Auf Randstreifen, Verkehrsinseln und sogar einem Bunkerdeckel wird in Hamburg gegärtnert. Oft ohne Erlaubnis der Stadt, Guerilla Gardening wird das genannt. Wir haben Menschen begleitet, die sich für etwas Grün die Hände schmutzig machen.
Text und Fotos: Anna Girke
Die Sonne geht gerade hinter den Gleisen unter, als Clemens mit einem Sitzkissen unter dem Arm aus dem Haus kommt. Er hat Feierabend. Unter dem anderen Arm trägt er zudem einen Plattenspieler. Innerhalb von Sekunden ist die Hiphop-Platte aufgelegt, dann das Launchpad mit dem Handy verbunden. Die Musik aus dem Plattenspieler mischt sich mit dem Verkehrslärm. Hier am Lessingtunnel bilden Autos und Busse unter der Zugbrücke eine lange Schlange, die sich im Ampeltakt langsam vorwärtsbewegt.
Clemens verbringt diesen Abend nicht in seinem privaten Garten, sondern neben einer Litfaßsäule und vier Ampeln: Er sitzt am Rande einer Kreuzung – auf der „netten Palette“ zwischen Straße und Fußweg. Diese Holzkonstruktion ist ein öffentlicher Treffpunkt, Guerilla Garden und in nachbarschaftlicher Teamarbeit entstanden. Gepflegt wird sie seit einigen Jahren.
Treffpunkt auf einem Bunker
Zuerst war es nur eine Bank, dann kamen weitere dazu. Wie lange sie jeweils schon hier stehen, kann man daran ablesen, wie verblasst die gelbe, grüne und orangene Farbe ist, mit der sie gestrichen wurden. Clemens baute sie aus Holz, das bei den Bauarbeiten zur neuen Mitte Altona übriggeblieben war. Zuerst wurde er von der Nachbarschaft bloß neugierig beäugt. Dann kamen Kinder mit Schleifpapier zu ihm, dann die Eltern. Einen Tag später stand eine Vase mit Blumen auf dem Holztisch.
„Am ersten Wochenende haben wir Mülleimer gebaut. Dann Stühle dazugestellt und erste Pflanzen gesetzt”, so Clemens. Alles damals noch mit Abstand, es war ja Corona-Lockdown. Clemens wusste nicht, dass der Betonsockel eigentlich ein verschlossener Bunkereingang war. Wie es darunter aussieht, erzählten ihm Anwohner*innen aus dem Viertel.
Er wusste auch nicht, ob die „nette Palette“ von der Stadt abgerissen werden würde. Denn der Gemeinschaftsgarten wurde nicht behördlich genehmigt, genau genommen sogar illegal gebaut. Von einem Verfahren zur Herstellung ordnungsgemäßer Zustände blieb der Ort aber bisher verschont – was einem Rückbau oder Abriss gleichkäme. Nur wenn Bäume beschädigt werden oder Unfallgefahr besteht, greift das Bezirksamt Altona nach eigenen Angaben zu diesen Maßnahmen.
Clemens ist froh, hier einen Ort der Verbindung geschaffen zu haben. Er wird genutzt von Bewohner*innen, von Passant*innen um kurz zu verschnaufen oder Menschen, die ihre Mittagspause auf den Holzbänken verbringen.
Endlich die Nachbarschaft kennenlernen
“Es war im März vor drei Jahren, ich weiß es noch genau“, sagt Clemens über seinen ersten Homeoffice-Tag im ersten Corona-Lockdown, an dem ihm bereits die Decke auf dem Kopf fiel. „Ich bin Sozialpädagoge und Sozialpädagogen haben im Homeoffice nicht so viel zu tun. Aber mich hat schon immer gestört, dass es vor der Tür nichts zum Sitzen gibt”, so Clemens weiter. Ihn störte auch, dass er keinerlei Kontakt zu seinen Nachbar*innen hatte. Er hätte sie nicht mal auf der Straße erkannt. Deshalb beschloss er, das zu ändern.
Es gibt wenige Orte, die für alle Menschen eines Viertels gemacht werden.
Heute gibt es in seiner Nachbarschaft nicht nur selbstgebaute Bänke, sondern auch Tulpen und Osterglocken, dazwischen wuchern Gräser und eine Reihe Bambus. In den Hochbeeten stehen Schnittlauch und Rosmarin, etwas weiter ein kleiner Tannenbaum. Der urbane Garten ist mit der Zeit gewachsen. Mittlerweile pflegt Clemens eine Blumenfreundschaft mit Anwohner*innen aus dem Viertel und tauscht Samen aus. Auch Tabakpflanzen hatten sich in den Beeten eingenistet.
