Thoya ist fast blind und spielt Fußball. Fürs Tore schießen, braucht sie einen Guide, der ihr akustisch Anweisungen gibt. Ohne diese Ehrenamtlichen wäre Blindenfußball nicht denkbar. Fynn Hornberg hat einige von ihnen begleitet.
Text und Fotos: Fynn Hornberg
Ein Rasseln ist zu hören, dann schreit jemand hinterm Tor: „Fünf, vier, schieß!“ Der Torhüter streckt sich, kommt aber nicht mehr an den Ball. Wieder rasselt es. Der Ball ist im Tor. Thoya grinst und ist schon wieder auf dem Weg zur Mittellinie. Wo genau sie den Ball im Tor untergebracht hat, kann sie nicht sehen. Thoya ist fast blind, sie hat nur zehn Prozent ihrer Sehfähigkeit. Ihr Guide Miriam, die Stimme hinterm Tor, ruft ihr zu „Drin, links oben!“ Ein Schuss wie ein Strahl – so hart schlug der Ball oben im Winkel ein.
Ohne die Hilfe von Miriam könnte Thoya keinen Fußball spielen. Neben Miriam gibt es viele andere Guides, die ehrenamtlich im Blindenfußballteam vom FC St. Pauli arbeiten und den Fußballer*innen helfen. Sie geben den Spieler*innen Anweisungen, damit sie sich orientieren können – oder sie helfen Übungen auf- und abzubauen. Und natürlich sind sie auch da, um mal kurz zu schnacken. Ein Guide ist je nach Übung mal nur für ein*e Spieler*in zuständig oder in der Spielsituation für die ganze Mannschaft. Sie alle sind ein Team und haben ein Ziel: Gewinnen, Spaß haben und einfach nur kicken. Trotzdem steht beim FC St. Pauli auch die Leistung im Vordergrund.
In der Freizeit ehrenamtlich helfen
Seit 2006 gibt es Blindenfußball beim FC St. Pauli. Seit letztem Jahr gibt es eine Frauenmannschaft, die direkt das erste Mastersturnier in Hamburg gewonnen hat. Die Herrenmannschaft spielt in der Blindenfußball-Bundesliga und war bereits drei Mal Deutscher Meister. Ohne die Unterstützung der Ehrenamtlichen wären diese Erfolge nicht denkbar. Neben der Arbeit auf dem Spielfeld oder am Spielfeldrand müssen Reisen zu den Turnieren und Spieltagen organisiert werden. Für die Ehrenamtlichen heißt das neben der eigenen Lohnarbeit oder dem Studium für Trainingseinheiten und Spieltage oder internationale Turniere am Wochenende teils mehrtägige Reisen einplanen.
Regelwerk Blindenfußball-Bundesliga
Das Feld ist 20×40 Meter groß und an den Längsseiten mit hüfthohen Banden als Orientierung umgeben. Gespielt wird auf Hockeytore zwei Mal 15 Minuten. Sobald der Ball im Aus ist, wird die Spielzeit gestoppt, dadurch kann ein Match auch mal 90 Minuten dauern. Jede Mannschaft stellt vier blinde Feldspieler und einem sehenden Torwart auf, der den ca. 6×2-Meter breiten Torraum nicht verlassen darf. Dazu hat jedes Team einen Guide hinter dem Tor. Bei einem Foul im gegnerischen Strafraum gibt es einen Strafstoß aus sechs Metern. Die Spieler müssen, wenn sie drei Meter vom ballführenden Spieler entfernt sind, immer „Voy“ sagen, sonst ist es ein Foul. Voy kommt aus dem Spanischen und bedeutet, ich komme oder gehe. Dadurch werden sie akustisch wahrgenommen und es lassen sich harte Zusammenstöße vermeiden.
Ehrenamt bildet die Grundlage
Wolf zieht seine schwarze Jacke aus, die ihm bis zu den Knien geht. Hinten auf dem Rücken seiner Jacke steht in weißen Buchstaben „Team Barrierefrei“. Grade kommt die Sonne raus. Im Schatten ist es allerdings noch etwas kühl. Seit 14 Jahren ist er Trainer des Blindenfußballteams FC St. Pauli. Einige Zeit ehrenamtlich – bis es nicht mehr ging. Seitdem bekommt er 24 Stunden die Woche bezahlt. Er lehnt noch die letzten schwarzen Klapptore außen an die Bande vom Spielfeld, die er gleich für die erste Trainingsübung braucht. Unterstützt wird er von Jonas, seinem Co-Trainer, der ebenfalls angestellt ist – mit zehn Stunden. Mit dabei sind auch die ehrenamtlichen Guides.
