Jede Woche parkt das Zahnmobil der Caritas vor der Hamburger Bahnhofsmission. Hier werden Menschen mit Zahnbeschwerden behandelt. Ob sie krankenversichert sind, ist dafür nicht relevant. Ein Besuch vor Ort.
Illustration: Philine Dorenbusch
Fotos: Sophie Rausch
Es regnet und stürmt an diesem Mittwochmorgen in der Hansestadt. Vor dem Bahnhof warten Taxifahrer*innen auf ihre Kundschaft – die heute entweder besonders rar oder besonders zahlreich ausfallen wird: Der Bahnverkehr wird bestreikt.
Unbeeindruckt von der chaotischen Umgebung zeigt sich ein weißen Fahrzeug, das vor der Bahnhofsmission parkt. „Zahnmobil“ steht in großen schwarzen Buchstaben auf der Seite des Lasters geschrieben. Dazu noch der Slogan eines Unternehmens für Zahnhygiene, das das Zahnmobil finanziell unterstützt. Jede Woche steht das weiße Fahrzeug der Caritas vor dem Hamburger Hauptbahnhof. Es ist bei Zahnbeschwerden die Anlaufstelle für Menschen ohne Krankenversicherung, darunter Menschen ohne Aufenthaltsstatus und Wohnungslose.
Medizinische Grundversorgung, nicht mehr
Im Zahnmobil werden alle Menschen mit Zahnbeschwerden behandelt – von der lockeren Wurzel nach einem Sturz bis zum fies zwickenden Karies. Der Fokus liegt auf der medizinischen Grundversorgung. Dazu zählen: Zähne ziehen, Zähne bohren und Füllungen behandeln. Schmerzmedikamente gibt es erst, wenn ein fachärztlicher Blick auf die Zähne geworfen wurde.
Es ist kurz nach neun. Eine Frau mit weißem Kittel, Handschuhen und Mundschutz öffnet die Hecktür des Fahrzeugs. In der Mitte des Wagens steht ein Zahnarztstuhl, daneben ein Waschbecken und zwei Drehhocker für die Zahnärztin und ihre zahnmedizinische Fachangestellte. Die Ausstattung ist schlicht genug, um in einen Krankenwagen zu passen.
Zahnärztin Celia Kraft-Wolff bittet den ersten Patienten in die mobile Praxis. Die Tür wird geschlossen, die Behandlung beginnt. Durch die verdunkelten Fenster ist von außen nichts zu erkennen. Diskrete Behandlung.
Hilfe ohne Versicherungsschutz
Währenddessen steht Torsten Woelk – lange weiße Haare, super kleine Sonnenbrille – mit einem Klemmbrett in der Hand vor dem Mobil und stellt den nächsten Patient*innen Fragen. „Waren Sie schon einmal bei uns oder sind sie zum ersten Mal da?“ Eine Versicherungskarte muss niemand vorlegen. Den gebürtigen Hamburger interessiert nur, ob Vorerkrankungen, Allergien oder Infektionserkrankungen bekannt sind und ob die Patient*innen Medikamente nehmen. Nicht alle, die vor dem Zahnmobil auf eine Behandlung warten, sprechen Deutsch. Die Kommunikation ist daher nicht immer einfach.
Im Innenraum dauert die Untersuchung keine fünf Minuten. Alles, was von außen zu hören ist, ist das Abpumpen des Waschbeckens. Der erste Patient verlässt das Mobil, der nächste tritt hinein. Die Tür wird vom Wind mit einem lauten Knall zugeschlagen.
Zahnärztin Kraft-Wolff arbeitet an diesem Tag gemeinsam mit Tanja Wieland-Lieb. Die beiden können in einer Schicht bis zu zwölf Personen behandeln.
23 ehrenamtliche Zahnärzte
Das Zahnmobil der Caritas war 2008 das erste dieser Art in Deutschland. Seit 2016 ist auch das Deutsche Rote Kreuz mit einem Mobil in der Hansestadt unterwegs.
Der allgemeinmedizinischen Versorgung hat sich die Caritas Hamburg seit fast 30 Jahren verschrieben. Die Idee für ein separates Zahnmobil sei aus dem Bedarf heraus entstanden, erzählt Woelk während einer Zigarettenpause. Zunächst fuhren ehrenamtliche Zahnärzt*innen mit dem Krankenmobil mit. Ein Krankenmobil ist eine rollende allgemeinmedizinische Praxis, in der Pflegekräfte und ehrenamtliche Ärzt*innen arbeiten. Die dentale Behandlung dauerte aber im Krankenmobil deutlich länger, weshalb ein eigenes Fahrzeug her musste, erzählt Woelk weiter.
Seit mehr als 15 Jahren rollt die spendenfinanzierte Praxis nach einem festen Tourplan durch die Stadt und steht mittwochs und donnerstags vor der Bahnhofsmission und der Alimaus, einer Tagesstätte für obdachlose und bedürftige Menschen am Nobistor. 23 ehrenamtliche Zahnärzt*innen engagieren sich derzeit für das Zahnmobil. Durch die Pandemie seien viele ältere Kolleg*innen weggefallen und viele jüngere nachgekommen, erzählt Wieland-Lieb am Morgen auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Nur noch ungefähr ein Drittel der Behandler*innen seien im Rentenalter. Das vierköpfige Team von zahnmedizinischen Fachangestellten ist im Gegensatz zu den Ärzt*innen bei der Caritas angestellt – genauso wie Woelk, der die Leitung des Zahnmobils vertritt und auch Prophylaxe-Touren für Kinder koordiniert.
