Herzinfarkt, Schlaganfall oder eine schwere Verletzung – wer in Not gerät, wählt die 112. Mehr als 300.000 mal rückten Rettungskräfte in Hamburg im vergangenen Jahr aus. Was immer mehr Einsätze für die Belastung vom Rettungsdienst und die Pünktlichkeit von Rettungswagen bedeuten.
Ein Beitrag von Anna Girke, Fiene Meier, Fynn Hornberg, Jolan Geusen und Moritz Löhn.
Titelbild: Anna Girke
112 angerufen – was passiert dann?
Ein Stechen in der Brust, Atemnot und ein taubes Gefühl im linken Arm. Schnell geht der Griff zum Handy. Wählt man im Raum Hamburg die 112, wird der Anruf in der Rettungsleitstelle der Feuerwehr Hamburg durch einen sogenannten Calltaker angenommen. Bei einem Brand oder einem medizinischen Notfall in Hamburg landet der Anruf immer bei der Leitstelle.
2022 gingen 507.911 Anrufe ein, 316.275-mal rückten Einsatzkräfte aus. Handelt es sich bei dem Anruf tatsächlich um einen Notfall, alarmiert der Calltaker alle erforderlichen Einsatzkräfte. Diese Einsatzkräfte löschen nicht nur Brände, sondern retten auch Personen aus dem Wasser, aus Höhen oder Tiefen und versorgen Kranke und Verletzte. Bei medizinischen Notfällen ist nicht allein der Rettungsdienst der Berufsfeuerwehr verantwortlich. Unterstützung bekommt dieser durch Hilfsorganisationen wie die Johanniter (JUH), den Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), den Malteser Hilfsdienst (MHD) oder das Deutsche Rote Kreuz (DRK). Auch private Krankentransport- und Rettungsdienstunternehmen wie Falck unterstützen bei den Einsätzen. Im Jahr 2022 wurden 41.885 von insgesamt 278.261 Rettungseinsätzen durch beauftragte Unternehmen durchgeführt. Zu den Aufgaben des Calltakers gehört auch, alternative Rettungsdienste zu koordinieren und zu alarmieren. Die Hilfsorganisationen werden zunehmend wichtiger. Ein Grund: Es gibt immer mehr Einsätze.
Steigende Einsatzzahlen beim Rettungsdienst
Im Rettungsdienst steigen nicht nur die Einsatzzahlen. Auch die Alarmierungen sind seit 2001 fast kontinuierlich nach oben gegangen. Einsatz und Alarmierung unterscheidet die Feuerwehr in ihren Jahresberichten folgendermaßen: Brennt ein Wohnhaus und die Feuerwehr erreicht ein entsprechender Notruf, wird dieses Ereignis als ein Einsatz gewertet. Zu diesem Einsatz rücken beispielsweise ein Löschfahrzeug, eine Drehleiter und ein Rettungswagen aus. Diese drei Einsatzmittel wertet die Feuerwehr als drei Alarmierungen.
2019 erlebte der Anstieg allerdings eine Zäsur. Ein Grund dafür: Das Hamburgische Rettungsdienstgesetz trat in Kraft. Durch die gesetzlichen Änderungen seien sogenannte Rettungswagenäquivalente von der Feuerwehr an die in Hamburg tätigen Hilfsorganisationen übergegangen, erklärt Feuerwehr-Pressesprecher Jan Ole Unger.
Diese Änderung ermöglichte den beauftragten Organisationen im Rettungsdienst ASB, JUH, MHD, DRK und Falck mehr Einsätze mit ihren Einsatzmitteln zu unterstützen. Die anschließende Corona-Pandemie und entsprechende Hygienemaßnahmen sorgten laut Unger dafür, dass sich die Alarmierungsanzahl 2020 noch weiter auf Vorjahresniveau bewegte. Danach stiegen die Zahlen aber wieder – und das anhaltend.
Mehr Rettungsdienst, weniger Brandschutz
Die Feuerwehr in Hamburg ist aber nicht nur damit beschäftigt Brände zu löschen, was häufig der erste Gedanke ist. „Wir sind ein Rettungsdienst, der auch Feuer ausmachen kann”, sagt Jan Ole Unger. Der Rettungsdienst bildet mit Abstand den Bereich mit den meisten Einsätzen: Bei 87,98 Prozent der Einsätze waren Feuerwehr und Beauftragte im Rettungsdienst (Hilfsorganisationen) im Jahr 2022 laut Jahresbericht im Rettungsdienst tätig. Zur technischen Hilfeleistung (z.B bei Autounfällen) oder für den Brandschutz musste die Feuerwehr demnach wesentlich seltener ausrücken.
