Zwei Geistertunnel liegen seit den 1960er Jahren unterm Hamburger Hauptbahnhof verborgen. Dort ist noch nie ein Zug abgefahren. Das könnte sich bald ändern. Wir haben mit Menschen, die sich dort unten auskennen, über die Zukunft der Röhren unterhalten.

Das Plakat sieht mitgenommen aus: Am unteren Rand ist es eingerissen und auch sonst ist die rötliche Farbe an einigen Stellen abgewetzt. Gerade noch lesbar ist der Name Horten. Seit 1968 wird hier am Hauptbahnhof Nord für die Neueröffnung des Kaufhauses in Hamburg geworben – ein Kaufhaus, das eigentlich schon seit über 20 Jahren nicht mehr existiert.

Altes Werbeplakat vom Kaufhaus Horten im Hamburger Hauptbahnhof Nord
Seit über 55 Jahren hängt im Hauptbahnhof Nord das Werbeplakat zur Neueröffnung des Kaufhauses Horten. Copyright by unter-hamburg/Rossig

Leicht zu entdecken ist die veraltete Botschaft nicht – zumindest nicht für die Öffentlichkeit. Sie hängt an zwei verlassenen Bahnsteigen am Hamburger Hauptbahnhof. Man muss durch Gitterstäbe blicken, die mit einer Mischung aus Staub und Kohle bedeckt sind, um sie zu entdecken. Einfacher ist es da, die Fotos zu betrachten, die von den Gleisen geschossen wurden: Auf einem Plakat verblasst die Werbung für die neue Vorstellung im Zirkus Krone – Premiere im Herbst 1968. Darunter hängt ein Plakat mit der Aufschrift: „Lerne für morgen!“. Die dazugehörige Veranstaltung der Handwerkskammer Hamburgs ist datiert auf den 5. Oktober 1968.

Hamburgs Gleis Neundreiviertel

Täglich passieren rund 537.000 Menschen den Hamburger Hauptbahnhof. Damit liegt Hamburg noch vor Frankfurt am Main und München. Am wichtigen Knotenpunkt Deutschlands ist immer was los. Reisende eilen über die Bahnsteige. Koffer rattern. Mit einem lauten Zischen halten Züge am Gleis. Menschen steigen aus und ein. Pendler*innen warten vor einem Backshop. Daneben diskutiert ein Mann am Telefon. Der Geruch von Kaffee und Fast Food hängt in den Gängen. Eine Durchsage ertönt: „Zurück bleiben bitte!“. Der Hamburger Hauptbahnhof ist ein Ort der Bewegung, an dem sich Menschen und ihre Geschichten kreuzen. Ein Ort, der selten stillsteht.

Ein Blick in eine der beiden genutzten Tunnelröhren am Hauptbahnhof Nord.
Zwei der vier Tunnelröhren werden aktuell für den aktiven Bahnbetrieb genutzt. Copyright by unter-hamburg/Rossig

Unter dem hektischen Treiben liegen in der Dunkelheit zwei Geistergleise verborgen. Die Wenigsten der vorbeieilenden Fahrgäste der benachbarten U2 nehmen diese wahr. Wie ein Lost Place liegt der Tunnel unter der Erde. Aber das könnte sich bald ändern. Die vergessenen Gleise könnten für die geplante Linie der U5 reaktiviert werden.

Noch nie ist hier ein Zug abgefahren

Die Röhren entstanden in den 1960er Jahren, um weitere U-Bahnlinien zu ermöglichen. Hierfür wurden vier Tunnel im Hauptbahnhof Nord gebaut. In den mittleren beiden fährt seit 1968 die U2. Für die geplante U4 in Richtung Lurup wurden zusätzlich zwei äußere Röhren installiert, die identisch zu den beiden inneren Bahnsteigen waren – und auch die gleiche Ausstattung hatten: Beschilderung, Beleuchtung, Sitzbänke – und auch Werbeplakate. Der einzige Unterschied: Sie haben nie Gleise bekommen. Noch nie ist dort eine U-Bahn abgefahren. Die Tunnel enden ein paar Meter hinter dem Bahnsteig vor einer massiven Wand. Die leere Staatskasse als Folge der Ölkrise brachte das Projekt zum Erliegen.

Mann in Arbeitsklamotten und Brille in einem abgesperrten Bereich des Hauptbahnhofes in Hamburg
Ronald Rossig bietet für den Verein Unter Hamburg e.V. Führungen im Hamburger Untergrund an. Foto: Sophia-Maria Kohn

Ronald Rossig vom Verein Unter Hamburg e.V. kennt viele Orte, die im Hamburger Untergrund liegen. Kaufmann-Bunker, Riedemann-Mausoleum, Pesthofkeller – alle zwei Wochen bietet der Verein Rundgänge in Hamburg an.