Zu große Angst vor der Nadel
Eine Person läuft mit einem großen Seesack auf dem Rücken auf das Zahnmobil zu. Die Wange ist dick, die Schmerzen vermutlich groß. Woelk erklärt, dass es Schmerzmittel erst nach einer Behandlung gibt. Der Patient geht ins Mobil. Erfolgreich war diese Behandlung allerdings nicht – die Angst vor der Nadel zu groß. Er wird wiederkommen, meint Woelk. Der Schmerz würde nicht vergehen und schmerzlindernde Mittel können nur kurzfristig helfen.
Mehr als Schwerpunktbehandlungen können im Zahnmobil nicht gemacht werden. Größere Eingriffe werden seit 2016 in der hauseigenen Zahnambulanz in St. Pauli durchgeführt. Da sich auch zwei Kieferchirurg*innen im Team engagieren, können dort auch Weisheitszähne gezogen werden. Einer der wichtigsten Unterstützer der Zahnambulanz ist das Hamburger Unternehmen Böger Zahntechnik. Dadurch ist in der Ambulanz auch ein herausnehmbarer Zahnersatz in einem begrenzten Umfang realisierbar, erzählt Woelk weiter.
Von der Praxis ins Zahnmobil
Das Behandlungsteam Kraft-Wolff und Wieland-Lieb haben an diesem Vormittag im Zahnmobil viel zu tun. Außerhalb des Fahrzeugs sieht man sie kaum. Nach ungefähr zwei Stunden gibt es etwas Zeit zum Durchatmen. Kraft-Wolff holt eine Tüte mit Berlinern heraus und teilt das Gebäck. Das Verhältnis ist herzlich. Sie kennen sich schon jahrelang. Wieland-Lieb und Kraft-Wolff sind beide von Beginn an dabei.
„Mein Sohn musste ein Sozialpraktikum in der Schule machen und hat sich das Krankenmobil ausgesucht“, so Kraft-Wolff. Zu der Zeit sei auch eine Zahnärztin mit an Bord gewesen und er zeigte sich begeistert von ihrer Arbeit. „Er kam nach Hause und meinte, da könne ich mich doch melden und auch helfen. Ein halbes Jahr später kam das Zahnmobil und da bin ich direkt eingestiegen“, erzählt sie weiter. Einige Jahre engagierte sie sich parallel zu ihrer eigenen Praxis in der Rothenbaumchaussee. Hier im Mobil habe sie keine Verwaltungsaufgaben gehabt und konnte einfach das machen, was sie gut kann: Zähne versorgen.
Ein großes Stück Lebensqualität
Während Wieland-Lieb und Kraft-Wolff im Mobil weiter ihrer Arbeit nachgehen, erzählt Woelk vor dem Mobil, dass den Menschen durch das Wegfallen der Zahnschmerzen ein großes Stück Lebensqualität zurückgeben werde. Außerdem bekämen die Patient*innen hier ein Stück Würde zurück. „Menschen, die auf der Straße leben, erfahren unheimlich viel Ablehnung. Keiner möchte sich gerne mit ihnen auseinandersetzen. Das ist bei uns anders. Sie werden hier mit offenen Armen empfangen“, sagt Woelk. „Hier können sie auch mal ein persönliches Wort loswerden“, fügt er hinzu.
Rente ist nicht nur Golf und Kreuzfahrt
Das Team des Zahnmobils will mit seiner Arbeit der Gesellschaft etwas zurückgeben. Wieland-Lieb schätzt es, zu wissen, dass sie durch ihre Krankenversicherung immer behandelt werden wird. Sie sagt: „Wenn ich Schmerzen habe, kann ich den Notdienst anrufen. Unsere Patient*innen müssen warten, bis wir kommen. Hier zu arbeiten ist das, was ich seit 16 Jahren geben kann.“
Dem schließt sich Woelk an: „Ich habe ein sehr reiches Leben gehabt, mit sehr vielen schönen Erfahrungen.“ Er wisse, dass es viele Menschen gebe, denen es nicht so gut gehe. Und genau deshalb arbeite er hier. Celia Kraft-Wolff habe Zeit als Rentnerin und kriege hier einen Dank für ihre Arbeit zurück. „Das Rentnersein ist nicht nur Kreuzfahrtschiff und Golf. Und außerdem hat die Woche noch viele Stunden, in denen ich meine privaten Dinge machen kann“, sagt sie mit einem Lächeln.
Die drei werden gegen zwölf Uhr ihre Sachen zusammenpacken und das Mobil in Richtung St. Pauli fahren. Die Instrumente und Materialien müssen aufgefüllt werden. Nach einer kurzen Mittagspause stehen sie dann erneut für zwei Stunden vor der Bahnhofsmission.
Sophie Rausch, Jahrgang 1997, fühlt sich der Chemnitzer Band Kraftklub nicht nur musikalisch verbunden: Ihre Bachelorarbeit behandelt die Darstellung Ostdeutscher in “Spiegel” und “Zeit”, sie selbst stammt aus Brandenburg. In Bamberg studierte sie Kommunikationswissenschaft, Politologie und jüdische Studien. In Israel arbeitete sie in einem Wohnheim für autistische Menschen. Bei der Studierendenzeitschrift “Ottfried” war Sophie Chefredakteurin, privat wechselt sie ständig die Hobbys: Mal stickt sie, mal stellt sie Schmuck her, mal macht sie Badvorleger – der größte war so groß wie ein Topflappen. Kürzel: rau