Sozialwahl 2023: Fast alle dürfen wählen, aber worum geht’s?

Bei Gesundheit und Rente mitbestimmen

Die Wahlunterlagen der Ersatzkassen und der Rentenversicherung können noch bis Ende Mai 2023 ausgefüllt zur Sozialwahl eingereicht werden.
52 Millionen Menschen in Deutschland dürfen an der Sozialwahl teilnehmen. Viele können sogar zwei Stimmen abgeben. Foto: Jan-Marius Komorek

Es ist die drittgrößte Wahl Deutschlands: Die Sozialwahl bietet die Möglichkeit, wichtige Entscheidungen im Bereich Gesundheit mitzubestimmen. Was Wählende wissen sollten.

„Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, worum es da geht“, antwortet eine junge Frau bei einer Straßenumfrage zur Sozialwahl von FINK.HAMBURG. Ein älterer Mann zuckt verdutzt mit den Schultern, als er gefragt wird, welche Wahlen gerade in Deutschland stattfinden. Sozialwahl, schon einmal gehört? Es wirkt, als würden die Wahlberechtigten gar nicht wissen, wer gewählt wird und welche Möglichkeiten sich aus einer Wahlbeteiligung ergeben. Dabei wird bei der Wahl für wichtige Entscheidungsträger*innen gestimmt: Die gewählten Verwaltungsräte der Krankenkassen bestimmen zum Beispiel mit, ob es Boni für die Gym-Mitgliedschaft gibt oder der Zuschuss zu einer Zahnreinigung erhöht wird.

Die Sozialwahl ist also eine Chance, sich einzubringen. Bei einer Umfrage der Techniker Kasse gaben 69 Prozent der Befragten an, sich zu wünschen, stärker in politische Entscheidungen zur Gesundheitsversorgung einbezogen zu werden. 79 Prozent der Befragten bestätigten im August 2022, auf jeden Fall oder wahrscheinlich an den Sozialwahlen teilzunehmen. Doch um was geht es da eigentlich genau?

Was ist eine Sozialwahl?

Bei den Sozialwahlen werden die Sozialparlamente der Ersatzkassen und der Rentenversicherung gewählt. Diese Gremien haben Einfluss auf die Kostenübernahme von Leistungen durch die Sozialversicherung. Konkret wird bei der Wahl der Verwaltungsrat der jeweiligen Krankenkasse und die Vertreterversammlung der Deutschen Rentenversicherung bestimmt. Die Sozialwahl soll den Menschen ermöglichen, den Kurs der Kasse mitzubestimmen – so die Idee. „Die Sozialwahl ist ein gelebtes Stück Demokratie“, sagt Kathrin Herbst, Leiterin der Landesvertretung Hamburg des Verband Deutscher Ersatzkassen (vdek).

Seit 1996 haben alle Versicherungspflichtigen freien Zugang zu den sogenannten Ersatzkassen. Vorher durften Krankenkassen nur Personen aufnehmen, die zu ihrer spezifischen Berufsgruppe gehörten. Ab dem 1. Januar 2009 haben sich diese Kassen zum Verband der Ersatzkassen (vdek) zusammengeschlossen – das sind: die Barmer GEK, DAK – Gesundheit, Techniker Krankenkasse (TK), Kaufmännische Krankenkasse – KKH, HEK – Hanseatische Krankenkasse und Handelskrankenkasse (hkk).

Wer darf wählen?

Alle Personen, die Wahlunterlagen von ihrer Krankenkasse oder Rentenversicherung bekommen haben, können an der Sozialwahl teilnehmen. Wer sowohl in eine der Ersatzkassen als auch in die Rentenversicherung einzahlt, kann für beide Gremien abstimmen. Minderjährige, die bis zum 1. Januar 2023 ihr 16. Lebensjahr erreicht haben, dürfen abstimmen, wenn sie selbst gesetzlich versichert sind.

Wahlberechtigt für die Sozialwahl sind in diesem Jahr insgesamt 52 Millionen Menschen in Deutschland. In Hamburg sind es 1,38 Millionen, also Dreiviertel der Einwohner*innen. Andere gesetzliche Krankenkassen (zum Beispiel die AOK, BEK oder IKK) bestimmen ihre Vorstände oft durch sogenannte Freiheitswahlen. Dabei kandidieren genau so viele Menschen, wie später im Verwaltungsrat sitzen können. Das bedeutet, dass sie automatisch als gewählt gelten. Die Versicherten bestimmen dabei in der Regel nicht mit.

Sozialwahl 2023: Wer steht zur Wahl?

Die teilnehmenden Krankenkassen und der Deutsche Rentenversicherung Bund versenden für die Wahl Listen mit von ihnen unabhängigen Organisationen, die wiederum ihre Kandidat*innen für die Sozialwahl vorstellen. Bei den Krankenkassen stehen üblicherweise vier bis sechs Listen zur Auswahl.