Den Tabak hätten sie aber nicht gesät, sagt Clemens. Geerntet wurden schon Zwiebeln, Erdbeeren und Karotten; trotz Schadstoff-Risiko durch den Autoverkehr. Mike Schlink, Pressesprecher des Bezirksamtes Altona, rät aus diesem Grund vom Ernten und Essen ab. Eine ausreichende Bodenqualität sei auf den Flächen neben der Straße nicht sichergestellt.
Guerilla Gardening heißt Pflanzen aus Protest
Die „nette Palette“ ist nicht der einzige Versuch, dem Asphalt in der Nachbarschaft etwas entgegenzusetzen. Unweit von Clemens Bänken rahmen acht Bretter und einige Holzpfähle blühende Hyazinthen und etwas Immergrün ein. Auf einem Zettel wird zur Vorsicht gemahnt: “Hier möchten Blumen wachsen.” Das Beet mit dem hüfthohen Zaun hat ein Familienvater angelegt – aus Protest.
Er wohnt mit seinen zwei Töchtern in der Nähe – eine geht in die Kita, die andere in die Schule. Aus den Fenstern seiner Wohnung sieht er andere Wohnblöcke. „Ich schaue über die Straße und drüben ist es grau“, sagt er. „Es wird immer mehr zugepflastert. Aber versiegelte Flächen machen die Stadt nicht besser.” Hier auf dem Grünstreifen zwischen Gehweg und Fahrbahn hätten oft Autos geparkt, die Erde sei deshalb steinhart gewesen. “In einer Nacht-und-Nebel-Aktion haben wir die Pfähle reingehauen”, so der Mann, der deshalb seinen Namen nicht öffentlich nennen möchte.
Anstatt den Gehsteig zuzupflastern und die Beete zu reduzieren, könnte die Stadt doch auch mal den Autos Platz wegnehmen.
Das Bezirksamt Altona erlaubt solche Schutzzäune nicht, die das Betreten der Fläche verhindern sollen — wegen Stolpergefahr und Verletzungsrisiken. Der Vater erwartet, dass das Beet im Zuge von Straßenbauarbeiten entfernt wird. Er wirkt frustriert: “Anstatt den Gehsteig zuzupflastern und die Beete zu reduzieren, könnte die Stadt doch auch mal den Autos Platz wegnehmen“, sagt er.
Dabei schließt das Bezirksamt Altona durchaus Vereinbarungen mit Bürger*innen, die Grünflächen pflegen und bepflanzen möchten; eine legale Alternative zum Guerilla Gardening. Aktuell gebe es etwa 320 Vereinbarungen im Stadtteil, sagt Mike Schlink, Pressesprecher des Bezirksamtes. Zuerst werde der Ort geprüft, ob er geeignet sei. So müssten Pflanzen auch nicht wieder entfernt werden, wenn sie an ungeeigneten Orten gepflanzt würden. „Das ist durchaus schon vorgekommen“, sagt Mike Schlink. Mögliche Gründe, ein Beet zu entfernen, seien etwa Verkehrssicherungen oder Leitungsarbeiten.
Der Bezirk vergibt vor allem so genannte Baumscheiben-Partnerschaften. Dabei handelt es sich um die unbefestigten Bereiche um Stadtbäume – die aber ziemlich verdichtet sind und oft als Hundeklo dienen. Viel Platz für Beete gibt es dort nicht. Ein limitierender Faktor sei zudem die Zeit: “Während der Corona-Pandemie haben viele Menschen in Altona gepflanzt, jetzt haben sie einfach keine Zeit dafür”, sagt der Vater. Er wünscht sich, dass wieder mehr Leute aktiv die Stadt begrünen: “Wenn sich jeder ein bisschen drum kümmert, könnte es so schön aussehen.”
Eine Verkehrsinsel für Insekten und Blumen
Auf der anderen Seite des Bahnhofs Altona pflanzt Anna. Im Sekundentakt fahren ICEs und Regionalzüge auf den Schienen an ihr vorbei; auf der Straße LKWs, Busse und Autos. Ihr Beet ist eigentlich eine Verkehrsinsel und das hört man: Motoren- und Zuglärm übertönen das Summen einer Hummel. Die sucht in den blühenden Kirschbäumen nach Nektar. Es riecht nach Abgasen und Frühling.
Unter den Zweigen buddelt Anna mit Schaufel und Gartenhandschuhen: Loch graben, Pflanze raus aus dem Topf und rein in den Boden, Erde festdrücken — alles schon Routine. Ein Marienkäfer krabbelt auf den vertrockneten Blättern. Anna hebt ihn hoch und bringt ihn in Sicherheit vor dem Spaten. Seit Frühjahr 2023 ist sie offiziell Grünpatin für die Verkehrsinsel, gegärtnert hat sie dort aber schon davor – nur ohne Erlaubnis. Guerilla Gardening eben. “Es hat mit den Lindenbäumen angefangen”, sagt sie und zeigt in Richtung eines Spielplatzes. “Da bin ich im Sommer mit meiner Tochter vorbeigelaufen und es lagen eine ganze Menge toter Hummeln auf dem Fußweg.”
