Stadt trifft Stall: Seit fast 40 Jahren versteckt sich mitten in Ottensen ein kleiner Hühnerhof – und zeigt Hamburg von seiner ländlichen Seite. Ein Tag im Gehege, das aus Altona nicht mehr wegzudenken ist.

Sirany Schümann kippt gerade Stroh und Futterreste in die Komposttonne, als hinter ihr ein unverkennbarer Schrei ertönt. Laut, schrill, alarmierend. Oskar, der Hahn im Korb. „Aktuell ist er wirklich zu aktiv“, wird Schümanns Partner, Dino von Wintersdorff, später sagen. Zunächst läuft die 36-Jährige aber zum Gehege, das nur ein paar Schritte vom Kompostbereich entfernt liegt, und klappt die Zauntür hinter sich zu. Schließlich soll keines der 23 Hühner dem Hühnerhof Motte entfliehen.

Warum sollten die Hühner auch fliehen? Das Gelände in der Mottenburger Hühnertwiete ist einen kleines Stück Land im urbanen Ottensen und bietet ihnen ein Zuhause – seit fast 40 Jahren. Im April 1986 mietete eine Baugewerbeschule eine 400 Quadratmeter große Brachfläche in der Rothestraße an. Wenig später entstand dort ein kleines Hühnerhaus, ausgestattet mit Lehmwänden und einem Gründach. Als die Stadt das Gelände bebauen wollte, regte sich Protest. Mit Erfolg: Der Hühnerhof wurde zum Symbol zivilen Widerstands und durfte bleiben – bis heute.

Hühnerhof Motte belebt den Stadtteil

Zu verdanken ist das vor allem der Motte, einem Ottensener Verein für Kultur- und Sozialarbeit. Ein Teil der Mitglieder kümmert sich um den Hühnerhof und dessen Finanzierung, die über Spenden, Lebensmitteleinnahmen und Preisgelder läuft. Andere versorgen die Bienenstöcke, die heute ebenfalls zum Hof gehören. Das gemeinsame Ziel: „eine Sensibilisierung der Besucher im Umgang mit Tieren, tierischen Produkten und eine Rückbesinnung auf alternative Lebensformen“, heißt es auf der Website. Und das wird angenommen: Mittlerweile ist der Hof ein fester Bestandteil Ottensens und Anziehungspunkt für viele Hamburger*innen.

Blick durch die Gitterstäbe am Hühnerhof Motte.
Der Hühnerhof Motte in Ottensen zwischen Mehrfamilienhäusern. Foto: Sebastian Geschwill

Wer den Hof besucht, gelangt über einen schmalen Weg zwischen hohen Wohnhäusern in die Mottenburger Hühnertwiete. Schon vermischt sich die Stadtluft mit einem Duft von feuchter Erde und Stall, von Tieren und Kot, von Mist und Leben. Der Geruch kommt von rechts, wo ein Metallzaun den Hühnerhof umschließt. Vor ihm stehen zwei Familien. Die Kinder pressen ihr Gesicht an die Gitterstäbe und beobachten ein pickendes Huhn. Oder Sirany Schümann, die in erdbefleckten Sneakern und einem gelben Hoodie gerade aus dem Hühnerhaus kommt.

Die Kinder sind heute nicht die ersten Gäste; samstags ist immer viel los. Seit 11 Uhr arbeitet das Paar auf dem Hof – gemeinsam mit Hanna Winter, einer weiteren Ehrenamtlichen. Werktags teilen sich die insgesamt 15 Freiwilligen das Grundprogramm: Hühner füttern, Trinkwasser kontrollieren, groben Schmutz entfernen. Auch ein schneller Gesundheitscheck gehört dazu.

Hühnerhof Motte bietet Eierautomaten an

Am Wochenende ist mehr Zeit für die größeren Aufgaben. Wie etwa: „Kackwannen putzen“, sagt von Wintersdorff, der mit Gummistiefeln, Kappe und Dreitagebart über den Hof stapft. Die grauen „Kackwannen” stehen unter den Sitz- und Schlafstangen der Hühner und fangen dort den Kot auf. Heute sind die Behälter schon gesäubert, lehnen an einem Baum und trocknen im Sonnenschein. Die Bienentränke – ein runder Holzbottich für die hofeigenen Bienen – ist ebenfalls wieder sauber.

„Es gibt eben immer etwas zu tun“, sagt Hanna Winter und hievt die Tränke unter die Schwengelpumpe des Brunnens. Mit kräftigen Zügen beginnt sie zu pumpen, der Bottich füllt sich. Einige Tropfen spritzen auf Winters Arbeitshose, zu der sie ein lockeres blau-weiß-gestreiftes Oberteil trägt, die Haare zu einem festen Dutt gebunden. Um sie herum wuseln Hühner, Kinder springen über den Hof – begleitet vom permanenten Surren der Bienenstöcke, zu denen Winter die volle Tränke zurückbringt.

