Frauen streiten seit Jahrhunderten in Deutschland für ihre Rechte. Vor hundert Jahren erkämpften sie das Frauenwahlrecht. Auch heute sind sie in den deutschen Parlamenten unterrepräsentiert.
Ein Feature von Hannah Lesch, Björn Rohwer, Amelie Rolfs, Pia Siber, Vivien Valentiner und Nadine von Piechowski.
Es ist kalt am 12. November 1918 in Hamburg, nur fünf Grad und es nieselt. Einen Tag zuvor endete der Erste Weltkrieg. Das Deutsche Kaiserreich fällt in sich zusammen. Am 06. November hatte ein Arbeiter- und Soldatenrat die Macht in Hamburg übernommen – drei Tage später rief Philipp Scheidemann in Berlin die Republik aus. Eine der zentralen Forderungen des Arbeiter- und Soldatenrates: Sofortige Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts für beide Geschlechter.
Die Bewegung für das Frauenwahlrecht gilt in Deutschland als die erste Welle der Frauenbewegung. Sie war geprägt von Unterschieden und Diskussionen. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein in Deutschland. Frauen aus der Arbeiterklasse und bürgerliche Frauen kämpften meist nicht gemeinsam für das Wahlrecht. Trotzdem hatten sie das gleiche Ziel: Die Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft.
Hamburg war Zentrum der Stimmrechtsbewegung
Die gemäßigte bürgerliche Frauenbewegung bestand aus Frauen der Mittel- und Oberschicht – und setzte sich vor allem für das Recht auf Bildung für Frauen ein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts spaltete sich die bürgerliche Frauenbewegung und eine neue sogenannte radikale bürgerliche Strömung entstand. Die Frauen dieser neuen Strömung wollten nicht nur Bildung, sie forderten das Frauenwahlrecht und Mitbestimmungsrechte in Gesellschaft und Politik. Teile von ihnen gründeten 1902 in Hamburg den „Deutschen Verein für Frauenstimmrecht“, wodurch Hamburg zum Zentrum der Stimmrechtsbewegung wurde. Die Arbeiterfrauen-Bewegung wollte ebenfalls das Wahlrecht, allerdings nicht nur für Frauen, sondern für alle Erwachsenen. Denn vor 1918 waren auch viele Männer aufgrund ihres sozialen und finanziellen Status von der Wahl ausgeschlossen. Egal welcher Strömung sie angehörten, alle Frauenrechtlerinnen stießen auf Ablehnung.
Wer durfte vor 1918 in Deutschland wählen?
In Deutschland durften bis November 1918 nur Männer über 25 Jahre wählen. Auf Reichsebene durften nur die Männer wählen, die weder Soldaten waren noch Armenunterstützung aus öffentlichen Mitteln bezogen, unter Vormundschaft oder in Konkurs standen. Die einzelnen Bundesstaaten des Kaiserreiches hatten zusätzlich eigene Wahlrechte. In Hamburg wählten ausschließlich Wohlhabende die Bürgerschaft. Durch diese Gestaltung der Bürgerschaft und des Senats wurde die Arbeiterschaft komplett von der politischen Teilhabe ausgeschlossen.
Im beginnenden 20. Jahrhundert durften Frauen nicht selbst entscheiden, ob sie einer Arbeit nachgehen wollten, sondern brauchten dafür die Zustimmung ihres Vaters oder Ehemannes. Sie waren wirtschaftlich von Männern abhängig. Weil sie in vielen Teilen Deutschlands auch nicht studieren durften, schrieben sich viele bürgerliche Töchter an Universitäten in der Schweiz ein. Vor diesem Hintergrund war die Gleichstellung der Frau bei Wahlen kaum vorstellbar. Um das Frauenwahlrecht möglich zu machen brauchte es deshalb viel Lobbyarbeit. Frauen mit großem Erbe und Einfluss nutzen dies, um für die Gleichstellung zu werben. Andere Frauen verteilten Flugblätter oder kämpften als Politikerinnen darum, dass sie einflussreiche Parteiposten besetzen konnten.
Der 1. Weltkrieg verzögerte das Frauenwahlrecht
Als 1914 der 1. Weltkrieg ausbrach, wurde es immer schwieriger, für diese Ziele zu kämpfen. Große Teile der radikalen bürgerlichen Frauenbewegung fokussierten sich auf Proteste gegen den Krieg, schrieben pazifistische Aufrufe und verteilten Flugblätter. Für einige Aktivistinnen war das Streben nach Frieden eng mit dem Frauenwahlrecht verknüpft. Eine führende Aktivistin aus Hamburg, Lida Gustava Heymann, schrieb nach dem Krieg sogar: “Ein Europa mit Frauenwahlrecht wäre keinem Weltkriege zum Opfer gefallen.”