Warum die Anzahl der Alarmierungen steigt
Die seit 2001 steigenden Alarmierungszahlen im Rettungsdienst begründet Unger mit mehreren Faktoren. Eine Ursache sei die alternde Gesellschaft. Gleichzeitig beobachte er allerdings auch eine veränderte gesellschaftliche Anspruchshaltung. Schon bei kleinen medizinischen Problemen würden die Menschen die 112 wählen.
Der Rettungsdienst werde mittlerweile beispielsweise schon wegen eines „eingewachsenen Zehnagels" gerufen. Auch dass ältere Menschen einsam seien, sei ein Faktor, der da mit hineinspiele, so Unger.
Feuerwehr oder Hilfsorganisation – Wer kommt zum Einsatz?
Hat in Altona jemand einen Herzinfarkt, kommt wahrscheinlich ein RTW von der Rettungswache Altona. Reißt sich eine Person im gleichen Stadtteil das Kreuzband, übernimmt den Einsatz eventuell eine Rettungswache aus einem anderen Gebiet. Denn nicht nur die geographische Lage ist für die Auswahl der Einsatzfahrzeuge entscheidend. Grundsätzlich wird abgewogen zwischen der Art und Dringlichkeit des Notfalls, den verfügbaren Einsatzmitteln und der Kapazität der Rettungsleitstelle.
Pünktlichkeit des Rettungsdienstes
In einer Notsituation kann sich jede Minute wie eine Ewigkeit anfühlen. Wer den Notruf wählt, hofft auf ein schnelles Eintreffen des Rettungswagens. Doch ist diese Hoffnung in Hamburg realistisch? Kommt der RTW innerhalb weniger Minuten oder müssen verletzte Personen lange auf Hilfe warten? Um diese Fragen zu beantworten, archiviert die Hamburger Feuerwehr für jeden einzelnen Stadtteil die sogenannte Erfüllungsquote Eintreffzeit im öffentlichen Rettungsdienst. Mit dieser Quote wird angegeben, in wie viel Prozent der Einsätze der RTW innerhalb von acht Minuten am Einsatzort eintraf. Was also sagt diese Quote? Wie pünktlich ist der Rettungswagen in welchem Bezirk?
Betrachtet man den Hamburger Süden fällt auf, dass die Quote in vielen Stadtteilen unter 30 Prozent liegt. Nur jeder dritte Notfall wird also in den ersten acht Minuten nach dem Notruf erreicht. Das liegt unter anderem daran, dass Feuerwehr, Hilfsorganisationen und private Anbieter in den Stadtteilen mit einer niedrigen Bevölkerungsdichte auch weniger Rettungswachen und damit einsatzfähige RTW betreiben. Im Zentrum kommt der Rettungsdienst hingegen deutlich schneller an.
Neben den fehlenden Rettungswachen ist auch die steigende Zahl der Krankentransporte verantwortlich dafür, dass der Rettungsdienst die Erfüllungsquote nicht erreicht. Bei einem Krankentransport werden Personen aus medizinischen Gründen mit einem RTW transportiert, es besteht aber kein Notfall. Je mehr Menschen auf einen solchen Transport angewiesen sind, desto weniger RTW stehen für Notfälle zur Verfügung. Das führt dazu, dass Rettungsdienste aus anderen Stadtteilen aushelfen müssen. Dadurch steigt die Anfahrtszeit.
Zu hohe Belastung beim Rettungsdienst
Die hohe Zahl an Einsätzen geht an den Beschäftigten im Rettungsdienst und der Berufsfeuerwehr nicht spurlos vorbei. In einem Strategiepapier des Hamburger Landesverbands der Deutschen Feuerwehr-Gewerkschaft heißt es: „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Leitstellen und auf den Rettungswagen stehen kurz vorm Burn-out. Die Krankheitsrate steigt. Die Frustration auch.“
Für die Einsatzkräfte ist aber nicht nur persönlicher Arbeitstress eine Belastung. Stefan Oppermann berichtet zudem von einer steigenden Aggressivität gegenüber Einsatzkräften. Der Mediziner hat neun Jahre als ärztlicher Leiter Rettungsdienst bei der Feuerwehr Hamburg gearbeitet. Heute ist Oppermann Professor für Rettungswesen und Gefahrenmanagement an der HAW Hamburg und stellvertretender ärztlicher Leiter eines Notarztstandortes in Rostock.
