Der im Exil lebende Theaterregisseur Kirill Serebrennikov weiß, was Unterdrückung durch ein autoritäres Regime bedeutet. In seinem Stück „Barocco“ zeigt er, was Menschen auf sich nehmen, um Widerstand zu leisten.

Foto: Fabian Hammerl

„Barocco” beginnt tragisch. Und es fordert die volle Aufmerksamkeit der Zuschauenden für die nächsten zwei Stunden. Menschen in schwarzen Trenchcoats stehen regungslos auf der dunklen Bühne verteilt. Sie schützen sich mit Schirmen vor strömendem Regen. Im linken Vordergrund ragt ein funkensprühender Laternenpfahl in die Höhe. Ein Mann in Arbeitskleidung klettert hinauf, um ihn zu reparieren. Bei dieser Wetterlage ein fahrlässig erscheinendes Manöver, dass für ihn tödlich endet: Von einem Stromschlag getroffen, hängt er erst zitternd, dann regungslos in seinen Steigeisen. Ohne großes Aufsehen wird er kurz betrauert, dann weggebracht. Ein zweiter Versuch: In der Rolle des Helden erklimmt der bürgerlich gekleidete Tenorsänger den Laternenpfahl. Er schafft es – seine Kunst bringt die Erleuchtung.

Wie der Maler eines barocken Öl-Gemäldes trägt Theaterregisseur Kirill Serebrennikov immer dickere Schichten auf sein düsteres Werk. Ein vor Symbolik und dramatischen Zuspitzungen triefendes Manifest für die Kunstfreiheit und den Widerstand gegen totalitäre Regime. Trotz packender Schwere gibt es auch erstaunlich leichte Momente.

„SEIT EINIGER ZEIT, DA RECHERCHIERE ICH NACH GESCHICHTEN ÜBER MENSCHEN, DIE SICH SELBST IN BRAND GESETZT HABEN.“

Der erschöpfte Journalist  

Weniger eine klare Storyline, vielmehr die Verzweiflung eines völlig erschöpften Journalisten bilden den Handlungsrahmen. Vollkommen ausgebrannt von dem Leid der Kriege und der Unterdrückung, über die er alltäglich berichtet, flüchtet dieser in das Nachtleben – tanzt, um zu verdrängen. Es gelingt ihm nicht: Gemeinsam mit dem Publikum durchlebt er im Zuge seiner Recherchen die Grausamkeit, aber auch die Ekstase von Menschen, die ihr eigenes Leben riskieren, um Protest und Widerstand zu leisten. Ein in der Inszenierung immer wieder wörtlich genommenes Spiel mit dem Feuer, das auch Kirill Serebrennikov selbst kennt. Der russische Theaterregisseur lebt inzwischen im Exil in Deutschland.

Serebrennikov: Von Moskau nach Hamburg

Moskau, 2018: Serebrennikov ist zu diesem Zeitpunkt noch Leiter des Gogol Centers, eines der angesagtesten liberalen Theater in der russischen Hauptstadt. Gleichzeitig befindet er sich in Hausarrest. Der Vorwurf lautet: Veruntreuung staatlicher Gelder in Millionenhöhe. Er bestreitet die Tat. Die russische Justiz sieht in einem solchen Fall hohe Geld- oder Freiheitsstrafen vor. Er darf weder das Theater betreten, noch telefonieren oder das Internet benutzen. Nach 20 Monaten wird er schließlich unter Auflagen freigelassen. Übermittelt durch weitergereichte USB-Sticks, schaffte er es trotz Arbeitsverbot in dieser Zeit eine erste Version von „Barocco“ in Moskau auf die Bühne zu bringen.

Hamburg 2023: Der inzwischen abgesetzte Intendant des weitestgehend aufgelösten Gogol Centers setze die Extravaganz des Barock in ein Verhältnis zu besonderen Menschen, die 1968 gegen Systeme revoltierten, heißt es im begleitenden Programmheft des Thalia Theaters. „Barock steht für eine unregelmäßige, schräge Perle, die nicht in eine Kette passen will – ein Bild für das Andersseinwollendürfen“, erklärt Serebrennikov.

