Inwieweit müssen Mitarbeiter funktionieren? Dürfen sie noch selbst entscheiden oder sind sie nur Marionetten? „Corporate“, ein Film über die Grenzen der moralisch vertretbaren Mitarbeiterführung läuft beim Hamburger Filmfest.
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Menschen sind hier, das wird schnell klar, ein reines Mittel zur Gewinnmaximierung. Der Mitarbeiter als Produktionsfaktor, der wie eine Maschine möglichst effizient funktionieren soll und austauschbar ist. Human-Resources-Managerin Emilie, gespielt von Céline Sallette, hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das auch klappt.
Allerdings darf Emilie dies nie so direkt sagen. Es gehört zu ihrem Job, sich unliebsamer und ineffizienter Mitarbeiter subtil zu entledigen. Der Konzern mit 90.000 Mitarbeitern hat dafür ein ausgeklügeltes System entwickelt.
So werden Mitarbeiter, die Familie oder kranke Angehörige haben, vor die Wahl gestellt, einen Job auf der anderen Seite der Erde anzunehmen. Es ist völlig klar, dass dies für die Betroffenen keine Option ist. Aber andere Optionen sind nicht mehr im Angebot: “Das ist eine Entscheidung, die nur Sie selbst treffen können”, sagt Emilie dann, “ich kann diese Entscheidung nicht für Sie treffen”.
Die Unliebsamen werden gedemütigt, ignoriert und bekommen keine Aufgaben mehr zugewiesen, was sie regelrecht in die Verzweiflung treibt.
Das System funktioniert. Bis einer der Gefeuerten es nicht bei Beschimpfungen belässt, sondern Emilie radikal mit den Folgen ihres Verhaltens konfrontiert. Daraufhin bröckelt die eiskalte Fassade der HR-Managerin. Zunächst versucht sie die Lage durch Vertuschen von Beweisen wieder unter Kontrolle zu bringen. Aber nach einem weiteren Zwischenfall wendet sich die Geschäftsleitung von ihr ab. Nun stellt sie selbst für die Firma ein Risiko dar.
Verweis auf die jüngere französische Geschichte
Regisseur Nicolas Silhol, der mehrere erfolgreiche Kurzfilme gedreht hat, bevor er mit „Corporate“ sein Langfilmdebüt vorlegte, greift mit dem Film ein Thema auf, das in Frankreich vor einigen Jahren für viel Aufregung sorgte: In mehreren Unternehmen, darunter der halbstaatlichen France Telecom, häuften sich die Suizide unter mutmaßlich überlasteten Mitarbeitern.
Die Szenen, in denen Emilie als Personalerin im Büro des Konzerns unterwegs ist, hat Silhol in hellem, weißem Licht gedreht. Andere Farben kommen darin kaum vor, ein Gefühl der Eiseskälte kommt auf. Szenen, in denen Emilie sich aber persönlich mit den Folgen ihres Handelns auseinandersetzt, sind in warmes, rötliches Licht getaucht. Musik kommt nur selten zum Einsatz, dezentes Klavierspiel.
In Frankreich ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie in Deutschland. Der neue Präsident Emmanuel Macron kündigte im September eine Arbeitsmarktreform an. Sie soll Unternehmen mehr Freiheiten einräumen, indem sie zum Beispiel den Kündigungsschutz lockert und die Höhe von Abfindungen für gekündigte Mitarbeiter begrenzt.
Aber nicht nur die politische Situation macht den Film interessant. Er stellt die Frage, inwieweit die eigenen moralischen und ethischen Ansichten über dem Profit stehen sollten. Ist es gerechtfertigt das Leben des Einzelnen für die Gewinnmaximierung von Konzernen zu zerstören, und kann man selbst mit den Folgen leben? „Corporate“, zu sehen beim Hamburger Filmfest, setzt sich eindringlich mit diesen Fragen auseinander und schafft es dabei, den Spannungsbogen über 90 Minuten aufrecht zu halten. Kein actiongeladener, aber ein spannender Kinofilm, der perfekt in eine Zeit passt, in der Frankreich vor einem vermeintlichen Aufbruch steht.