Kann Forschung nicht auch ohne Tierversuche funktionieren? In Deutschland wird jährlich an 2,5 Millionen Tieren experimentiert. Das ginge auch anders, kritisieren Tierschützer. Gibt es Alternativen? Und wie weit ist man in Hamburg?
Titelbild: Laura Grübler
Es ist die 176. Aktion der Tierischen Aktivisten Hamburg. Die zwei Tierschützer platzieren sich an diesem Nachmittag an der Kreuzung Martinistraße und Curshmannstraße, nur einige Meter vom Haupteingang des Universitätsklinikums Eppendorf (UKE) entfernt. Beide sind gut gelaunt, bereit zum Reden und Überzeugen – ein auffälliger Kontrast zu den traurigen Abbildungen verschiedener Tiere auf ihren Plakaten.
Die beiden sind freie Aktivist*innen, mit Namen wollen sie nicht genannt werden, um ihre Privatsphäre zu schützen. Mehrmals in der Woche stehen sie an Plätzen in ganz Hamburg verteilt: vor dem UKE, in Ottensen, auf Wochenmärkten oder vor Bio-Supermärkten. Immer mit dabei haben sie Informationsbroschüren, Klemmbretter mit Unterschriftenlisten und ein großes “Stoppt Tierversuche”-Banner. So wollen sie mit Passant*innen und Forschenden in Kontakt kommen, über Tierversuche in Hamburg und Deutschland aufklären und Unterschriften sammeln. Heute geht es vor allem um die europaweite Bürgerinitiative Save Cruelty Free Cosmetics*.
*Die Petition wurde Ende August mit 1,4 Millionen Stimmen erfolgreich beendet. Damit ist die EU-Kommission nun verpflichtet, sich dem Thema zu widmen. Gefordert sind die Gewährleistung und Stärkung des Verbots von Tierversuchen bei kosmetischen Mitteln, eine Umgestaltung der EU-Chemikalienverordnung und die Modernisierung der Wissenschaft in der EU.
Gespaltene Meinung zum Tierversuch
Tierschutzvereine wie Ärzte gegen Tierversuche, Peta oder Soko Tierschutz argumentieren oft, dass Tierversuche nicht auf den Menschen übertragbar seien. Neben ethischen Ansprüchen geht es den Gegner*innen auch um Innovation und Fortschritt in der Wissenschaft.
Für Britta Rehr, Leiterin der Hamburger Arbeitsgruppe der Ärzte gegen Tierversuche, ist es unverständlich, dass am “Goldstandard Tierversuch” festgehalten wird. Die Tierschützerin sieht wirtschaftliche Gründe dahinter: “Die Tierversuchsindustrie verdient viel Geld und wird mit Milliarden an Steuergeldern subventioniert. Während 99 Prozent der Förderungen an Tierversuche gehen, gehen gerade einmal ein Prozent an die tierversuchsfreie Forschung”, kritisiert sie.
Andere Wissenschaftler*innen halten dagegen, dass Tierversuche weiter bedeutsam und wichtig sind – insbesondere in der Grundlagenforschung. Das betont auch Professorin Petra Arck, Prodekanin für Forschung am UKE. “Es ist im Moment nicht absehbar, dass man in den nächsten zehn, zwanzig Jahren ganz auf Tierversuche verzichten kann, um den Menschen dienende Ergebnisse zu ermitteln.”
Am UKE gibt es fünf Forschungsschwerpunkte: Immunologie, Neurowissenschaften, Versorgungswissenschaften, Kardiologie und Onkologie. In vier von fünf dieser Schwerpunkte kommen laut Arck Tierversuche zum Einsatz.
2,5 Millionen Versuchstiere im Jahr
Laut der Wissenschaftsinitiative Tierversuche verstehen, die von namhaften deutschen Forschungseinrichtungen betrieben wird, wurde in Deutschland im Jahr 2020 an rund 2,5 Millionen Tiere experimentiert. Mit 57 Prozent ist die Grundlagenforschung tatsächlich der größte Bereich, in dem Tierversuche zum Einsatz kommen. Das bestätigte auch Arck: “Es ist ganz klar so, dass in allen Bereichen der vier Forschungsschwerpunkte – Versorgungsforschung ausgenommen – Tierversuche zum Zweck der Grundlagenforschung durchgeführt werden.”
Aber was ist Grundlagenforschung eigentlich? Laut Duden ist es die “zweckfreie, nicht auf unmittelbare praktische Anwendung hin betriebene Forschung, die sich mit den Grundlagen einer Wissenschaft o. ä. beschäftigt”. Bei Medikamentenstudien wird so zum Beispiel erst einmal an Mäusen getestet, wie der Wirkstoff generell wirkt und ob er gefährlich ist – bevor Menschen ihn bekommen.
Tierversuche: Gesetzlich erlaubt – aber auch vertretbar?
