Die Taumelboys, Root und ANDATA: Fünf Hamburger DJs berichten über Nächte hinter den Decks, Pizzakartons, die sich im WG-Zimmer stapeln und wie sie den Einstieg in die Branche geschafft haben.
Eine Reportage von Maria Mierzwa und Noah Al-Maboren
Hamburg, Gängeviertel: Die Bässe wummern, die Lichter flackern, zahlreiche Menschen bewegen sich im Takt. Wenn Paul und Melvin, bekannt als die Taumelboys, auflegen, haben sie die Menge im Griff. Vor ihnen steht ein Pult mit einer Vielzahl an Knöpfen und Reglern. Euphorisch reißen beide die Arme in die Luft, die Menge tobt, der Boden bebt. Der Geruch von Schweiß und Rauch liegt in der Luft. „Dieses Gefühl übertrifft fast alles“, sagt Paul, während er zu seiner Bierflasche greift.
Ihr Arbeitsplatz ist auf der Party
In Deutschland gibt es laut Schätzungen des Berufsverbands Discjockey (BvD) bis zu 30.000 DJs. Weit weniger als die Hälfte kann vom Auflegen leben, die meisten arbeiten nebenberuflich. Paul und Melvin sind zwei davon: Nacht für Nacht legen sie in Hamburgs Clubs auf und liefern den Soundtrack für durchtanzte Nächte.
Dieser Beitrag ist im Rahmen des Bachelorseminars “Digitale Kommunikation” an der HAW Hamburg entstanden und wurde ausgewählt, um auf FINK.HAMBURG veröffentlicht zu werden.
Neben Berlin ist Hamburg eine der Szenestädte Deutschlands mit einer umfassenden Clubkultur. Der Kiez, die Sternbrücke und das Gängeviertel sind nur einige der zahllosen Möglichkeiten, um bis zum Morgengrauen durchzutanzen. Letztendlich ist es die Musik, die die Leute in eine andere Welt eintauchen lässt. Doch wer legt dort auf? Wer sorgt für die Stimmung? Und wie wird man überhaupt DJ?
Die Anfänge der Taumelboys
Bei den Taumelboys begann alles mit dem gemeinsamen Interesse an Techno. Paul und Melvin besuchten regelmäßig zusammen Raves. „Irgendwann hat Paul sich ein kleines Mischpult geholt, aber da dachten wir noch nicht, dass wir DJs werden“, sagt Melvin. Der entscheidende Wendepunkt kam, als Paul ein Set von Øtta auf Youtube entdeckte, einer portugiesischen Produzentin und Techno-DJ. „Ich saß da und hatte Tränen in den Augen“, sagt er.
Von da an haben Paul und Melvin Nacht für Nacht geübt – in Pauls Zimmer in seiner WG und später in einem Studio in Bahrenfeld. Wer als DJ anfangen möchte, braucht kein eigenes Equipment. Gerade in Hamburg gibt es zahlreiche Räume, in denen man günstig üben kann. Melvin und Paul starteten nach wenigen Monaten als Taumelboys durch: mit neun Gigs in acht Monaten, beginnend im April 2023.
Das Kollektiv Bangerfabrique als Sprungbrett
Auch bei der 24-jährigen Roof ging es schnell los. Wer mit ihr unterwegs ist, hört ihre Playlists. Und das war auch damals schon so. Keine Feier ohne Roofs begehrte Song-Sammlung. Da war selbst aufzulegen nur logische Konsequenz. Ihren Fokus setzte Roof auf südnigerianische Tunes, ist aber auch mit Afrohouse vertraut. Damit trifft sie den Geist der Zeit – aber mit „Twist“, wie sie sagt.
Sie schloss sich dem Kollektiv Bangerfabrique an und legte erstmals bei der Fusion 2023 auf, einem der renommiertesten deutschen Musikfestivals für elektronische Musik. Ein Kollektiv ist eine Gruppe von DJs, Produzenten und Kreativen, die ihre Ressourcen teilen, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Oft erleichtert das neuen Künstler*innen den Start in der Szene.
Vom Tennisprofi zum Techno-DJ
Für Dennis und Maxi vom DJ Duo ANDATA begann die Reise auf unerwartete Weise. Dennis spielte in seiner Kindheit und Jugend professionell Tennis. „Alles drehte sich um den Sport“, so der 26-Jährige. Er brauchte einen Ausgleich und so kam er mit 15 Jahren zur Musik. Es dauerte nicht lange, bis sein langjähriger Tennisfreund Maxi dazustieß.