Rossig durfte die verlassenen Bahnsteige des Hamburger Hauptbahnhofs und die dahinter liegenden Räume besichtigen. „Man sieht das ja alles gar nicht als normaler Besucher, aber am Ende gibt es noch zwei Rolltreppen, die nach oben führen“, so Rossig begeistert. Hinter dem Wandbild gebe es eine Verteilerebene und darüber eine Art Tunnelsystem mit Ausgängen zum Hauptbahnhof und zur Kunsthalle. „Das ist alles zugemacht worden, die Wege gibt es aber noch“, so Rossig weiter. Das Netz ziehe sich weiter bis zum Georgsplatz.

Zwei alte Rolltreppen mit schmalen Laufflächen, die außer Betrieb am Hamburger HAuptbahnhof sind.
Diese alte Rolltreppe ist in dem Bereich des Hamburger Hauptbahnhof, der für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich ist. Foto: unter-hamburg/Rossig

Ein Tunnel, konserviert unter einer dicken Staubschicht

Zu Beginn seien die Bahnsteige für die Öffentlichkeit noch zugänglich gewesen. Doch als Graffitis und Drogenkonsum immer mehr zunahmen, wurden die ungenutzten Bereiche mit Gitterrosten abgesperrt. Seitdem liegen die Bahnsteige wie eine Zeitkapsel unberührt dahinter.

Alte Holzsitzbänke und ein ehemaliges Wärterhäuschen sind nicht die einzigen Relikte aus der Vergangenheit: „Man findet noch die Originalbeschilderung aus den 1960er Jahren“, sagt Rossig. Auch ein Hinweis auf den Schnellbus, den es schon gar nicht mehr gebe, sei noch vorhanden. „Und ein Hinweis zur Straßenbahn, die in Hamburg 1978 eingestellt wurde“, sagt Rossig. „Es gibt auch noch Hinweise zur Kunsthalle, zur Ernst-Merck-Straße – das sind alles Ausgänge, die es auch schon gar nicht mehr gibt.“

Alte Hinweisschilder hängen noch an den ungenutzten Bahnsteigen im Hauptbahnhof Nord.
An den ungenutzten Bahnsteigen finden sich noch alte Hinweisschilder und noch weitere Zeitrelikte. Foto: unter-hamburg/Rossig

Auf den Schildern, an den gefließten Wänden, auf den Bänken – überall liegt eine bräunliche, fettige Schicht, eine Mischung aus Staub und Kohle. Der Schmutz stammt von den elektrischen Schleifern der U-Bahn, die bei der Fahrt beansprucht werden. Er setzt sich auf dem Bahnsteig ab.

Hauptbahnhof Nord und sein vergessenes Kunstwerk

Und dann gibt es da noch einen ganz besonderen Schatz: Das Kunstwerk „Hauptbahnhof Nord“ von Stephan Huber und Raimund Kummer befindet sich seit 1994 in der nördlichen Röhre.

„Objekte, die irgendwo länger als zwei, drei Jahre stehen, können zu dekorativen Möbelstücken verkommen, und verlieren ihre Kraft.”

– Raimund Kummer

Von der Decke hängen rechteckige Glasscheiben. Sie sind leicht gewölbt und in einem stählernen Tragegestell eingepasst, das sie in der Luft schweben lässt. Es scheint, als würde die Decke herunterkommen. Auch auf ihnen liegt eine dicke Staubschicht, sodass ihre blaue Farbe nur noch schemenhaft erkennbar ist. Auf dem Boden liegen in wilder Anordnung verschieden große, teils angeschlagene Sterne aus Metall. Die feuchte Luft der U-Bahntunnel hat sie rosten lassen. Weil kein Licht brennt, liegt der Großteil der 130 Sterne im Dunkeln.

Sterne aus Metall und mit abgebrochenen Spitzen liegen auf einem Gitter.
Das Kunstwerk “Hauptbahnhof Nord” wurde auch am gleichnamigen Ausstellungsort installiert. Foto: unter-hamburg/Rossig

Mit dem ursprünglich Titel „Firmament“ wurde das Kunstwerk erstmals 1991 in der Hamburger Kunsthalle ausgestellt. Ein paar Jahre später kam es dann in den Hauptbahnhof Nord und erhielt damit seinen aktuellen Titel. Damit wurde das Herabstürzen der Sterne auf eine fast dramatische Weise von den Künstlern fortgeführt, indem das „Firmament“ nochmal ein paar Etagen tiefer platziert wurde.

Inzwischen liegt das Werk seit fast 30 Jahren auf dem Bahnsteig. Die Reinigungsfirma, die anfänglich noch die Scheiben geputzt hatte, kommt schon lange nicht mehr. „Das Ganze war in einem ziemlich verwahrlosten Zustand“, beschreibt Kummer, was er bei bei seinem letzten Besuch im Dezember 2022 vorgefunden habe. Obwohl der Bahnsteig an sich nicht mehr öffentlich zugänglich ist, lässt sich das Werk heute noch aus drei unterschiedlichen Perspektiven durch die Absperrgitter betrachten: Von der Mitte und jeweils von beiden Stirnseiten des ungenutzten Bahnsteigs. Früher war zusätzlich eine Unteransicht möglich. Aber diese wurde dann mit den ehemaligen Ein- und Ausgängen verschlossen.