Tierversuche im Rahmen der Grundlagenforschung sind gesetzlich erlaubt. “Aber dies muss nicht immer so bleiben, denn das Grundgesetz enthält auch ein Bekenntnis zum Tierschutz als Staatsziel. Der Gesetzgeber könnte also Tierversuche weit stärker einschränken als bisher”, findet Professor Thomas Cirsovius, Rechtsanwalt, Dozent an der HAW Hamburg und Mitglied beim Hamburger Tierschutzverein.
Tierversuche werden häufig mit der grundsätzlich garantierten Freiheit von Forschung und Lehre begründet. Verboten sind nur Tierversuche zur Entwicklung von Waffen, Munition, Tabakerzeugnissen, Waschmitteln und Kosmetika. Das für Tierschutz-Belange zuständige Bundesministerium könne aber mit Zustimmung des Bundesrats Ausnahmen bestimmen, so Cirsovius.
Es gibt aber auch Tierversuche, die gesetzlich vorgeschrieben sind. Dazu zählen die bereits erwähnten Routineversuche zum Testen von Arzneimitteln, Impfstoffen oder ähnlichen Produkten. Die Genehmigungen von solchen Tierversuchen würden in der Regel in einem vereinfachten Verfahren erfolgen, sagt Cirsovius. Es finde höchstens eine behördliche Überprüfung der Tierhaltung und der Gerätschaften statt.
“Dieses vereinfachte Genehmigungsverfahren ist allerdings nicht zulässig, wenn es um Versuche an Affen oder um Tierversuche geht, die nach EU-rechtlichen Vorgaben als ‘schwer belastend’ einzustufen sind”, erklärt Prof. Cirsovius.
Seit Juni 2021 hat die Bundesregierung ein Gesetz erlassen, das die Genehmigung von Tierversuchen verschärfen und stärkere Kontrollen ermöglichen soll. Tierversuche werden durch die zuständigen Behörden im Kreis, Bezirk oder Bundesland genehmigt und von einem/r Tierschutzbeauftragten/r geprüft. Zusätzlich führen unabhängige Amtstierärzt*innen unangekündigte Kontrollen durch.
Nicht alle Tiere müssen gemeldet werden
Laut Dr. Petra Kirsch, Tierschutzbeauftragte am UKE, gibt es in Deutschland die sogenannte Versuchstiermeldung. Diese besagt, dass Wissenschaftler*innen oder Leitende von Tierversuchsanträgen vom Gesetz dazu aufgefordert sind, die Tiere zu melden, die in einem Jahr verwendet wurden.
“Mit der Versuchstiermeldung werden nur die verwendeten Tiere eines abgeschlossenen Versuchs gemeldet und nicht die Tiere, die sich noch im Versuch befinden, bzw. noch im Versuch verwendet werden”, so Kirsch. Eine Statistik über die Tiere, die aktuell im Tierversuch sind, führe das UKE daher nicht.
Allerdings lassen Zahlen zu Tierversuchen generell wenig Rückschlüsse über die tatsächlichen Zustände zu. Tiere, die zum Beispiel für Organentnahmen getötet wurden, gelten nicht als Tierversuch. Jährlich gibt es davon mehr als 600.000. Und obwohl jährlich über 500.000 Fischlarven für wissenschaftliche Zwecke genutzt werden, zählen auch diese nicht als Versuchstiere. Tierschützer*innen fordern, dass die Erfassung von Daten transparenter sein sollte.
Und wie sieht es in Hamburg aus? Wer forscht hier alles mit Tieren?
Tierversuche in Hamburg: Zahlen gehen zurück
In Hamburg gibt es sechs Einrichtungen, die Tierversuche durchführen: das UKE, die Firma Evotec, das Heinrich-Pette-Institut – Leibniz-Institut für Experimentelle Virologie, das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, die Universität Hamburg und das Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie. Bis Februar 2020 gab es noch das Laboratory of Pharmacology and Toxicology (LPT), das aber aufgrund von unhaltbaren Zuständen von den Behörden geschlossen wurde.
Laut der Wissenschaftsinitiative Tierversuche verstehen sind seit 2019 die Versuchstierzahlen in Hamburg um 44 Prozent zurückgegangen. Im Jahr 2020 wurden in Hamburg circa 105.000 Versuchstiere gezählt, davon am meisten Mäuse. Im Vorjahr waren es noch über 180.000. Dieser Rückgang lässt sich unter anderem durch die Abwanderung von Testlaboren ins Ausland, die Schließung des LPT und die Zunahme von tierversuchsfreien Methoden erklären.
Auch das UKE versucht, nach Möglichkeit Tierversuche zu minimieren.
3-R als Leitprinzip: Tierversuche verbessern, reduzieren, ersetzen
Das UKE stütze sich besonders auf das sogenannte 3-R-Prinzip. Die drei Rs stehen für “Refinement, Reduction Replacement” und sind ein Leitprinzip, an dem sich Tierforschende orientieren müssen. Tierversuche sollen reduziert, verbessert und wenn möglich ersetzt werden.
