In der Rugby-Bundesliga spielten in der Saison 2022/23 zwei Vereine aus Hamburg. Doch der Sport ist in Deutschland sehr klein. Das ist in anderen Ländern anders. Warum ist das so? Und wie wollen es die Rugby-Vereine hierzulande ändern? FINK.HAMBURG hat ein Spiel in der Hamburger Stadtpark-Arena besucht.

Der Geruch von Bratwurst liegt in der Luft. Eine Live-Band, bestehend aus drei älteren Herren in blau-weißen Matrosenhemden und mit roten Halstüchern, spielt Lieder von Vicky Leandros und anderen deutschen Schlagerstars. Die Stimmung ist gut in der Hamburger Stadtpark-Arena – und das trotz des April-Wetters, graue Wolken bedecken vor Anpfiff den Himmel.

Gut 1000 Menschen sind zum Derby des Hamburger Rugby Club (HRC) und der Rugbyabteilung des FC St. Pauli gekommen. Beide Vereine sind erstklassig. Im Gegensatz zum Fußball ist Hamburg in der Rugby-Bundesliga gleich doppelt vertreten. Es geht um einiges in der Arena, die eigentlich nur ein Sportplatz ist – sie erinnert an einen Kreisligafußballplatz – und dient als Heimspielstätte beider Vereine. Die heutigen Gastgeber vom HRC spielen noch um die Qualifikation für die Play-Offs, in denen der Deutsche Meister ausgespielt wird. Der FC St. Pauli kämpft gegen den Abstieg.

Der HRC und der FC St. Pauli vor dem Derby im Hamburger Stadtpark. Foto: Moritz Löhn
Die Mannschaften des HRC (links) und des FC St. Pauli (rechts) beim Einlaufen. Foto: Moritz Löhn

Die Farben des HRC, Schwarz und Rot, sind dominant, aber es sind auch viele Fans in Braun-Weiß gekommen. Die Jugendabteilungen beider Vereine sind da, der Nachwuchs läuft mit den Spielern ein. Weiße Rauchwolken begleiten die Akteure des FC St. Pauli. Kurz nach Anpfiff sorgen auch die HRC-Fans für roten Nebel am Spielfeldrand. Die Stimmung ist bundesligareif.

Großer Sport auf der Weltbühne – und in Deutschland nahezu unbekannt

Nils Zurawski, Vorsitzender des Hamburger Rugby-Verbands, hat das erwartet: „Beliebt bei den Zuschauern ist das Derby immer“, sagt er zwei Tage zuvor. Der Verbandsvorsitzende ist hauptberuflich Wissenschaftler, seine Fachgebiete sind Sozialanthropologie und Kriminologie. Nils ist ein großer Mann, der so kurz vor dem Derby im Stress ist, aber trotzdem nicht hektisch wirkt. Es gibt noch einiges zu regeln. Er bespricht sich im 2018 eröffneten Verbandshaus mit seinem langjährigen Rugbykollegen Ralphi.

Ralphi ist groß und breit. Ein Typ, dem man aufgrund seines massiven Körpers nicht auf dem Platz gegenüberstehen möchte. Direkt vor der Tür trainiert die Mannschaft des FC St. Pauli im Regen. Die Spieler tackeln sich auf dem schlammigen Rasen. Tackle, das ist ein körperbetonter Zweikampf, bei dem man versucht, seinen Gegenspieler zu Boden zu bringen. Nils ist neben der Verbandsarbeit auch bei St. Pauli als Rugbyabteilungsleiter tätig. Er setzt sich in einen Sessel in einer Ecke des Verbandshauses. Die Einrichtung ist ziemlich neu. Es liegt kein alter Vereinsmief in der Luft. Es ist ein modernes Verbandshaus mit integriertem Café. Astra gibt es für zwei Euro, Filterkaffee für einen Euro dreißig.

