Henry Maske war dagegen, Wettkämpfe waren illegal: Vor knapp 30 Jahren erkämpfte eine Theologiestudentin aus Hamburg für Frauen das Recht auf Boxen. Der Kampf für Gleichberechtigung im Boxsport geht bis heute weiter.
Text und Fotos: Anne Paulsen
Noch ist es still im kleinen Trainingsraum mitten in der Viktoria-Kaserne in Hamburg Altona. Sechs Sportler*innen stehen auf dem federnden Mattenboden und wickeln sich Bandagen um Finger und Handgelenke. Von der Decke hängen dicke schwarze Sandsäcke. Trainerin Hannah Maatallaoui begrüßt die Gruppe mit einem vorfreudigen Lächeln. Die Athlet*innen stellen sich der Reihe nach mit Namen und individuellen Pronomen vor. Das Tyger Trimiar Gym bietet Frauen, Lesben, inter, non-binary, trans und agender Personen (Flinta*) einen Raum im Kampfsport, der auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist. Immer mehr Trainer*innen und Vereine in Hamburg setzen sich dafür ein, dass Frauen oder Flinta ihren Weg in den Kampfsport finden. Im historischen Vergleich wird Sport immer gleichberechtigter und auch inklusiver. Schafft es auch der Boxsport, aus der heterosexuellen Männerdomäne auszubrechen?
Vor weniger als 30 Jahren war Frauenboxen noch illegal – Eine Theologiestudentin änderte das
Als Ulrike Heitmüller Anfang der 1990er mit dem Boxen begann, waren Boxsportwettkämpfe für Frauen illegal. Die Hamburgerin beschloss das zu ändern. Eigentlich wollte sie damals Selbstverteidigung lernen. Doch während ihres Theologiestudiums in Tübingen fand Heitmüller nur einen Boxkurs. „Ich dachte Boxen sei etwas für durchgeknallte Schläger“, sagt sie. Doch als sie merkte wie viel Technik und Geschick dazu gehörten, begann sie den Sport zu lieben. Es gab nur ein Problem: „Der Trainer interessierte sich nur für die Jungs.“
Heitmüller mutmaßte, dass sie vielleicht mehr beachtet würde, wenn sie in den Ring stiege. Am 6. Februar 1994 schrieb sie deshalb einen Brief an den Deutschen Boxsport-Verband (DBV), um zu beantragen, dass Frauen an offiziellen Wettkämpfen teilnehmen dürfen. Bald ging ein Foto von der 27-jährigen Studentin durch die Presse. Es zeigte sie mit langen blonden Haaren, zarter Statur und dicken Boxhandschuhen – hinter ihr ein Bücherregal, in dem Titel wie „Weiblichkeit“ von Susan Brownmiller neben dem Alten und Neuen Testament standen.
Heitmüller fand Mitstreiterinnen in ganz Deutschland, so auch die Hamburger Fitnesstrainerin Marion Einsiedel. Die beiden Frauen stiegen 1994 im Rahmen des Hamburger Frauensporttags zum ersten öffentlichen Frauenboxkampf Deutschlands in den Ring. Kampfpässe hatten sie aber noch nicht – das Dokument ist bis heute für Wettkämpfer*innen verpflichtend und hält alle Ergebnisse sowie ärztliche Gutachten fest.
„Frauen sind das schönere Geschlecht, und ich würde mir wünschen, dass sie es lassen.“ (Henry Maske)
Erst im Mai 1995 stimmten die Mitglieder des DBV für die formale Gleichberechtigung der Geschlechter im Ring: mit 337 Ja- und 269 Nein-Stimmen. Es war ein Votum mit viel Gegenwind, der noch lange nachwirkte. „Die anschließenden Regeln fürs Frauenboxen wurden mit einer Handlungslogik gesetzt, die Frauen noch immer am Boxen hindern sollte“, sagt Heitmüller. Die Gewichtsklassen lagen zum Beispiel so eng aneinander, dass es nahezu unmöglich war, gleichschwere Gegnerinnen unter den wenigen Wettkämpferinnen zu finden. Ihre Ablehnung hätten die Männer mit erfundenen Fakten begründet, sagt Heitmüller – zum Beispiel, dass Schläge auf die Brust angeblich Krebs bei Frauen verursachen würden. Henry Maske reagierte auf die Frage nach Gleichberechtigung im Ring in einem Interview der ARD 1994 so: „Frauen sind das schönere Geschlecht, und ich würde mir wünschen, dass sie es lassen.“
Was sich in der Gleichberechtigung bis heute getan hat und wie sich der Boxsport organisiert
Eine passende Gegnerin im Wettkampfboxen oder fürs Training zu finden, ist auch heute noch schwierig. Formal werden Frauen und Männer im Training aber gleich gefördert. Niemand darf heute mehr aufgrund von Geschlecht oder sexueller Orientierung von Wettkämpfen ausgeschlossen werden. Doch auch wenn die Gleichstellung rechtlich gegeben ist, ist das nicht gleichbedeutend mit einer tatsächlichen Teilhabe.