Auch Vertreterinnen der sozialistischen Frauenbewegung forderten die Frauen zum Widerstand auf. Die gemäßigte bürgerliche Frauenbewegung schränkte ihre Arbeit während der Kriegsjahre stark ein. Vor allem konzentrierten sie sich auf die Versorgung von Soldaten und die Unterstützung von armen Frauen und Kindern. In Hamburg gab es bereits Ende 1917 fast 9.000 Kriegswitwen und 23.000 Kriegswaisen. Viele Kinder galten durch die weit verbreitete Armut als verwahrlost. Das frauenfeindliche Klima der Zeit zeigt sich unter anderem in der Schuldzuweisung, die allein erziehenden und erwerbstätigen Mütter würden sich nicht ordentlich um ihre Kinder kümmern.
Am 11. November 1918 unterschrieb Deutschland den Vertrag zum Waffenstillstand. Einen Tag später veröffentlichte der Rat der Volksbeauftragten in Berlin den Aufruf “An das deutsche Volk” (Abschrift hier). Im Aufruf wurden viele Rechte verkündet, die grundlegend für eine demokratische Gesellschaft waren. So wurde freies Vereins- und Versammlungsrecht gewährt und die Meinungsäußerung in Wort und Schrift garantiert.
Die Erklärung endete mit der Ankündigung eines neuen Wahlrechts:
“Alle Wahlen (…) sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht
(…) für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.”
Mit dieser Erklärung galt das neue Wahlrecht auch in Hamburg. Einen Tag später, am 12. November 1918, übernimmt der Arbeiter- und Soldatenrat das Rathaus, setzt die Hamburgische Bürgerschaft ab – noch in der Nacht werden rote Fahnen aus dem Rathaus gehängt. Obwohl der Rat sich nur wenige Tage an der Macht hielt, blieb das Wahlrecht den Bürgern erhalten. (Weitere Infos zur Revolution 1918 in Hamburg.)
Am 19. Januar 1919 können Frauen erstmals die Weimarer Nationalversammlung wählen. Außerdem galt nun auch das passive Frauenwahlrecht: Frauen konnten sich als Abgeordnete aufstellen lassen. Über 80 Prozent der wahlberechtigten Frauen gaben ihre Stimme ab, 300 Frauen kandidierten und 37 weibliche Abgeordnete zogen ins Parlament ein. Die ersten allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen in Deutschland brachten damit knapp neun Prozent Parlamentarierinnen hervor. Frauen konnten am 16. März 1919 erstmals die Hamburgische Bürgerschaft wählen. Siebzehn Frauen und 160 Männer zogen in die Bürgerschaft ein.
Heute sind Parlamente noch immer Männerdomäne
100 Jahre später sind die Geschlechterverhältnisse in deutschen Parlamenten noch immer nicht ausgeglichen: 2017 waren im Deutschen Bundestag 69 Prozent der Abgeordneten männlich.
Wie hoch der Frauenanteil ist, variiert stark zwischen den Parteien. Bündnis 90/Die Grünen und die Linken stellen paritätische, also zur Hälfte mit Frauen besetzte, Wahllisten. Die SPD nähert sich dem mit rund 40 Prozent Frauenanteil im Bundestag an. In der Unionsfraktion sind nicht mal 20 Prozent der Abgeordneten weiblich. Die FDP kommt im Bundestag auf einen Frauenanteil von 22,5 Prozent. Am wenigsten Frauen stellt die AfD: Nur 10,8 Prozent der Fraktionsabgeordneten sind weiblich.
In der Hamburger Bürgerschaft sitzen prozentual schon mehr Frauen als im Bundestag – aber auch hier sind es nur 38 Prozent in der aktuellen Wahlperiode. Damit liegt Hamburg im Ländervergleich auf dem zweiten Platz. Am niedrigsten ist der Frauenanteil im Landtag Baden-Württembergs (24,5 Prozent), Thüringen führt die Tabelle mit 40,6 Prozent an.
Der Weg der Hamburger Bürgerschaft zu einem Frauenanteil von 38 Prozent war allerdings ein langer. Bis 1982 lag der Frauenanteil dort bei unter 17 Prozent. Und auch hier ist ein Unterschied zwischen den Fraktionen erkennbar: Die Grünen bestanden seit Einzug in die Bürgerschaft im Jahr 1982 mindestens zur Hälfte aus Frauen. In der darauffolgenden Wahlperiode stellte sie sich sogar als reine Frauenliste bei der Bürgerschaftswahl auf. Zur konstituierenden Sitzung im November 1986 kamen die Abgeordneten in Nadelstreifenanzügen mit Kasperle-Figuren im Knopfloch. Damit reagierten sie auf die Bemerkung des damaligen Bürgermeisters Dohnanyi (SPD), der eine Frauenliste als „Kasperletheater“ bezeichnet hatte.
An Frauen in der Bürgerschaft hat man sich inzwischen gewöhnt. In der aktuellen Hamburgischen Bürgerschaft sind sechs Parteien vertreten. Grüne und Linke bestehen zu 50 Prozent aus Frauen. Die SPD-Fraktion ist zu 45 Prozent weiblich besetzt. In der FDP-Fraktion aus neun Abgeordneten liegt der Frauenanteil bei einem Drittel. Schlusslicht bilden CDU und AfD. Die Christdemokraten stellen bei 20 Abgeordneten nur zwei Frauen. Unter den sechs Abgeordneten der AfD ist eine Frau.
