Seit vergangenem Sonntag hat der Fischmarkt wieder geöffnet. Nach 15 Monaten pandemiebedingter Pause ist jedoch vieles nicht mehr so, wie es vorher war: Statt lockerem Handel und lautem Marktschreien gibt es strenge Vorschriften und Maskenpflicht.
Sonntag, 4:26 Uhr, St. Pauli. In wenigen Minuten wird die Morgendämmerung vom Tageslicht abgelöst. Viele, die in Hamburgs bekanntestem Viertel in diesem Moment wach sind, bewegen sich am Elbkai der Landungsbrücken in Richtung Große Elbstraße. Gang und Sprache verraten den Unterschied zwischen jenen, die auf der Reeperbahn die Nacht zum Tag gemacht haben und solchen, die ihren Wecker heute freiwillig gestellt haben. Die Menschen sind verschieden – ihr Ziel eint sie jedoch: der Hamburger Fischmarkt. Das erste Mal seit März 2020 darf das Hamburger Wahrzeichen heute wieder öffnen.
Wie ein skurriles, aber gut komponiertes Intro bereitet der Weg am Elbkai auf die Melodie des Marktes vor. Ein Mann führt ein euphorisches Zwiegespräch mit einer Möwe, ein Pärchen blickt eng umschlungen und verträumt auf die ersten Sonnenstrahlen, die sich im tiefschwarzen Elbwasser brechen. Daneben steht eine Gruppe Jugendlicher, die mit müden Augen die letzten Schlucke ihrer selbstgemachten Mischgetränke trinken.
Kurz vor fünf am Fischmarkt
Um kurz vor fünf liegt der Fischmarkt noch in den langen, breiten Schatten der Häuser der Hafenstraße. Und auch sonst sieht vieles ein bisschen grauer aus, als man es aus der Prä-Corona-Zeit gewohnt war. Und geordneter. Wo sich normalerweise etliche Verkaufsbuden an Anhänger und mobile Obststände drängen, befindet sich heute eine breite Fußgängerzone. 250 Meter lang und 30 Meter breit erstreckt sie sich vom Beachklub “StrandPauli” in Richtung Westen. Gesäumt wird sie von zwei Händlerreihen.
Insgesamt 60 Aussteller:innen dürfen ihre Waren anbieten – deutlich weniger als noch vor 15 Monaten, wo es weit über 100 waren. Außerdem muss auf die “Eventanteile” des Marktes verzichtet werden. Bedeutet: keine Livemusik und keine Rufe der Marktschreier:innen – zwei Dinge, die auf dem Fischmarkt eigentlich unverzichtbar sind.
Schokolade ist nicht systemrelevant
Schniefend und gähnend öffnen die ersten Verkäufer:innen um fünf Uhr ihre Stände. Nicht jeder ist die frühe Aufstehzeit offenbar noch gewohnt. Von einer Restart-Euphorie scheinen alle weit entfernt – zumindest wirkt es in diesen frühen Stunden so. Trotzdem liegt ein sanftes Murmeln in der Luft, dem man bei genauem Hinhören einen verhaltenen Optimismus entnehmen kann.
„Guck dir das an“, sagt Cüneyt Cetin (30) und zieht dabei den Ärmel seines hellblauen Kapuzenpullovers mit der pinken Aufschrift „Schoko Jonny“ hoch. “Gänsehaut! Den ganzen Morgen geht das schon so.” Seit seinem zwölften Lebensjahr verkauft er den Fischmarkt-Kunden alles, was süß und braun ist. Nach eigenen Angaben ist er normalerweise „einer der Lautesten“ auf dem Markt. „Die Zeit ohne Fischmarkt war hart. Da Schokolade nicht systemrelevant ist, durfte ich auch nicht auf anderen Märkten stehen – zum Glück habe ich noch ein zweites Standbein“, erinnert er sich an die letzten 15 Monate. Heute freue er sich besonders darauf, den Kund:innen mit seinen Sprüchen wieder ein Lächeln zu schenken – der Umsatz ist da erst mal Nebensache. „Hauptsache wir sind wieder hier und das sonntägliche Leben in Hamburg hat endlich wieder einen Sinn.“
Lockdown für den Fischmarkt: “That was hardcore”
Ein paar Meter weiter sammeln sich die ersten Besucher um einen silbernen, mit hunderten Aufklebern übersäten Anhänger. Unter dem Motto “One Love One Coffee” verkauft Jessy Greaves, der auf Barbados geboren wurde, hier verschiedenste Variationen von frisch Gebrühtem. Er steht seit 16 Jahren auf dem Fischmarkt. Neben seinem vielfältigen Kaffee-Angebot unterhält er die Kund:innen eigentlich mit spontanen Tanzeinlagen und karibischen Klängen aus seiner Boombox. Dass diese heute ausbleiben muss, stört den großgewachsenen Mann mit Hut und Rastazöpfen nicht: Er tanzt trotzdem während er den ersten Espresso des Tages zubereitet.
Als er sich an die Lockdown-Zeit erinnert, hält er jedoch kurz inne. „That was hardcore. Weniger Arbeit – mehr Rechnungen, wirklich nicht schön.“ Das Zischen der Kaffeemaschine lässt die Erinnerung jedoch schnell verblassen. „Mein Motto ist: Genieße das Leben und habe Spaß“, sagt er, bevor er sich mit einer Pirouette wieder seiner Maschine zuwendet.
Seit 45 Minuten hat der Fischmarkt mittlerweile geöffnet. Die tief stehende Morgensonne taucht das gesamte Areal in ein grelles Morgenlicht. Auch wenn die anfängliche Müdigkeit bei den Händler:innen mittlerweile überwunden ist, liegt die Melancholie, die viele der Menschen in den letzten Monaten begleitete, wie ein trüber Nebel über den Verkaufsständen. Obwohl endlich wieder ein Markt veranstaltet wird, scheint das Ganze doch zu weit weg von dem zu sein, was sie im März 2020 zurückließen.