Auf den Listen sind in der Regel Gewerkschaften wie die IG-Metall oder Ver.di vertreten, aber auch kirchliche Arbeitnehmerorganisationen oder anerkannte Versichertengemeinschaften. Ihre Kandidat*innen sind Ehrenamtliche und oft selbst Versicherte, die sich für die Vertretung in den Sozialparlamenten aufstellen lassen. Als sogenannte Selbstverwalter setzen sie sich oft aus Überzeugung für den Erhalt des Sozialversicherungssystems ein. Kritisiert wird aber, dass für die Wähler*innen kein Mitspracherecht besteht, wer auf die Listen kommt. Diese werden von den Listenträger*innen vor Abstimmung festgelegt.

Die Sozialwahl hat eine lange Tradition: Das Prinzip, dass Versicherte mitbestimmen können, bezeichnet man als Soziale Selbstverwaltung. Bereits vor 70 Jahren bekam jede gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland ein eigenes Parlament, heute Verwaltungsrat genannt, das über sie regiert. Bei der Rentenversicherung ist es die Vertreterversammlung. Pro Parlament gibt es etwa 30 ehrenamtliche Mitglieder. Hinzu kommen Berater und andere Helfer, sodass man insgesamt auf mehrere Tausend Aktive in der sozialen Selbstverwaltung kommt.

Kritikpunkte: Millionen Kosten und niedrige Bekanntheit

Bei den vergangenen Wahlen mussten sich die Wähler*innen die Informationen über die Kandidat*innen relativ mühsam zusammensuchen – was wohl einer der Gründe war, dass die Wahlen wenig Aufmerksamkeit bekamen. Bei der Wahl 2017 haben gerade mal ein Drittel aller Berechtigten mitgemacht.

Die vergangenen Wahlen verursachten zudem hohen Kosten: Diese beliefen sich 2017 auf etwa 59 Millionen Euro. Zum Vergleich: Das ist halb so viel wie die Ausgaben zur Bundestagswahl. Außerdem wurden knapp 95 Prozent der Mandate in den Selbstverwaltungsgremien ohne Urwahl bestimmt, was bedeutet, dass die Kandidat*innen vorausgewählt wurden.

Chance durch Modellprojekt Online-Wahl?

Erstmals in der Geschichte der Sozialwahlen können Mitglieder der Erstkassen neben der Briefwahl auch online darüber abstimmen, wer ihre Interessen im Verwaltungsrat vertreten soll. Die Kassen erhoffen sich davon, auch ein jüngeres Publikum anzusprechen und so die Wahlbeteiligung zu steigern. Die Online-Wahl steht wie die Briefwahl bis zum 31. Mai zur Verfügung. Die Wahl des Bundes Deutscher Rentenversicherung ist nur in Papierform möglich. Das Ziel ist es aber, bei der nächsten Wahl die Erfahrungen aus dem Modellversuch zu nutzen und zukünftig die Online-Abstimmung für die gesamte Sozialwahl zu ermöglichen.

Eine crossmediale, deutschlandweite Kampagne vom Verband der Ersatzkassen klärt darüber hinaus über die Relevanz der Selbstverwaltung auf und soll die Bekanntheit der Wahl steigern. „Wir hoffen, dass sich hierdurch noch mehr an der Sozialwahl beteiligen”, so Maren Puttfarcken, Leiterin der TK-Landesvertretung Hamburg. Außerdem wurde ein zentrales Informationsportal www.soziale-selbstverwaltung.de eingerichtet und man kann auf der Kommunikationsplattform sozialversicherung.watch Fragen an die Selbstverwalter stellen.

Erstmals eine Frauenquote bei einer Sozialwahl

Bei der Sozialwahl 2023 gibt es eine zweite Neuerung: Die Listen der Krankenkassen und der Deutschen Rentenversicherung Bund, die zur Wahl stehen, sollen zu mindestens 40 Prozent mit Frauen besetzt werden. Obwohl die Mehrheit der Versicherten Frauen sind, fehlt es laut Ver.di bisher oft an der Berücksichtigung der Frauenperspektive in den Gremien der Sozialversicherungen.

Ein Beispiel ist der Bereich Gesundheit, wo Forschung und Lehre hauptsächlich auf männlichen Normgrößen basieren. Die Verantwortlichen wollen Gleichberechtigung von Männern und Frauen deshalb bei der Sozialwahl 2023 vorantreiben. Die Quote bezieht sich allerdings nur auf die Kandidat*innen und nicht auf die Mandate.

Anne Paulsen, geboren 1996 in Itzehoe, hat Flugangst, reiste nach dem Abitur aber trotzdem für ein Jahr auf die von der Klimakrise bedrohte Pazifikinsel Kiribati. Sie unterrichtete, pflanzte Mangroven und begann zu bloggen. Später schrieb sie für kleinere Magazine und eine NGO über Klimawandel und Nachhaltigkeit. In Hamburg studierte sie Religionswissenschaft. Auf den Salomonen hat sie den ersten Frauenboxkampf mitorganisiert und stieg auch selbst in den Ring. Einen Poetry Slam ohne Wettkampfcharakter zu organisieren, steht noch auf ihrer To-Do-Liste – dann würde sie sich vielleicht mit einem eigenen Gedicht auf die Bühne trauen. (Kürzel: apa)