Schräge Perle Barock

Als einprägendes Beispiel greift das Stück die Geschichte des Studenten Jan Palach auf, der sich 1969 aus Protest gegen das Diktat der Sowjetunion selbst verbrannte. Die Kombination zwischen neu arrangierten Barock-Arien – von unter anderem Bach, Händel und Monteverdi – und Palachs Kampf um Freiheit entfacht eine ungeheuere Dramatik. Trotz aller Theatralik bleibt das Stück auch deshalb so überzeugend, weil Serebrennikov sein beeindruckendes Ensemble gekonnt in Szene setzt.

Jeder Moment der mutlimedial inszenierten Performance von „Barocco“ wirkt in seiner bildlichen Ästhetik sehr plakativ, aber bis zur Perfektion ausgearbeitet. Anmutig balanciert Yang Ge auf einem schräg über dem Boden schwebenden Holzbalken. Entschlossen setzt die chinesische Sopranistin und Finalistin der russischen Version von „The Voice“ einen Fuß vor den anderen, ihre Stimme trägt sie unerschrocken bis zur Spitze. Ge war bereits Mitglied der Uraufführung des Stückes in Moskau. Weil sie nach einem Gastspiel wegen ihres chinesischen Passes nicht wieder nach Russland einreisen durfte, lebt sie nun in Berlin.

Für ein paar Minuten lässt auch Danil Orlov die Zeit stillstehen: Der musikalische Leiter des Abends sitzt an einem großen Flügel, seine rechte Hand ist an einen gleichgültig rauchenden Wachmann gefesselt. Einhändig spielt er die „Chaconne” von Bach – nichts kann ihn aufhalten.

Die Aufatmer

Die samtig helle Stimme des brasilianischen Straßensängers Jovey, den Serebrennikov während eines Spaziergangs durch den Mauerpark in Berlin entdeckte, beschert dem Publikum den bis dahin so dringend benötigten Gegenpart: Hoffnungsvollere brasilianische Klänge lassen das Publikum zumindest kurz aufatmen.

Inmitten aller Tragik gibt auch Thilo Werner als Geige und Gitarre spielender Clown eine geniale Performance: Mehrsprachig besingt er die Tatsache, dass sowieso alle Menschen sterben müssen. Zum Mitklatschen animiert, stimmen die Zuschauenden fast erleichtert mit ein.

Am Ende der große Knall

Eine Plastiktüte, die im Wind zweier Ventilatoren schwebt, erinnert an den Film „American Beauty“. Immer wieder greift Serebrennikov in „Barocco” berühmte Filmszenen auf. Einer der epischsten Blow-Ups der Filmgeschichte dient als Vorlage für das große Finale: die Explosion einer an einen wüsten Berghang gebaute Villa aus „Zabriskie Point“. Die digital animierte Explosion auf der Bühne verwandelt sämtliche Gegenstände des alltäglichen Konsumkapitalismus in kaleidoskopisch kleine bunte Teilchen. Zurück bleibt ein dumpfes Rauschen in den Ohren.

Mehrere Minuten Standing Ovations, die bis auf den letzten Platz gefüllten Ränge des Thalia Theaters beben unter dem Applaus des Publikums. Die allgegenwärtige Anspannung fällt gleichermaßen von den Gesichtern des Ensembles und der Zuschauenden.

Valerie Pfeiffer, Jahrgang 1994, träumte einst davon, für ihren Heimatverein 1.FC Köln zu spielen – im Männerkader. Beim Festkomitee Kölner Karneval machte sie eine Ausbildung zur Veranstaltungskauffrau. Dreimal half sie dabei, den Rosenmontagszug zu organisieren und trug dort dann Warnweste statt Kostüm. In Friedrichshafen studierte sie Kommunikation, Kultur und Management, und arbeitete nebenher in einer Agentur für Gesundheitskommunikation – obwohl der Karneval am Bodensee Fasching heißt. In Hamburg sieht es bei diesem Thema noch finsterer aus, trotzdem entwickelte Valerie zuletzt digitale Veranstaltungsformate für die “ZEIT”. (Kürzel: val)