Verbandsvorsitzender Nils Zurawski im Haus des Hamburger Rugby-Verbands. Foto: Moritz Löhn
Nils Zurawski im Verbandshaus des Hamburger Rugby-Verbands. Foto: Moritz Löhn

Nils ist seit 45 Jahren im Rugby. Angefangen hat er mit zehn Jahren, weil er Fußball doof fand, sagt er. Früher hat er auch mal Jugendnationalmannschaft gespielt. Es ging ihm aber nie ausschließlich um den Erfolg. „Solange ich denken kann, habe ich Rugby gespielt. Es gehörte immer zu meinem Leben. Es gibt keinen Tag, an dem ich nichts dafür getan habe.” Das ist ungewöhnlich in Deutschland, denn: „Rugby ist eine Marginalsportart. Wir sind echt ein mini, mini, mini Verband”, sagt Nils. “Es gibt nur ungefähr 130 Vereine, in denen Rugby gespielt wird.“ Im Gegensatz dazu existieren im Fußball mehr als 24.300 Vereine.

Aber warum ist Rugby in Deutschland so klein? In anderen Ländern hat die Sportart einen ganz anderen Stellenwert. Nicht nur in Neuseeland, Australien und Südafrika ist es ein Nationalsport. Auch unsere europäischen Nachbarn England und Frankreich lieben Rugby.

Am 8. September startet die Rugby-WM 2023 in Frankreich. Sie wird vermutlich wieder alle Zuschauerrekorde brechen, wie es auch schon die WM vor vier Jahren in Japan geschafft hat. Mehr als 850 Millionen Menschen weltweit schalteten bei der Rugby-WM 2019 ein. 1,7 Millionen waren live in den Stadien dabei. Das Turnier gilt nach der Fußball-WM und den olympischen Spielen als drittgrößtes Sportereignis der Welt. Und in Deutschland bekommt es niemand mit.

Rugby heißt auch: Dreck an Armen und Beinen

„In Deutschland ist dieser Sport einfach extrem unbekannt.“ Das sagt einer, der selbst Rugby spielt. Henning Brockmann (28) ist Spieler der HRC-Bundesligamannschaft. Er spielt Rugby, seit er 18 Jahre alt ist. Nach dem Derby, mittlerweile ist die Sonne rausgekommen, sitzt er im schwarz-roten Trainingspulli im Verbandshaus. Neben ihm hat sich sein Mitspieler Aaron Höhne (22) eingefunden. Aaron trägt noch sein Trikot vom Spiel. Er hält zur Begrüßung die linke Hand entgegen, weil er sich die rechte im Derby verletzt hat. Beide haben Dreck an Armen und Beinen. „Ein Bier haben wir uns heute nicht verdient“, sagt Henning. Denn das Derby ist für den HRC überhaupt nicht nach Plan gelaufen.

Die Mannschaft von Henning und Aaron ist als Favorit ins Spiel gegangen. Aber: „Wir haben die ersten fünf Minuten geschlafen.“ Schnell führte St. Pauli mit 14:0. Das ist im Rugby kein uneinholbarer Vorsprung. Es ist vergleichbar mit einem 2:0 im Fußball. „Dann sind wir erstmal den Punkten hinterhergelaufen, bis wir das Anfang der zweiten Halbzeit ausgeglichen haben. Dann wären wir eigentlich in der Lage gewesen, das Spiel zu gewinnen.“ Aber der Außenseiter war an diesem Tag einfach besser.