Porträt von Mitarbeiter am Hühnerhof Motte mit Huhn auf seinem Arm
Dino von Wintersdorff ist einer von 15 Mitarbeiter*innen am Hühnerhof Motte. Foto: Sebastian Geschwill

Neben kleinen Honiggläsern verkauft der Hühnerhof vor allem frische Eier. Da von Wintersdorff weitgehend und Schümann komplett auf Tierprodukte verzichtet, machen sie sich keine Gedanken um den Eierpreis. Der liegt am Hühnerhof Motte aktuell bei 50 Cent pro Stück. Bundesweit hat der Durchschnittspreis im Vergleich zum Vorjahresmonat um 3,3 Prozent (Stand: Mai 2025) angezogen, wie das Statistische Bundesamt vermeldet. Nach Angaben der Verbraucherzentrale ist zuletzt auch das Angebot gestiegen – und noch mehr die Nachfrage.

Das zeigt ein Blick in den mittlerweile leergekauften Eierautomaten. Heute gab es nur knapp zehn Stück, weil die Hühner nur jeden zweiten oder dritten Tag ein Ei legen. „Supermärkten können wir damit natürlich keine Konkurrenz machen, wir haben dauerhafte Eierknappheit“, sagt von Wintersdorff und schmunzelt. Eine Anspielung auf die USA, wo Eier seit Ende 2024 zum Luxusgut geworden sind.

Oskar, Pediküre und ganz viel Platz

Dann gibt es wieder einen Aufschrei. Gefiederflattern, Gackern, aufgewühlte Erde. „Lass die Hühner in Ruhe!“, ruft von Wintersdorff in Richtung Oskar, der gerade die nächstbeste Hühnerschar aufscheucht. „Aktuell ist er wirklich zu aktiv.“ Ruhiger ist die schwarz-weiß-gefiederte Hedwig. Die Henne hält still, als Hanna Winter sie auf das rechte Knie setzt. „Fußbehandlung“, kündigt die Ehrenamtliche an.

Hedwig scheint zu wissen, was das bedeutet. Von Wintersdorff auch. Er hat bereits ein Einmachglas mit goldgelber Flüssigkeit geholt. Am Glasdeckel ist ein roter Pinsel befestigt, mit dem der 38-Jährige das Mittel zart auf Hedwigs Kralle streicht. Was nach Schönheitskur aussieht, ist medizinische Notwendigkeit: Die Flüssigkeit ist ein Mittel gegen die Kalkbeinmilbe – ein Parasit, der Eier in die Haut der Hühnerfüße legt.

Huhn am Hühnerhof Motte wird festgehalten, um Leim auf den Fuß zu pinseln
Für Huhn Hedwig ist die Fußpflege Routine – beim Auftragen hält sie still. Foto: Sebastian Geschwill

Tierarztbesuche seien auf dem Hof kaum nötig, so Schümann. „Hier bekommen die Hühner hochwertiges Futter und haben genügend Auslauf.“ Tatsächlich kann jedes Huhn auf mehreren Quadratmetern picken und scharren. Zum Vergleich: In der Bodenhaltung, auf die 2024 knapp 60 Prozent aller Legehennen entfielen, müssen sich neun Tiere einen Quadratmeter teilen. Die allermeisten Hühnerhaltungen in Deutschland seien „dramatisch schlecht und tierschutzwidrig“, so ein Sprecher des Hamburger Tierschutzvereins gegenüber FINK.HAMBURG.

Eier sind knapp – und geschätzt

Um so mehr wird der Hühnerhof Motte von Nachbar*innen und Besucher*innen geschätzt. Einer davon, ein junger Familienvater, ist heute mit seiner Tochter hier. Beide lehnen lächelnd am Zaun und lauschen dem Gegacker. Für frische Eier ist das Duo aber zu spät. „Wir hätten gerne eine Schachtel gekauft – weil wir sehen, wie die Hühner hier gehalten werden“, sagt der Vater. Dann läuft er mit seiner Tochter weiter in Richtung des benachbarten Spielplatzes.

14 Uhr, das Schichtende naht. Hanna Winter hat den Hof längst verlassen. Schümann und von Wintersdorff sind noch da, verschließen gerade die Lehmhütte und den Geräteschuppen, bevor auch sie den Heimweg antreten. Gegenüber vom Stall sitzt ein Mann unter einem Baum, vertieft in ein Buch. Die Rothestraße ist fast still. Nur ein leises Autohupen und ein vertrautes Krähen.

P.S.: Mittlerweile hat der Hühnerhof Motte einen neuen Hahn – statt Oskar kräht nun Alfred.

Junger Mann mit Brille

Sebastian Geschwill, Jahrgang 2002, machte nach dem Abi ein FSJ an einer Realschule – und merkte schnell: Deutschlehrer wird er nicht. Irgendwas mit Sprache sollte es trotzdem sein. Also zog er von Oftersheim bei Heidelberg fürs Germanistikstudium nach Hamburg. Nach einem Praktikum beim „Hamburger Abendblatt“ und einem Abstecher zu „Computerbild“ schreibt er nun wieder fürs Harburg-Ressort des Abendblatts – etwa über die größte Barbie-Börse im Norden. Privat mag er es tiefgründig: Er dichtet melancholische Texte, wandert durchs Hochgebirge oder fährt Bestzeiten bei den Norddeutschen Wasserrutschmeisterschaften ein. Kürzel: sge

Hinterlasse einen Kommentar

Please enter your comment!
Please enter your name here