Der Hamburger Sportbund veröffentlichte 2022 seinen ersten Gleichstellungsbericht. Damit will der Bund Hamburger Sportvereine aller Art auffordern, ihre Bedingungen aktiv umzugestalten, sodass eine Gleichstellung aller Geschlechter in Ämtern und Mitgliederzahlen erreicht werden kann. Anfang 2023 liegt die Anzahl der Mitgliedschaften in Hamburger Sportvereinen bei knapp 530.000 Mitgliedern, davon sind rund 66 Prozent männlich und 34 Prozent weiblich. Die Zahl der weiblichen Mitglieder im Boxsport steigt kontinuierlich. Der DBV ist in Landesverbände wie den Hamburger Boxverband (HABV) unterteilt. Mitglied des HABV sind aktuell 30 Boxvereine mit insgesamt 3000 Sportler*innen, davon sind 650 Frauen, also knapp über 20 Prozent. Von 12 bis 16 Kämpfen sind durchschnittlich nur zwei Frauenkämpfe, teilt der HABV mit. Im Profisport sind Frauen noch stärker unterrepräsentiert.
Frauenboxen heute – im ältesten Boxkeller Hamburgs
„Als Frau verdiene ich im Profi-Bereich, wenn es gut läuft, zehn Prozent, von dem, was meine männlichen Kollegen verdienen“, sagt Maria Lindberg, Trainerin in der Ritze. Das ist auch ein Grund, weshalb die heute 46-jährige Schwedin neben ihrer Profikarriere immer auch als Trainerin gearbeitet hat. Seit sieben Jahren trainiert sie eine Frauenboxgruppe in Hamburgs berühmtesten Boxkeller.
Oben an der Bar reichen die Kellnerinnen ein Bier nach dem anderen über den Tresen. Es ist Donnerstag, 18:45 Uhr, und um die Holztische versammeln sich bereits durstige Kiezbesucher*innen. Unbeeindruckt vom Partygeschehen laufen einige Frauen mit Kapuzenpullis am Tresen vorbei und die schmale Wendeltreppe hinunter. Hinter einer mit Stickern beklebten Eisentür eröffnet sich ihnen eine andere Welt. Es riecht nach Schweiß, Leder und Bier – in der Mitte des verborgenen Raumes: ein Boxring.
Als die umstrittene Kiez-Größe Carsten Marek Maria Lindberg 2017 als Frauenboxtrainerin anfragte, zögerte sie zunächst. Die Boxerin ist der Überzeugung, dass Gleichberechtigung erst dann herrsche, wenn man nicht mehr in Geschlechter einteilen müsse. Trotzdem nahm sie den Job an. „Heute ist es die geilste Gruppe, die ich je trainiert habe“, sagt sie. Während des Trainings kommen immer wieder Touristen in den Keller, die gerade an einer Reeperbahnführung teilnehmen. Sie machen Selfies und trinken mitgebrachte Shots, während die Athlet*innen im Boxring schwitzen.
„Als Frau verdiene ich im Profi-Bereich, wenn es gut läuft, zehn Prozent, von dem, was meine männlichen Kollegen verdienen.“
„Kann man hier mitmachen?“, fragt eine Touristin Lindberg mitten im Training. „Na klar, Donnerstag, 19 Uhr – komm vorbei!“, lautet die Antwort. Lindberg freut sich, wenn ihr Training andere Frauen anspricht. Und das passiere durch den Begriff „Frauenboxen“ deutlich häufiger und gezielter, wie Lindberg das heute sieht.
Dilar Kisikyol setzt sich für Geschlechtergleichheit und eine inklusive Vereinswelt ein
Hell und groß ist es in der Halle am Braamkamp im Gegensatz zum stickigen Boxkeller unter der Reeperbahn. In Hamburg Winterhude befinden sich Trainingsstätte und Verbandssitz des HABV. Hier trainiert Dilar Kisikyol. Genau wie Maria Lindberg stellt sich die 30-jährige Weltmeisterin im Leichtgewicht die Frage, wie sich ihr Sport für mehr Menschen öffnen kann. Im Oktober 2021 nahm Kisikyol eine Stelle als Inklusions- und Frauenbeauftragte beim HABV an. Die Sozialpädagogin setzt sich in ihrer Verbandsarbeit und mit ihrem eigenen Verein „Du kämpfst“ für die Bedürfnisse von Frauen im Sport ein. Aber auch für Menschen mit Parkinson, oder Personen im Rollstuhl. Gemeinsam mit dem Hamburger Sportbund und dem Project „Active City“ unterstützt Kisikyol das Ziel der Stadt, noch mehr Frauen mit Migrationshintergrund in die Hamburger Sportvereine zu holen.