Der Rettungswagen kommt beim Notruf pünktlich und genügend Sanitäter*innen sind vor Ort; so sollte es idealerweise sein. Aber ist eine Wache nicht voll besetzt, kann die Anfahrtszeit für den RTW länger dauern. Und in Hamburg herrscht Personalmangel: Die Kampagne der deutschen Feuerwehr-Gewerkschaft „Rettet den Rettungsdienst” weist auf eine Überlastung der Fachkräfte hin und das "Hamburger Abendblatt" berichtet im Juni 2023 von vielen, langfristigen Krankmeldungen in Führungspositionen bei der Feuerwehr. Auch die Agentur für Arbeit meldet beim Rettungsdienst deutschlandweit einen großen Engpass an Fachkräften, gemessen an der Zeit, wie lange Stellen unbesetzt bleiben. Im Durchschnitt braucht es deutschlandweit 76 Tage, bis eine freie Stelle besetzt ist. Bei Berufen ohne Engpass geht das schneller, da sind es im Durchschnitt 40 Tage. Für Hamburg im Speziellen gibt es dazu allerdings keine Daten.
Für den Personalmangel gibt es viele Gründe, allein das macht die Lösung schwierig: Entscheidungen über Arbeitskräftebedarf, Gelder und Ausbildungsplätze liegen bei den Leitstellen, beim Senat oder bei den Krankenkassen. Zudem sind die Rettungskräfte bei Hilfsorganisationen, privaten Anbietern und nicht zuletzt bei der Feuerwehr selbst angestellt.
Der Rettungsdienst hat keine Reserven
Laut Oppermann hat der Personalmangel „erhebliche Auswirkungen” auf den Rettungsdienst. Die Corona-Pandemie hätte den Mangel verstärkt und den Rettungsdienst hart getroffen. „Wir haben keine Reserven mehr”, sagt er. Einige Rettungskräfte waren krank, andere mussten sich zur Sicherheit wegen Corona isolieren.
Ein weiterer Grund für den Personalmangel ist laut Oppermann, dass viele Angestellte das Unternehmen wechseln. Die Belastung bei der Feuerwehr sei einfach zu hoch: Steigende Einsatzzahlen würden bei vielen zur Überarbeitung führen – und zu einem Wechsel zu sogenannten Dornröschen-Wachen. Das sind Wachen, die weniger Einsätze und dementsprechend weniger Arbeitsstress haben, beispielsweise auf dem Land.
Freiwillige Feuerwehr ist nur kurzfristige Hilfe
Arbeitsstress und Überstunden kritisiert auch die deutsche Feuerwehr-Gewerkschaft: „Wochenarbeitszeiten von 48 Stunden oder mehr sind keine Ausnahme, sondern eher die Regel”, steht es in dem Papier „Rettet den Rettungsdienst”. Weil die Arbeitszeit regelmäßig verlängert wird, gäbe es viele Kündigungen und eine Verschärfung der Personalnot. Insgesamt bleibt verbeamtetes Personal aber länger auf den Posten als Tarifbeschäftigte. Aber: Beamt*innen gehen mit 63 Jahren vier Jahre früher in Rente als die Kolleg*innen im öffentlichen Dienst.
Auch wenn mittlerweile „genügend Leute nachkommen”, so Oppermann, dauert es zu lange, bis das nachgefragte Personal im Rettungsdienst arbeitet: Die Entscheidung zu neuem Personal gehe „über viele Tische und durch viele Hände". Man könne nicht mal eben neue Notfallsanitäter aus dem Ärmel schütteln. Die Freiwillige Feuerwehr sei da nur eine kurzfristige Hilfe, eine Notmaßnahme. „Wir müssen den Standard halten, es braucht gelernte Rettungssanitäter”, sagt Oppermann.
Wer bezahlt den Einsatz vom Rettungsdienst?
Krankenkassen, die Stadt Hamburg, der Bund und die Feuerwehr sind nur ein paar der vielen Akteure, die in die Finanzierung eingebunden sind. Dabei lässt sich aber in Feuerwehr und Rettungsdienst trennen. Grundsätzlich wird die Feuerwehr durch die Feuerschutzsteuer finanziert. Diese zahlt jede*r Bürger*in in Deutschland. Sie ist in der Verkehrssteuer inbegriffen. Die gesamten Gelder aus der Feuerschutzsteuer, also von allen Bundesländern werden dann von der Finanzbehörde Hamburg auf die unterschiedlichen Bundesländer verteilt, so ist es im Feuerschutzgesetz geregelt. Einige Bundesländer greifen zusätzlich auf Gelder aus dem allgemeinen Haushalt zurück.
Beim Rettungsdienst übernehmen die Kommunen bzw. in vielen Fällen die Krankenkassen die Kosten. Ein Kostenteil für die Krankenkassen sind dabei die Einsatzfahrten des Rettungsdiensts. Dabei ist es nicht relevant, ob zu dem Hausbrand ein Rettungswagen der Feuerwehr ausrückt oder von einem privaten Notfallrettungsdienstunternehmen. Fakt ist: Wer den Einsatz fährt, stellt die entstandenen Kosten gegenüber der Kommune in Rechnung. Liegt eine medizinische Notwendigkeit vor, übernimmt die Krankenkasse die Kosten.