„Ehrenamt ist unglaublich wichtig. 85 Prozent unserer Arbeit macht das Ehrenamt bei uns aus. Es geht nur mit ihnen, weil wir die Leute alle gar nicht bezahlen können“, erklärt der Trainer. Fast 29 Millionen Menschen waren laut dem Bericht vom Bundesamt für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der alle fünf Jahre erscheint, im Jahr 2019 ehrenamtlich aktiv. Dabei geht es um alle Bereiche der Gesellschaft: Zum Beispiel Feuerwehr, Museen, Sozialarbeit – benachteiligten Kinder helfen, Arbeit in Parteien, kirchliches Engagement und vieles mehr.
Ein Großteil der Menschen engagiert sich im sportlichen Bereich. Die Trendkurve zeigt allerdings nach unten: 2014 waren noch 14,9 Prozent der Ehrenamtlichen im Sportbereich aktiv. 2019 nur noch 13,5 Prozent. Umgerechnet sind das etwa eine Million Menschen weniger. Für viele Vereine und Organisationen wird es deshalb immer schwieriger, Menschen zu finden, die ehrenamtlich arbeiten wollen.
Das Schwierigste ist, fokussiert zu bleiben. Ich muss immer vorausschauen was passiert, im Kopf dabeibleiben und darf nie abschalten
Für ein Spiel im Blindenfußball braucht es besonders viele Aktive. Sechs Guides sind in einer Mannschaft tätig. An diesem Dienstag sind vier von ihnen beim Training dabei: Julius, Miriam, Michael und Antje.
Das Team stellt sich im Kreis auf. Kurze Ansprache im Mittelkreis von Coach Schmidt, dann startet die erste Übung. Guide Miriam läuft vom Kunstrasen runter und stellt sich auf ihre Position, mittig hinters Tor auf der orange farbigen Tartanbahn, die kreisförmig um die beiden Fußballfelder verläuft. Ihr Blick geht durch das grüne Tornetz am Torhüter vorbei. Für Miriam heißt es jetzt: volle Konzentration.
„Blindenfußball funktioniert nicht nur mit sehbehinderten Spielerinnen und Spielern. Auch wenn wir Guides nicht aktiv am Ball sind, gehören wir zum Team und das ist einfach ein tolles Gemeinschaftsgefühl“, erklärt Miriam. Ihre Aufgabe ist nicht so leicht, wie sie im ersten Moment klingt. Die Spieler*innen tragen alle eine sogenannte Dunkelbrille, damit keine*r von Ihnen einen Vorteil hat und etwas sieht. Neben dem Ball, der ein rasselndes Geräusch von sich gibt, sobald er bewegt wird, sind die Guides die wichtigste Orientierungshilfe für die Blindenfußballer*innen. Durch die Guides wissen sie, wo das Tor steht.
Ohne Guide kein Tor
Calvin dribbelt mit dem Ball alleine auf das Tor zu. „Noch zehn, neun, acht, sieben, sechs und Schuss!“ Calvin tritt gegen den Ball. „Daneben, links vorbei“, ruft Miriam. „Das Schwierigste ist, fokussiert zu bleiben. Ich muss immer vorausschauen, was passiert, im Kopf dabeibleiben und darf nie abschalten, wenn grade mal nichts los ist, sondern muss zum Beispiel auch aufpassen, dass keiner der Spielerinnen und Spieler gegen die Bande oder den Pfosten läuft. Erst kommt die Sicherheit und danach der Torerfolg“, sagt Miriam über ihr Prinzip.
Wieder dribbelt Kelvin an, steht links an der weißen Bande. „Hier Kelvin, weiter nach rechts, sechs, fünf, Schuss“, schreit Miriam und legt dabei die Hände um ihren Mund, damit Calvin sie besser hört. Dieses Mal trifft er den weißen Ball besser. Es rasselt, als er gegen den Ball tritt. „Ja, Tor, unten rechts. Super Calvin!“ Der Torhüter ist der einzige aktive Feldspieler, der sehen darf und seine Augen auch nicht bedecken muss. Trotzdem: Diesmal kann er nicht schnell genug reagieren.
Wenn Miriam nicht hinter dem Tor steht, dann spielt sie entweder für die dritte Mannschaft der St. Pauli Frauen oder arbeitet in ihrem Beruf als Bildungskoordinatorin. Ein voller Wochenplan, wenn man bedenkt, dass noch zwei Trainingseinheiten plus Spiel am Wochenende für ihre eigene Mannschaft dazukommen. Nebenbei versucht sie zwei Mal die Woche bei den Trainingseinheiten der Blindenmannschaft und auch bei den Bundesligaspieltagen und -turnieren dabei zu sein.