Das Endergebnis: Ein knappes 28:24 für den FC St. Pauli. Durch diese Niederlage rücken die Play-Offs für den HRC in weite Ferne. Henning hat trotz des emotionalen Derbys einen nüchternen Blick auf das Spiel: „Wenn man den Gegnern immer wieder Geschenke gibt, die sie dann eiskalt nutzen: Fair play, verdient gewonnen.“ Aaron nickt das ab: „Am Dienstag geht es weiter mit Training.“

Rugby-Regeln sind eigentlich ganz einfach, sagt Nils

Wie kommt man als junger Mann in Deutschland zum Rugby? Aaron hat mit 16 angefangen: „Ich fand das Spiel einfach packend. Ich habe mir gedacht: ‚Hömma, das ist mein Sport!‘“ Rugby habe einfach zu ihm gepasst. Henning war ursprünglich Fußballer und wusste gar nicht so richtig, was Rugby überhaupt ist, als ihm ein Kumpel davon erzählte. „Aber ich hatte ein Bild vom Rugby, dass es sehr körperbetont ist. Ich habe Fußball immer sehr körperbetont gespielt, was nicht unbedingt gewürdigt wird.“ Beim Rugby sei das anders, deshalb habe er sich sofort in den Sport verliebt.

Aaron Höhne und Henning Brockmann verlassen den Platz. Foto: Moritz Löhn
Aaron Höhne (links) und Henning Brockmann (rechts) nach dem Derby. Foto: Moritz Löhn

Beide lernten den Sport also erst spät kennen. Während die Fußballregeln überall in Deutschland bekannt sind, ist das beim Rugby anders. „In Frankreich oder England kennt jedes Kind die Regeln. Im Schulsport ist Rugby auch gleichberechtigt“, sagt Nils. An deutschen Schulen ist die Sportart eine Rarität. Noch dazu wirkt das Spiel auf den ersten Blick sehr kompliziert. Nils kann das nicht nachvollziehen. Um seinen Standpunkt zu unterstreichen, übertreibt er auch mal gern, wiederholt oder formuliert sehr prägnant. Laut ihm gibt es eigentlich nur fünf Regeln, die man kennen muss:

  • Du musst den Ball über die Linie tragen.
  • Der Gegner darf dich daran hindern.
  • Es gibt Regeln, wie der Gegner dich daran hindern darf.
  • Du darfst den Ball nur nach hinten werfen.
  • Du darfst den Ball nach vorne treten.

Das ist natürlich stark vereinfacht, aber Rugbyregeln sind keine Raketenwissenschaft. Nur kommt in Deutschland kaum jemand als Kind mit ihnen in Kontakt. „Fußball macht alles tot.“ Nils beißt, während er spricht, in den Apfel, den er seit 15 Minuten in seiner Hand dreht. Ein Kern fällt auf seinen roten Pulli. Aber das fällt ihm gar nicht auf, weil ihn das Thema Rugby so fesselt. „Ich glaube, das Problem für alle Sportarten in Deutschland ist Fußball. Berichterstattung, Aufmerksamkeit, Platz und Raum und alles, was es einnimmt. Darüber können wir meckern und uns beklagen, aber das hilft nix. Wir sind eine Randsportart, und zwar Rand, Rand, Rand.“

Rugby braucht nicht nur Geld

Doch das war mal anders. Der Deutsche Rugby-Verband hat eine lange Tradition, 2025 feiert er sein 125-jähriges Jubiläum. In den 50er-Jahren gab es noch 17 Vereine allein in Hamburg. Heute sind es in der Hansestadt weniger als die Hälfte. Was hat diesen Mitgliederschwund ausgelöst?

„Ich kann nicht sagen, woran es in Deutschland lag, dass so ein Sterben stattfand”, sagt Nils. “Vielleicht hat man nicht aufgepasst. Oder Fußball wurde nach dem WM-Titel 1954 zu groß.“ Aber er konzentriert sich lieber auf Dinge, die er beeinflussen kann, zum Beispiel die zukünftige Entwicklung des Rugbys: „Die Situation ist heute so, wie sie ist. Die Leute, die das machen, arbeiten mit Herzblut daran und sie kämpfen immer ein bisschen gegen Windmühlen.“ Es könne sich nur etwas ändern, wenn die Vereine besser zusammenarbeiten. Potenzial sei vorhanden.