Tag und Nacht übten die beiden an ihren Skills. Die Pizzakartons stapelten sich in Maxis Zimmer, ein leerer Bierkasten reihte sich an den nächsten. Am nächsten Morgen schwarze Augenringe und dann das Ganze von vorne. Wochenlang. „Es war aber nie zufriedenstellend“, meint Dennis. Auch das Betteln bei Clubbesitzern, tagsüber üben zu dürfen, gehörte dazu. Erst nach drei Jahren veröffentlichte ANDATA ihren ersten Track. Der erste große Erfolg: Ein DJ-Antoine-Remix, welcher eine halbe Million Aufrufe auf Soundcloud erzielte.
Die Bedeutung von Networking
„Um sich zu etablieren, muss man beim Feiern Kontakte knüpfen“, sagt Dennis von ANDATA. Auch die Taumelboys fanden so ihren Platz in der Hamburger Szene. Beim “Techno Tischtennis” im PAL lernten sie andere DJs kennen; entdeckt wurden sie beim Format “Open Decks” im Frau Holle. „Unser erster bezahlter Gig im DOT war ein Wendepunkt“, erinnert sich Paul. Ab diesem Zeitpunkt folgten regelmäßig Gigs.
ANDATA haben ihr Hobby vor zwei Jahren zum Beruf gemacht. Mittlerweile haben sie im Uebel und Gefährlich ihre eigene Techno-Veranstaltung. Im vierten Stock des Bunkers auf dem Heiligengeistfeld heißt es regelmäßig: Abtauchen in eine andere Welt. Wenn ihre riesige Freundesgruppe dabei ist, feiern sie bis in die Morgenstunden. „Das kann keine Droge der Welt ersetzen, wenn man auf der Bühne steht und die Leute wegen dir gekommen sind“, sagt Dennis.
Flexibilität und Spontanität sind Voraussetzungen
Doch die Tätigkeit als DJ bringt auch Herausforderungen mit sich. Plötzlich wird man angerufen und der Gig in zwei Stunden wird einem abgesagt. Zu kurzfristigen Planänderungen kommen falsche Versprechungen und das ständige Wachstum der Szene dazu. Trotzdem gebe es besonders in Hamburg eine starke Unterstützung untereinander, bestätigen alle befragten DJs. „Man unterstützt sich gegenseitig, egal was für eine Musikrichtung man macht“, so Dennis.
Berühmtheit steigert die Gage
Die Verdienstunterschiede zwischen DJs sind groß: von 100 Euro bis zu einigen Tausend an einem Abend. Das hängt damit zusammen, wie und wo der DJ auflegt. Allein mit dem Abspielen von Musik macht niemand so viel Geld. „Die Arbeit geht weit über das Auflegen hinaus“, sagt Dennis. Die Großen der Branche gehen mit Sängern ins Studio, produzieren eigene Songs und haben ihr eigenes Plattenlabel. Und ANDATA ist davon nicht weit entfernt.
Der deutschlandweite Erfolg brachte ihnen internationale Gigs sowie ein verlockendes Angebot aus den USA ein. Müsste man Dennis’ Leben zu dieser Zeit beschreiben, würde es dem glamourösen DJ-Lifestyle aus Filmen ähneln: Auftritte in Los Angeles und Las Vegas, Striptease in der Limousine, teure Hotels und eine Aftershowparty nach der anderen standen auf dem Plan. „Ultra Records, ein renommiertes, amerikanisches Label, wollte uns zu den nächsten großen deutschen Stars machen“, erinnert sich Dennis. Auch bekannte Artists wie Felix Jaehn, Robin Schulz und David Guetta waren dort bereits unter Vertrag.
Doch die beiden entschieden sich dagegen. Sie hatten genug von kommerzieller Musik und wollten sich weiter auf ihre individuellen Technobeats konzentrieren. „Dieses Copy und Paste war nichts für uns“, so Dennis. Gebe es einen Hype in der Musikindustrie, würden alle Labels das Gleiche machen. Jegliche Kreativität gehe verloren. Seitdem produzieren die beiden erfolgreich eigene Tracks und haben kürzlich ihr eigenes Modelabel gegründet.
Timing ist das A und O
„Du musst auf die Leute schauen und für sie auflegen“, so Roof. „Schließlich bringt es keinem was, wenn die Leute nach zwei Tagen Festival schon so kaputt sind und du komplett eskalierst“, beschreibt Dennis eine bekannte Situation. „Es macht Sinn, sich einen Einstieg zurechtzulegen, aber danach muss man schauen, welchen Vibe die Leute fühlen“, sagt er.
Die Stille danach
Wenn Roof nach einer langen Nacht die Regler herunterdreht und die Musik verstummt, verliert der Club im hellen Licht seinen Zauber. Bierreste und leere Flaschen sind auf dem Boden verteilt. Im Morgenlicht packen die letzten Gäste ihre Sachen zusammen und verschwinden erschöpft und verschwitzt, aber mit einem Lächeln im Gesicht, raus in die frische Luft. „Nach so einer Nacht kann man es kaum abwarten, wieder aufzulegen“, sagt Roof und klappt ihren Laptop zu.