Sterne aus Metall liegen auf dem Boden vor einem alten Wächterhaus
Die Sterne des Kunstwerks “Hauptbahnhof Nord” liegen um ein altes Bahnwärterhaus verteilt. Foto: unter-hamburg/Rossig

„Ich würde sagen, dass die Leute heute nicht mehr wissen, dass da ein Kunstwerk ist, weil nichts darauf aufmerksam macht“, schätzt Kummer. Nur ein kleines Hinweisschild, kaum so groß wie ein DIN-A4-Blatt, nimmt Bezug. „Neulich hat uns eine Frau aus Kiel einen längeren Brief geschrieben, die sich nach dem Zustand erkundigt hat. Das fanden wir sehr schön“, so der Künstler.

Hauptbahnhof Nord 2.0

Derzeit arbeiten Kummer und Huber zusammen mit der Kulturbehörde und der Hamburger Hochbahn daran, ihr Werk wieder sichtbar zu machen. Dafür müssten die alten Lampen gegen neue ausgetauscht, die Sterne und Scheiben, aber auch der Bahnsteig selbst gereinigt werden. Zwischen abgestellten Zementsäcke und ausgebauten Zwischenwände hat sich dort einiges an Müll angesammelt. Darüber hinaus müsste die Position aller Sterne überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Und aus Sicherheitsgründen müssten die Glasscheiben abgenommen werden. Eine Menge Arbeit.

Und das vielleicht nur für wenige Jahre Sichtbarkeit: “Die beiden äußeren Röhren könnten schon bald für die geplante Linie U5 reaktiviert werden“, sagt Dennis Krämer, Sprecher der Behörde für Verkehr und Mobilitätswende. Laut Angaben der Hamburger Hochbahn entspricht das dann 24 Kilometern, 23 neue Haltestellen, einmal quer durch die Stadt von Bramfeld bis nach Stellingen. Mit der neuen Linie sollen in Zukunft täglich 270.000 Hamburger*innen noch schneller durch die Stadt kommen. „Dafür sollen zwei vorhandene, aber bisher unbenutzte Tunnelröhren verwendet werden“, sagt Dennis Krämer, Sprecher der Behörde für Verkehr und Mobilitätswende. Das habe verkehrliche, aber auch wirtschaftliche Vorteile.

Altes Plakat am Hamburger Hauptbahnhof Nord mit der Aufschrift "Lerne für morgen"
Seit einem halben Jahrhundert wirbt die Handwerkskammer Hamburg am Hauptbahnhof Nord für ihre Veranstaltung. Foto: unter-hamburg/Rossig

Raimund Kummer reagiert gelassen: „Selbst wenn unsere Arbeit nur zwei oder drei Jahre wieder sichtbar wäre, bis man den Tunnel umnutzt, wäre das okay“, sagt er. Schließlich sei der Ort nun einmal ein Bahnhofsgleis, und würde das wieder gebraucht, habe er nichts dagegen.

Falls es tatsächlich zu einer Reaktivierung der beiden Tunnelröhren kommt, wünscht sich Ronald Rossig vom Verein Unter Hamburg e.V. eine Erhaltung der historischen Relikte. „Es wäre eine Sünde, wenn man die Sachen wegschmeißen würde. Die Schilder, beispielsweise die zum Schnellbus, könnten stattdessen hinter einer Glasscheibe erhalten bleiben“, sagt er. Der Bahnhof Mönckebergstraße sei dafür ein gutes Beispiel. Dort wurden bei der Sanierung Sandsteinsäulen in Glaskästen eingehaust und mit einem Hinweisschild in den richtigen Kontext gesetzt.

Derzeit liegt noch Kohlenstaub in den Tunnelröhren. Bald könnten die Geistergleise in die Verkehrszukunft der Stadt führen.

sok

Sophia-Maria Kohn, Jahrgang 2000, hat drei unterschiedliche Falttechniken für ihre drei Sockensorten. Bei einem dreimonatigen Aufenthalt in Südafrika hat sie Kindern Handball beigebracht, ehe sie nach Sambia aufbrach – als Managerin des U17-Nationalteams (aber nur für eine Woche). Sie hat sich nicht nur auf die Socken gemacht, sondern hatte zu Hause auch früh ihren ersten Berührungspunkt mit Fink.Hamburg: Während ihres HAW-Bachelorstudiums in Medien und Information schrieb Sophia über ihre Heimatstadt aus der Perspektive Obdachloser. Handball spielt sie immer noch: bei den Frogs in Henstedt-Ulzburg in der dritten Bundesliga. (Kürzel: sok)

1 KOMMENTAR

  1. Kleine Korrektur. Die U2 fährt erst seit dem 3. JUNI 1973 auf dieser Strecke. An diesem Tag wurden die bisherigen Stummellinien U21 und U22 zur neuen U2 verbunden . Damals verkehrte sie von W. Gartenstadt über Barmbek , Hbf Nord nach Hagenbecks Tierpark. MFG

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