Ein harter Zweikampf zwischen dem HRC und dem FC St. Pauli. Foto: Moritz Löhn
Ein Tackling im Derby zwischen dem HRC und dem FC St. Pauli. Foto: Moritz Löhn

Am Ende scheitert es immer auch am Geld. Das ist auch den Spielern bewusst. „Durch das fehlende Geld fehlt die Präsenz“, sagt Aaron. Er hat trotz der Niederlage im Derby ein Lächeln im Gesicht. Henning merkt man die Frustration etwas mehr an. „Ohne Geld funktioniert das nicht. Wenn du zum Beispiel Leute hast, die an die Schulen fahren, die musst du auch irgendwie bezahlen. Die kannst du ja nicht für lau dahin schicken. So viel Freizeit hat keiner. Ohne das wächst der Sport nicht“, sagt er. Den meisten Sponsoren gehe es nicht um Wirtschaftlichkeit oder Rendite: „Das ist purer Idealismus. Das ist einfach nur ein Hobby, wie ein Oldtimer oder so.“

Die Jugendarbeit als große Chance

Da ist Henning einer Meinung mit seinem Verbandsvorsitzenden. Berlin, Hannover, Heidelberg seien die drei Hochburgen in Deutschland, sagt Nils. „Da gibt es immer mal wieder Mäzene, die Geld reinpumpen. Das ist aber eine ideenlose Kirchturmpolitik.“ Am Ende gehe es nur darum, Deutscher Meister zu werden oder die Klasse zu halten. „So entwickelt sich nichts.“

Wie kann man das ändern? Nils glaubt, dass es wichtig ist, mehr in die Jugendarbeit zu investieren und die Vereine auch dazu zu verpflichten. Auch Henning ist überzeugt: „Du musst an die Kinder rankommen, etwa in der Schule. Dann nehmen die das mit und tragen es in die Welt hinaus. Anders kannst du diesen Sport nicht groß machen“, sagt er.

Die jubelnden Spieler des FC St. Pauli nach dem Sieg. Foto: Moritz Löhn
Die Spieler des FC St. Pauli feiern nach dem Derbysieg mit ihren Fans. Foto: Moritz Löhn

Henning und Aaron sind gespannt, ob die Rugby-WM 2023 für mehr Popularität in Deutschland sorgen kann. „Wenn das angenommen wird, ist es gute Werbung und wird wahrscheinlich auch dazu führen, dass hier mehr Leute auftauchen und sich das angucken“, sagt Henning. Aaron fügt hinzu: „Ich freue mich auf jeden Fall drauf. Ich war in Fußballstadien, ich war in Eishockeystadien, ich war in Basketballstadien. Rugby ist anders.“

Aaron hat noch eine weitere Idee, wie man Rugby verbreiten könnte: „Über die Kinder, aber auch über Social Media.“ Rugby sei auch eine gute Wahl für Menschen, die keinen passenden Sport finden. „Zum Beispiel jemand, der 2,10 Meter groß ist und 140 Kilo wiegt, da kommt kaum ein Sport infrage. Dann kommt der hier auf den Platz und wir freuen uns wie Bolle über so einen Mann.“

Moritz Löhn, Jahrgang 1996, hat schon einmal ein Sachbuch in 30 Tagen geschrieben. “Fußball Fakten – Von der Bundesliga bis zur WM” heißt es und enthält 40 Geschichten über das schönste Spiel der Welt. Fürs Fußballschauen wird Moritz sogar bezahlt: Er tickert für sport.de und hat schon in der Online-Redaktion von Sport1 gearbeitet. Sportjournalismus ist auch sein Berufsziel – am liebsten investigativ. Studiert hat er Medien und Information an der HAW Hamburg. Auch ehrenamtlich engagiert er sich: Er betreut ein Ferienzeltlager in Dänemark und ist Co-Trainer bei der vierten Herrenmannschaft des USC Paloma. Moritz ist Mate- und Mario-Kart-süchtig. Eine gute Grundlage für die nächsten Bücher.
(Kürzel: mol)