Die Rolle der Krankenkassen
Wird eine Person ins Krankenhaus eingeliefert, schickt der zuständige Rettungsdienst die Rechnung direkt an die Patient*innen – wenn sie privat versichert sind. Sie reichen die Kosten dann bei der Krankenkasse ein. Wenn Patient*innen gesetzlich versichert sind, geht die Rechnung direkt an die zuständige Krankenkasse. Außer der Einsatz war medizinisch nicht notwendig oder der Notruf wurde zum Beispiel missbraucht. Auch Krankentransporte übernimmt die Krankenkasse finanziell.
Darüber hinaus tragen die Krankenkassen bei der Feuerwehr teilweise die Ausbildungskosten der Rettungssanitäter*innen. Dies gilt beispielsweise für Nordrhein-Westfalen. In jedem Bundesland gibt es unterschiedliche Regelungen. In Hamburg werden die "Ausbildungskosten ebenso wie die Ausbildungsvergütung beziehungsweise Besoldung während des Vorbereitungsdienstes durch die Ausbilderin beziehungsweise den Dienstherrn" getragen, in diesem Fall die Innenbehörde. Das erklärt die Feuerwehr Hamburg auf FINK.HAMBURG-Anfrage. Die Ausbildung der Rettungssanitäter*innen dauert drei Monate, wohingegen Notfallsanitäter*innen drei Jahre ausgebildet werden. Hier gestaltet sich die Finanzierung in Hamburg komplexer. Die Krankenkassen sind allerdings teilweise durch eine Gebührenverordnung mit daran beteiligt, die Aus- und Weiterbildungskosten zu übernehmen, wie aus Paragraph 18 des Hamburgischen Rettungsdienstgesetz hervorgeht.
Entstandene Kosten im Rettungsdienst und der Gesamthaushalt der Feuerwehr stehen in enger Verbindung. Der Trend ist offensichtlich: Der Gesamthaushalt der Feuerwehr ist in den letzten Jahren angestiegen und hat sich in vier Jahren fast verdoppelt. Ähnlich verhält es sich mit den Gebühren für die Rettungsdiensteinsätze. Darin spiegeln sich auch die gestiegenen Einsatzzahlen wider. Lediglich in 2017 und 2018 ist nur ein minimaler Anstieg um 1,59 Millionen Euro zu verzeichnen. Wohingegen in 2019 die Gebühren der Rettungsdiensteinsätze um knapp 18 Millionen Euro gestiegen sind.
So kann der Rettungsdienst entlastet werden
Rettungswagen sind also ein kostbares Gut, das effizient eingesetzt werden sollte. Ein Aspekt, bei dem die Gesellschaft zusammenarbeiten müsse, so Oppermann. Es brauche die richtigen Strukturen im Rettungsdienst. Er appelliert an die Gesellschaft: „Der Rettungsdienst kommt am Ende, um herauszufinden, was das Problem ist und es braucht eine Gesellschaft, die mit der Notrufnummer 112 sensibel umgeht.”
Die Hamburger CDU stellte bereits im vergangenen Jahr in einem Antrag an die Bürgerschaft ein mögliches Modell vor: den sogenannten Hanse-Sanitäter nach Bremer Vorbild. Der Hanse-Sani ist ein Fahrzeug, besetzt mit einem oder zwei Notfallsanitäter oder Rettungssanitäter, erklärt Jan-Ole Unger von der Feuerwehr Hamburg. Man habe ganz viele Fälle, die sich als Betreuungssituationen herausstellen und wo ein einfacher Ansprechpartner fehle. Der Feuerwehr und den Hilfsorganisationen bleibt häufig nur die Wahl zwischen Rettungswagen schicken oder nicht. Die Hanse-Sani-Einheit könnte das beheben und das Rettungswesen entlasten. Damit die Rettungskräfte dann nicht mehr an anderer Stelle fehlen, wo sie wirklich gebraucht werden.
Wenn Jolan Geusen, Jahrgang 2000, nicht gerade Tofuhack-Bolognese kocht, hört er Fußball-Podcasts. Seit einem Kreuzbandriss fährt er allerdings Rad, statt zu kicken. Als Kind wollte er Archäologe werden, entschied sich dann aber zum Studium der Politik- und Medienwissenschaft in Bonn. Journalistische Erfahrung sammelte er beim ARD MoMa, nebenbei arbeitet Jolan als freier Mitarbeiter beim „Bonner Generalanzeiger“. Der gebürtige Eifler kann bei 150 “Drei ???”-Folgen anhand der ersten 20 Sekunden den Titel benennen. Bis heute würde er gern einmal ein Bier mit den Sprechern der drei Detektive trinken. (Kürzel: lan)