“Wir haben uns das 3-R-Prinzip sehr stark auf die Fahne geschrieben. Wir fördern es und wollen unter anderem auch finanzielle Anreize für Forschende schaffen, damit sie Teilbereiche ihrer etablierten Tiermodelle durch alternative Methoden ersetzen können ”, so Forschungsdekanin Arck.
Bereits seit Dezember 2019 gibt es die Idee einer 3-R-Professur am UKE. Laut der Pressestelle der Behörde für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung (BWFG) soll die Professur Impulse für die Weiterentwicklung von Ersatzmethoden zu Tierversuchen bieten. Dazu gehören beispielsweise Computersimulationen, Bildgebungsverfahren, Organoiden und permanente Zellkulturen. Organoide sind organähnliche Strukturen, die künstlich erzeugt werden. Bei permanenten Zellkulturen handelt es sich um Zellen, die in einem Reagenzglas (in vitro) uneingeschränkt und dauerhaft wachsen können.
2020 sollte die Stelle ursprünglich ins Leben gerufen werden, doch Corona verzögerte die Umsetzung. “Das Berufungsverfahren für die 3-R-Professur ist weit fortgeschritten, sodass momentan mit einer Berufung zum Beginn 2023 gerechnet werden kann. Über die Besetzung wird das UKE zeitnah informieren”, so die Pressestelle der BWFG.
Zellkulturen statt lebende Tiere
Vom UKE wird zudem alle zwei Jahre eine Projektförderung mit einer halben Million Euro ausgeschreiben. Forschende am UKE können Projekte vorstellen, mit denen sie Tierversuche reduzieren wollen. Aktuell werden drei Projekte gefördert: eine 3D-Zellkultur des Gehirns zur Erforschung der Multiplen Sklerose, künstliche Intelligenz und menschliche Organoide zur Reduzierung von Mäusen und ein Ersatzverfahren aus Schlachtabfällen.
Auch die Stadt Hamburg setzt sich dafür ein, Tierversuche durch Alternativverfahren zu ersetzen. Um die Entwicklung von Alternativmethoden zum Tierversuch voranzutreiben, schreiben die BWFGB und die Behörde für Justiz und Verbraucherschutz (BJV) alle zwei Jahre den “Hamburger Forschungspreis für Alternativen zum Tierversuche” aus. Dieser ist mit 50.000 Euro dotiert. Ausgezeichnet werden Arbeiten, deren Ergebnisse einen wesentlichen Beitrag zum Ersatz oder der Minimierung von Tierversuchen leisten.
Doch wie weit ist man bei alternativen Methoden eigentlich?
Forschung mit Multi-Organchip und Computer-Simulation
Es gibt insgesamt fünf alternative tierversuchfreie Forschungsmethoden, mit denen Wissenschaftler*innen arbeiten können:
- In Vivo: Mikrodosierung am Menschen, nicht-invasive Verfahren und Versuche an wirbellosen Tieren/ Larven und Embryos (diese zählen nicht als Versuchstiere)
- Ex Vivo: Stammzellentherapie, primäre Zellkulturen und isolierte Organe
- In Vitro: permanente Zellkulturen, 3D-Zellkulturen (Organoide) und Multi-Organchip
- In Silico: Computer-Simulationen
Weltweite Einträge zu Studien, die ohne Tierversuche auskommen, gibt es in der NAT-Datenbank. NAT steht für “Non Animal Technologies” und ist ein Projekt der Ärzte gegen Tierversuche und den Landestierschutzbeauftragten Berlin. Die Daten sollen Interessierten und Forschenden einen Überblick über den Fortschritt mit tierversuchsfreier Forschung geben – auch das ist ein Ansatz, um Tierversuche nach Möglichkeit vermeiden zu helfen.
“Man braucht einen langen Atem”
Klar ist: Tierversuche sind legal. Auch wie das UKE Tierversuche nutzt, ist erlaubt. Tierschützer*innen fordern allgemein aber deutlich mehr Initiative von Politik und Forschung, um vom Tierversuch wegzukommen.
Die Tierischen Aktivisten Hamburg wünschen sich, dass Hamburg und das UKE bald so fortschrittlich sind wie die Niederlande. An der Utrecht University gibt es seit Juni 2022 eine Professur zum evidenzbasierten Übergang zur tierfreien Innovation. Auch der Campus vor Ort wird zu einem Zentrum der tierversuchsfreien Forschung umgebaut.
Bis es in Hamburg soweit ist, wollen die beiden Aktivist*innen vor dem UKE dranbleiben, auch wenn es nicht immer leicht ist. “An manchen Tagen kommt niemand, aber wir wissen, wir sind im Recht. Wir wollen niemanden verurteilen, wir wollen aufklären”, sagen sie. Sie wissen aber auch: “Man braucht einen langen Atem.”
Auch Britta Rehr ist überzeugt: “Die Lobby und die Politik stehen den tierversuchsfreien Methoden zwar noch im Weg, aber trotzdem ist die Frage nicht ob, sondern wann Tierversuche abgeschafft werden.”