oder?
50.000 Menschen beim Reeperbahn Festival: undenkbar
Johannes Everke arbeitet bei der Hamburg Marketing und steht Großveranstaltungen, wie dem Reeperbahn Festival, als strategischer Partner zur Seite. Auch für ihn war das Jahr 2020 turbulent. Die Einschränkungen hatten massive Verluste zur Folge: „Es war einfach kein Geschäft da“, konstatiert er. Seit 15 Jahren arbeitet Everke im Unternehmen. “Von Beginn an eigentlich“, sagt er und lacht. Die städtische Tochtergesellschaft kümmere sich um übergreifende strategische Themen, Medienarbeit und eben Kooperation-Marketing. Zu den großen Erfolgen zählt das Reeperbahn Festival: Im Jahre 2019 besuchten 50.000 Zuschauer*innen das mehrtägige Event. Ein Jahr später war an solche Zahlen nicht mehr zu denken. Das Corona-Virus ist daran schuld.
Dieser Text ist im Rahmen des Bachelor-Projektseminars “Digitale Kommunikation” an der HAW Hamburg entstanden.
Andernorts ist die Lage nicht besser: Utako Washio ist Pianistin am Theater Lübeck. Auch sie ist von den harten Schutzmaßnahmen betroffen. Vor dem Lockdown postete sie ein Video auf Instagram, dort kann man neben dem Flügel eine Flasche mit Desinfektionsmittel erkennen. Vor und nach dem Spielen musste Utako immer die Tasten desinfizieren. Seit dem Lockdown kann sie nur noch zu Hause am E-Piano üben. „Es ist sehr wichtig, dass man als Musiker am Ball bleibt und weiter übt“, erzählt sie mit ernster Miene. In ihrem Job als Korrepetitorin ersetzt sie in den Proben mit den Sängern das Orchester und spielt die Begleitung. Aktuell ist die Probephase gestoppt und so vermisst sie das gemeinsame Musizieren.
Und trotzdem: Der Betrieb steht nicht still
Trotz solcher Berichte stand die Musikbranche 2020 nicht still. Lieder wurden geschrieben, Alben aufgenommen und sogar Festivals konnten unter strengen Hygienevorschriften stattfinden – auch das Reeperbahn Festival. Für das Hygienekonzept bekamen die Organisator*innen Hilfe. „Von einem Juristen, zwei Klubbetreibern und einem Arzt“, so Johannes Everke. Das Komitee entwarf für jeden der beteiligten Klubs ein Konzept. „Auf dieser Basis wurde die Veranstaltung dann freigegeben.“
Es gab Vorschriften für die Maximalkapazität an Besuchern und den Alkoholausschank. Alle Indoor-Konzerte mussten im Sitzen stattfinden. Draußen waren auf dem Boden Felder markiert, „wo die Leute stehen durften, damit die Abstände eingehalten werden“, sagt Everke. Außerdem durfte es an Ein- und Ausgängen zu keinen großen Ansammlungen kommen. Mehr Leute mussten angestellt werden, um diese Regeln zu überprüfen. Es sei sehr viel teurer ein solches Festival zu organisieren. Gleichzeitig kämen viel weniger Leute und das bedeutet weniger Einnahmen durch Tickets. „Hardcore“, sagt Everke und unterstreicht damit die Strapazen.
Die neue Normalität: Abstand auf der Bühne
Auch Pianistin Utako kennt sich mittlerweile mit Hygienekonzepten bestens aus: In ihrer rechten Hand hält sie ein imaginäres Mikrofon und zeigt mit ihrem Finger in den Raum. „Wenn jemand in diese Richtung singt, dann darf der nächste Mensch erst sechs Meter weiter stehen“. Dieser Sicherheitsabstand wurde zwar später auf vier Meter verkürzt, aber die 33-Jährige findet es trotzdem schwierig beim Chorsingen Abstand zu halten. Man höre die Nachbarn ungenügend und könne die anderen nicht gut spüren. Sie erinnert sich noch an die Markierungskästchen in Zwei-Meter-Abständen auf der Bühne und die ungewöhnlich kleine Besetzung des Chores bei einem Auftritt.
Ungewöhnlich verliefen auch die Vorbereitungen des Reeperbahn Festivals. Es ist elementar für ein großes Festival, dass ein Rädchen ins andere greift, erklärt Johannes Everke. Das habe plötzlich nicht mehr funktioniert. Tontechnikern und Belichtern etwa fehlte die Routine, sie konnten während des Lockdowns nicht arbeiten. Bei Handgriffen, die sonst wie im Schlaf getätigt wurden, hakte es auf einmal. „Das verunsichert dich tierisch“, sagt Everke. „Und plötzlich gerät eine Produktion in Schieflage.“
Wohnzimmerkonzerte – nur anders
Ein weiteres Problem: Teile des Festivals wurden ausschließlich gestreamt, also digital übertragen. Daher musste eine technische Plattform her, die das Erlebnis ins Wohnzimmer transportieren konnte. Die Erleichterung war groß, als das Festival glatt über die Bühne ging – und das mit 8.000 Besuchern vor Ort.
Im Theater Lübeck setzte man auch auf digitale Vorstellungen. Trotz aller Mühen, für die Zuschauer*innen eine gute Onlineproduktion zu gestalten, ist Utako mit den Ergebnissen nicht ganz zufrieden. Es gehe das räumliche Hörerlebnis verloren. Wenn man im Konzert sei, könne man sich auf die Geräusche links oder rechts konzentrieren oder auf die Melodie, die von den Bläsern gespielt werde.
Onlinekonzerte von anderen Anbietern hat sie auch geschaut, doch vor dem Bildschirm klassische Musik richtig zu genießen, fällt ihr immer noch schwer: „Irgendwie hat man nicht diesen Kontakt zu den Menschen auf der Bühne“, sagt sie.
Die ungewisse Zukunft der Musikbranche
Zurzeit nimmt Utako, wie viele andere Musiker, an der Bewegung #OhneKunstWirdsStill teil: Sie streamen nicht und stellen nichts online, um die Gesellschaft auf ihre prekäre Situation aufmerksam zu machen. Doch mit Ende des Lockdowns soll es wieder laut werden, auch am Theater Lübeck.
Bei der Frage nach der Zukunft verdunkelt sich die Miene von Johannes Everke. „Das ist wirklich nicht einfach zu beantworten. Wir sind uns alle einig, dass wir noch eine ganze Weile mit dem Thema zu tun haben werden – mehr oder weniger.“ Zwar könne mit dem Impfstoff einiges erreicht werden, doch wird es kein leichter Start werden. „Das große Räderwerk, des weltweiten Konzertgeschäfts, muss langsam wieder in Gang kommen: Die Tourneen müssen aufeinander abgestimmt werden, die Festival-Bookings ebenso“, sagt er.
„Da werden Dinge bleiben“, so Everke. Die Frage ist nur was. Der Prozess, so glauben Experten, könne bis zu zwei Jahren dauern. „Erst dann wird die Branche wieder leistungsfähig sein.“ Everke erwartet auch langfristige Veränderungen. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass es jetzt neue Regelungen für Hygiene geben wird, die auch in Zukunft noch eine Rolle spielen. Was das sein wird, wissen wir noch nicht“, sagt er. Aber eines ist sicher: „Da werden Dinge bleiben.“