Ob Dilars Arbeit die Schatten der Vergangenheit beseitigen kann? Der HABV stand aufgrund seiner Strukturen häufig in der Kritik. Kisikyols Vorgängerin wurde aus dem Verband ausgeschlossen, nachdem sie sich für die Aufklärung eines Missbrauchsfalls eingesetzt hatte. Eine erfolgreiche Hamburger Boxerin zeigte 2017 den heutigen Sportdirektor des HABV wegen sexuellen Missbrauchs an. Er war damals ihr Trainer. „Der Spiegel“ und andere lokale Medien warfen dem HABV vor, den Fall zu bagatellisieren. Der Vorstand reagiert auf Anfragen über den längst fallengelassenen Prozess bis Redaktionsschluss nicht.
Auch von der Präventionsbeauftragten: keine Antwort. Die Aufarbeitung der Geschichte liegt in den Händen der Vorstände. Ein konkreter Plan, wie zukünftig in solchen Fällen besser gehandelt werden soll, liegt Dilar Kisikyol nicht vor. Neben ihr gibt es nur zwei Frauen im Vorstand, der insgesamt 15 Mitglieder hat. Umso wichtiger ist es Kisikyol, selbst Vorbild zu sein. Auch ihr fehlte anfangs eine Sportlerin, mit der sie sich identifizieren konnte: „Als ich zum ersten Mal in die Boxhalle gekommen bin, habe ich nur Jungs und Männer gesehen. Ich bin sofort wieder rausgerannt.“
Doch sie ist zurückgekommen. Ihr nächstes Kampfziel heute: das Profievent „Rostock boxt“ im Juni 2023. Sie ist gut in Form. In wechselnden Kombinationen treffen die Fäuste von Kisikyol auf den Sandsack: Links, rechts links gerade, linker Uppercut, ein klatschender rechter Haken. Es ist bereits ihr zweites Training heute.
Im Verband oder im Einzelkampf zur Gleichberechtigung im Boxsport?
Ob bei Boxevents, oder im Training: „Wir hatten keine Lust mehr, immer die Ausnahme zu sein“, sagt Miriam Hill. Also haben zehn Kampfsportler*innen aus Hamburg ein eigenes Gym gegründet. Darunter waren cis Frauen wie Hill, ein paar Gender-fluide Leute, Lesben, Queers und eine transmaskuline Person. Alle kamen aus unterschiedlichen Bereichen des Kampfsports und waren aus verschiedenen Gründen frustriert über die Hamburger Vereinslandschaft. Miriam hatte in anderen Vereinen oft das Gefühl, sich als Frau besonders beweisen zu müssen.
In der alten Kaserne in Altona piept der Boxtimer: Das Sparring ist eröffnet. Die Gesichter der Sportler*innen werden unter den Helmen zusammengedrückt. Die Füße bewegen sich tänzerisch über den Boden, während die Fäuste hart und schnell die Gegner*innen treffen. Mal die Deckung und mal den Körper. Und plötzlich ein Treffer mitten auf den Solarplexus – die Sparringspartnerin liegt am Boden. Sie fällt weich, und ihre Partnerin hilft ihr sofort auf. Rücksichtsvoll, unbeeindruckt und routiniert geht der Trainingskampf weiter.
Im Sport werden Frauen und Männer nach wie vor unterschiedlich wahrgenommen, bewertet und anerkannt. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass Sportlerinnen immer noch Gefahr laufen, als unweiblich betrachtet zu werden, wenn sie sich in traditionell männlichen Sportarten engagieren. Ebenso ist Homosexualität im Sport noch nicht selbstverständlich.
Miriam Hill versteht ihr Gym deshalb als eine Art Intervention in die Vereinslandschaft. Teil des Boxverbandes ist das Gym noch nicht. Doch braucht es nicht gerade dort Vereine wie ihren? Das müsse man noch diskutieren, sagt Miriam. Spätestens wenn Sportler*innen offiziell kämpfen wollen, müsste der Verein einem Verband beitreten. Erstmal sei es wichtig, Flinta* einen Raum zum Trainieren zu bieten. Das will der Verein auch in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Sportbund in Angriff nehmen. Gemeinsam mit weiteren Vereinen und Institutionen initiieren sie am 24. Mai die Kickoff-Veranstaltung für ein LGBTQ+ Netzwerk im Hamburger Vereinssport. Die Geschlechterverhältnisse sind in Bewegung. „Flinta Boxgruppen sollen nicht das Ziel, sondern der Weg sein“, sagt Hill.
Kürzel: apa
Anne Paulsen, geboren 1996 in Itzehoe, hat Flugangst, reiste nach dem Abitur aber trotzdem für ein Jahr auf die von der Klimakrise bedrohte Pazifikinsel Kiribati. Sie unterrichtete, pflanzte Mangroven und begann zu bloggen. Später schrieb sie für kleinere Magazine und eine NGO über Klimawandel und Nachhaltigkeit. In Hamburg studierte sie Religionswissenschaft. Auf den Salomonen hat sie den ersten Frauenboxkampf mitorganisiert und stieg auch selbst in den Ring. Einen Poetry Slam ohne Wettkampfcharakter zu organisieren, steht noch auf ihrer To-Do-Liste – dann würde sie sich vielleicht mit einem eigenen Gedicht auf die Bühne trauen. (Kürzel: apa)