„Man muss auf jeden Fall bereit sein, Zeit zu investieren, aber ich habe da einfach Lust drauf. Manchmal ist es dann aber auch so, dass ich nur ein Mal die Woche beim Training bin“, sagt Miriam. Die Termine für das Wochenende werden am Anfang des Jahres abgesprochen und verteilt. Dann geht es nach Dortmund, Stuttgart oder für Turniere bis nach Italien. Auch das muss organisiert werden. Ein Teil der Aufgaben übernimmt Chefcoach Wolf. Der Rest ruht auf den Schultern von Ehrenamtlichen.
Der Ausgleich zum stressigen Berufsleben
„Hier ist mein Herz“, sind die ersten Worte von Michael. Seit zwölf Jahren ist Michael beim Blindenfußballteam vom FC St. Pauli dabei, kümmert sich um die Organisation im Hintergrund und hilft als Guide. Er ist schon fast ein Urgestein bei den Kiezkickern. Heute kann er sich etwas ausruhen, weil genug Guides da sind. Mit Mütze und Schal ist er optimal auf das Wetter vorbereitet, denn trotz Sonne ziehen immer wieder Windböen über die beiden kleinen Kunstrasenplätze.
Er nimmt heute die Zuschauerposition neben dem Platz ein. Beruflich kennt er sich mit dem Beobachten aus: Michael ist Kameraassistent, hat zum Beispiel beim “Tatort” oder beim “Polizeiruf 110” mitgewirkt. Für ihn ist die Arbeit beim FC St. Pauli der perfekte Ausgleich zu der Filmwelt. „Die Arbeit hier erdet mich. Grade im Kontrast zur Filmbranche, die teilweise etwas abgehoben ist, komme ich hier wieder auf den Boden.“
Das schönste Gefühl sei für ihn, wenn er den Blindenfußballer*innen das Gefühl geben kann, sie können sehen. „Es ist toll, wenn die Menschen hier zu mir sagen, dass sie auf dem Fußballplatz wieder sehen können, weil sie sich sicher und frei bewegen können. Sie haben die Orientierung, können im vollen Tempo laufen und fühlen sich einfach frei, das ist wie sehen für sie“, erklärt Michael.
Michael investiert viel Zeit ins Ehrenamt. Er managt die Website, macht auch mal Bilder oder Videos und organisiert Auslandsreisen, zum Beispiel ging es im März für ein Turnier nach Mailand. „Wenn die großen Turniere vorbereitet werden, dann ist das schon ein Vollzeitjob und dann gebe ich meinen richtigen Job für eine bestimmte Zeit auf“, sagt Michael.
Hilfe wird beim Blindenfußball immer gesucht
Auf dem Platz geht es derweil richtig zur Sache. Trainer Wolf gibt laut Anweisungen. Guide Michael schlendert rüber in Richtung Tor auf der anderen Seite. Er hilft gerne, vor allem auch jungen Menschen, möchte ihnen Dinge ermöglichen – zum Beispiel das erste Mal zu fliegen oder ohne die Eltern ins Ausland zu reisen. „Rasmus kam zu uns, als er zwölf Jahre alt war, jetzt ist er 22 und Nationalspieler. Das ist phänomenal, wenn man die ganze Entwicklung miterleben darf“, so Michael.
Ob als Guide oder in anderen Bereichen – in Vereinen wie dem FC. St. Pauli läuft der Betrieb nur mit ehrenamtlichem Engagement. Grade nach Guides wird gesucht. Interessierte werden geschult, um die Regeln des Blindenfußballs zu lernen. Miriam freut sich über Unterstützung hinterm Tor. Und Spieler*innen wie Thoya entgegenzurufen „Drin, links oben!“ ist bestimmt ein tolles Gefühl.
Der erste Reportereinsatz von Fynn Hornberg, geboren 1999 in Hamburg, endete mit einer Schlägerei unter Kreisliga-Fußballspielern – er selbst hielt sich aber heraus. Seine Begeisterung für den Journalismus blieb, ebenso wie die für den Sport. Bereits im Bachelorstudium Sportjournalismus und -management in Frankfurt kombinierte Fynn seine Leidenschaften. Erste Erfahrungen sammelte er bei der Frankfurter Neuen Presse, bei Hit Radio FFH und in der Multimediaredaktion des Evangelischen Medienhauses Hessen/Nassau. Multi gefällt ihm generell am besten, egal ob Audio, Video oder Text. Privat liebt Fynn den HSV – geprügelt hat er sich im Stadion aber immer noch nicht. Kürzel: fyh