Team Vorsicht vs. Team Lebensfreude
Stefanie von Berg (56) ist heute das erste Mal auf dem Fischmarkt. Seit 2019 leitet die gebürtige Göttingerin das Bezirksamt Altona, verantwortet die Öffnung unter Auflagen also zum Teil mit. Auch wenn sie selbst noch nie vor Ort war, weiß sie, dass der heutige Markt nicht mit dem eigentlichen Flair des Wahrzeichens mithalten kann. „Jeder, der hier ist, hat aber zum Glück viel Verständnis für ‚Team Vorsicht‘“, sagt die Grünen-Politikerin.
Eine genaue Prognose, wie es für den Fischmarkt weitergeht, kann sie noch nicht geben. Zu sehr sei die Zukunft von nicht planbaren Faktoren wie der Verbreitung der Delta-Variante oder der Durchimpfung der Bevölkerung abhängig. Voraussetzung dafür, dass der Betrieb in der aktuellen Form weiterlaufen kann, sei erst einmal das Einhalten der Regeln. Neben Mitarbeiter:innen des Bezirksamtes sollen auch Händler:innen darauf achten, dass es keine Verstöße gibt – eine Forderung, die umgesetzt wird.
Um kurz nach sechs wird es plötzlich laut. Eine Gruppe von fünf südamerikanischen Student:innen stürmt tanzend mit einer mobilen Musikbox auf den Markt. Der spanische Nummer-Eins-Hit „Despacito“ dröhnt aus ihrem Lautsprecher, was auf Deutsch so viel wie „Immer langsam“ oder „Sachte, sachte“ bedeutet. Während die überschäumende südamerikanische Lebensfreude dem Motto des Songs nicht ganz gerecht wird, sieht es beim Besitzer eines Obststandes, vor dem sich Berge an Kirschen, Mangos und Bananen türmen, ganz anders aus. „Macht den Quatsch aus, sonst gibt’s Stress“, raunzt er der Gruppe zu, als sie seine Auslage beschallen. Und tatsächlich: Als sich am Horizont die grellen Reflektoren auf den Jacken der Bezirksamtsmitarbeiter:innen abzeichnen, wird es schnell wieder still.
Der Fischmarkt zwischen Tradition und Wandel
Bei Reinhold Peters’ (81) erstem Besuch auf dem Fischmarkt spielte dort noch eine ganz andere Musik. 1948 war das – da war er gerade neun Jahre alt. Fast jeden Sonntag fuhr der Wilhelmsburger in seiner Kindheit mit dem Fahrrad die 13 Kilometer Richtung alter Elbtunnel, um für seine Familie einzukaufen.
„Früher war der Markt für die Leute mit kleinem Geld. Es wurden die Produkte verkauft, die vom Samstag überblieben“, sagt er. Sieben Pfund Heringe hätten ihn damals nur eine Mark gekostet. Auch später sei er immer wieder zum Fischmarkt gekommen. „In den 90er Jahren habe ich jeden Sonntag auf dem Kopfsteinpflaster vor der Fischauktionshalle getanzt – das war mein Sport. Ab fünf Uhr gab es Live-Kapellen“, erzählt der Rentner und deutet wehmütig auf die 125 Jahre alte Halle, die eigentlich das Herzstück des Marktes ist, heute jedoch geschlossen bleibt. Mittlerweile wollen seine Beine allerdings nicht mehr so wie er – das bunte Treiben beobachtet er deshalb aus dem mit braunem Fell ausgelegten Sitz seines Liegerads.
Dem modernen Fischmarkt kann der, wie er sich selbst nennt, „Mann aus der Vergangenheit“ nicht mehr viel abgewinnen. „Die Buden haben sich verändert. Früher konntest du ein Schwein, ein Schaf und Heringe kaufen – und eigentlich alles, was der Mensch so braucht.“ Heute gibt es nur noch Dinge, die man nicht braucht, meint Peters, während er seine blaue Fischermütze richtet. Dabei deutet er in die Richtung eines Standes, der neonfarbene Souvenir-T-Shirts anbietet. Geld lässt er hier nicht mehr, seinen Kaffee habe er umsonst bekommen. In den letzten Jahren sind Peters’ Fischmarktbesuche seltener geworden. Seit 2005 lebt er in der Künstlerkolonie Worpswede bei Bremen. Für ihn ist jeder Mensch ein Künstler – oder zumindest Überlebenskünstler. Und davon gibt es auf den Fischmarkt viele.
Der Fischmarkt wird wieder
Zwei Stunden läuft das Geschäft an der Elbe nun schon. Der Gästeandrang ist überschaubar – die Stimmen gedämpft. Noch immer wirkt das sonst so eingeübte Zusammenspiel von Händler:innen und Kund:innen wie ein zaghaftes Abtasten. Bis aus dem Fischmarkt wieder der multikulturelle Schmelztiegel wird, an dem sich Tourist, Nachtschwärmer, Familien, Kiez-Größen und Überlebenskünstler die Hände reichen, wird wohl noch Zeit vergehen.
Das weiß auch “Schoko Jonny”. Zwar stapeln sich vor seinem Verkaufsstand mittlerweile mehrere leere Schokoladenkartons, so viel wie vor der Pandemie hat er jedoch bei weitem nicht verkauft. Optimistisch bleibt er trotzdem: „Einfach hier stehen und die anderen Händler mal wieder zu sehen – damit bin ich schon zufrieden.“