Ein Blick in die Runde zeigte ihr damals: Dauerbaustellen, brache Flächen — keine Blumen. Auf der Verkehrsinsel wuchsen stattdessen Brennnesseln, Löwenzahn und Unkraut. “In der Erde habe ich Regenwürmer ohne Ende gefunden. Also wirklich viele, das hätte ich nicht gedacht. Aber auch Kippenstummel und Bierdeckel.” Also pflanzte Anna Blumen.
Ganz risikofrei ist das nicht. Brachen haben durchaus einen Nutzen für die Umwelt. Von selbst können sich sehr artenreiche Lebensgemeinschaften bilden. „Wenn man dazwischenfunkt, dann funktioniert das nicht immer gut”, sagt Dr. Katharina Schmidt vom Naturschutzbund Hamburg. Ideal sei es, wenn sich natürliche Systeme auf den Flächen selbst erhalten; also keine permanente Pflege benötigen. Und man sollte regionales Saatgut verwenden. „Das verfälscht die Flora nicht“, so Schmidt.
Wie bastele ich eine Seedbomb?
Mithilfe von sogenannten Seedbombs können Blumensamen schnell ausgesät werden. Katharina Schmidt vom Naturschutzbund Hamburg empfiehlt damit Rasen in Parks aufzuwerten – am besten mit regionalen Blumensamen. Die Samen werden mit Erde und Tonpulver zu Kugeln geformt.
Benötigt werden:
4-5 Esslöffel Erde
4-5 Esslöffel Tonerde
1-2 Teelöffel Wildblumensamen
Die Zutaten mit etwas Wasser zu einem Teig vermischen, dann walnussgroße Kugeln formen. Diese müssen mehrere Tage trocknen, beispielsweise in einem Eierkarton auf der Heizung. Danach können sie aufbewahrt oder ausgebracht werden. Es ist nicht nötig, sie beim Aussähen mit Erde zu bedecken.
Quelle: Nabu-buettelborn.de
Was Anna anpflanzt, kauft sie nicht. In einem nahen Supermarkt rettet sie, was sonst weggeschmissen wird. “Ich wollte kein Geld in das Projekt stecken, weil ich nicht wusste, ob es kaputt geht“, sagt sie. So brachte sie Lavendel, Dahlien, Geranien und Gänseblümchen auf die Verkehrsinsel. „Und Ringelblumen, Sonnenblumen, und einmal habe ich sogar eine Gurke gefunden. Die hatte ich aber überhaupt nicht gepflanzt.”
Auf der Verkehrsinsel kommt auch Anna immer wieder in Kontakt mit Menschen aus dem Viertel. Nachbar*innen bleiben stehen oder greifen selbst zum Spaten. Manche fahren auf dem Weg zur Arbeit einen Umweg durch die Große Rainstraße, um an der Insel vorbeizukommen. Andere lassen leider keine Setzlinge, sondern Müll da. Oder nehmen eine Pflanze mit, was Anna mit Humor nimmt: „Es wurde mal ein halbtoter Flocks ausgebuddelt. Daneben wuchs ein riesiger, blühender Lavendel. Der wäre doch viel schöner gewesen“, so Anna.
Die „nette Palette”, das Beet neben der Mitte Altona, Annas Verkehrsinsel – nur drei von vielen Beispielen, wie Bürger*innen in Eigenregie öffentlichen Raum nutzen. Um etwas zu bewegen und zu verändern. “Es gibt wenige Orte, die für alle Menschen eines Viertels gemacht werden”, sagt Clemens, deswegen hat er zu Nagel und Hammer gegriffen. Er hat geschaffen, was ihm fehlte: Weniger Anonymität in der Großstadt, weniger Fremde. Stattdessen Austausch und Gemeinsamkeit – manchmal auch ohne offizielle Erlaubnis.
Jahrgang 1997, hat schon einmal für den HR die Europameister im Fliesenlegen begleitet. Sie selbst legt lieber Musik auf. Als die Clubs in der Corona-Zeit geschlossen waren, brachte sie sich selbst bei, House-Musik zu mixen. Musik ist für Anna ein großes Thema. Ihr Abitur machte sie auf dem bekannten Musikgymnasium Montabaur. Neben dem Studium der Germanistik und Kommunikationswissenschaften in Münster arbeitete sie für die “Westfälischen Nachrichten” als Kultur- und Onlinejournalistin. Bei dem Campussender ihrer Uni leitete sie die Onlineredaktion und schrieb für das Straßenmagazin "draußen e.V." über öffentlichen Raum. Annas großer Traum: ein eigener Radiosender auf Spiekeroog.