Warum sitzen so wenig Frauen in deutschen Parlamenten?
„Frauen sind auch heute noch vielfach belastet: Beruf, Kinder, Haushalt, Aufgaben in Schulen oder Kitas“, sagt Notburga Kunert. Die CDU-Politikerin wurde für ihr Engagement in der Kommunalpolitik mit dem Helene-Weber-Preis ausgezeichnet. Tatsächlich sind Frauen in Kommunalparlamenten noch schlechter repräsentiert als in Bundes- und Landtag. Nur ein Viertel aller Ratsmitglieder ist weiblich. In einer Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums von 2011 geben viele erfolgreiche Kommunalpolitikerinnen an, warum der Einstieg in die Kommunalpolitik schwer ist. Als Gründe nennen sie unter anderem männlich geprägte Parteistrukturen, Unvereinbarkeit von Familie und Politik sowie mangelnde Unterstützung des Partners.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat im Jahr 2017 die Studie „Genderparität in der deutschen Politik: Weitere Bemühungen nötig“ veröffentlicht. Die Gesellschaft und politisch Verantwortlichen müssten sich weiter bemühen, den Anteil von Frauen in der Politik zu erhöhen, so die Autorinnen der Studie. Dafür seien neben den Parteien auch Wählerinnen und Wähler gefordert: „Sie müssen diese Anpassungen von den Parteien und politisch Verantwortlichen einfordern“, heißt es in der Studie.
Paritätsgesetz gefordert
Wie kann das politische System dafür sorgen, dass mehr Frauen in die Parlamente kommen? Für Bundesverfassungsrichterin Doris König sind Frauenquoten ein mögliches Instrument. „Die Alibi-Frau, die da irgendwo mit am Tisch sitzen darf, verändert die Dinge nicht“, sagt König. Deshalb plädiert sie für paritätische Listen bei politischen Wahlen.
Ein solches Gesetz gibt es in Frankreich schon seit dem Jahr 2000. Das sogenannte Paritätsgesetz verpflichtet die Parteien zu paritätischen Aufstellungslisten für Europawahlen sowie kommunale und regionale Wahlen. Die Listen müssen also zur Hälfte mit Frauen besetzt sein. Weichen sie von dieser Vorgabe ab, führt das zu Kürzungen in der Parteienfinanzierung oder zu finanziellen Sanktionen.
In Deutschland beschäftigt sich aktuell das Bundesverfassungsgericht mit einem Paritätsgesetz. Das Gericht soll prüfen, ob die Wahlgesetze in Bayern gegen die Bayerische Verfassung verstoßen. Das Aktionsbündnis “Parité in den Parlamenten!” sieht durch die aktuellen Gesetze die Gleichberechtigung verhindert und hatte deshalb im November 2016 eine Klage beim Bayerischen Verfassungsgericht eingereicht. Dieses wies die Klage im März 2018 ab. Daraufhin legte das Bündnis Beschwerde gegen die Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht ein. Ob ein Paritätsgesetz überhaupt verfassungsgemäß ist, bleibt allerdings umstritten.
Fest steht: Viele Politikerinnen fordern bereits eine gesetzliche Frauenquote für den Bundestag. „Wir brauchen ein Parité-Gesetz“, sagte Grünen-Parteichefin Annalena Baerbock der Deutschen Presse-Agentur im November 2018. Auch Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) fordert zur Erhöhung des Frauenanteils im Bundestag eine Änderung des Wahlrechts. Union-Fraktionsvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hält ein Paritätsgesetz nach französischem Modell zumindest für diskussionswürdig.
Frauenwahlrecht in Hamburg: Vergangenheit und Zukunft
100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts sind Frauen in der Hamburgischen Bürgerschaft immer noch in der Minderheit. 38 Prozent der Abgeordneten sind weiblich. Dass dies nicht reicht, um die Bevölkerung angemessen zu repräsentieren: darüber sind sich ausnahmsweise Politikerinnen aus CDU und Linke einig. Für CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Franziska Rath sind Frauenquoten nicht die alleinige Lösung für das Repräsentationsproblem. “Vielmehr benötigen wir in allen Parlamenten eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das gilt natürlich auch für Männer, trifft aber in der Praxis doch zumeist Frauen”, sagt Rath. Sie fordert neue Wege, in Parlamenten zu denken, denn man bekomme nur mehr Frauen in die Parteiarbeit, wenn sie trotz politischen Engagements abends ihre Kinder ins Bett bringen können.
Cansu Özdemir, Bürgerschaftsabgeordnete der Linken, setzt auf Quote. Wie ihre Partei fordert sie eine 50/50-Quotierung aller politischen Mandate. Aber Özdemir setzt sich auch dafür ein, strukturelle Benachteiligung von Frauen, beispielsweise durch konservative Geschlechterstereotypen, abzubauen. Ein weiteres Problem sieht sie im Sexismus, den sie regelmäßig bei der Ausübung ihres Mandats erfährt. “Der tritt in ganz unterschiedlichen Formen und mal mehr oder weniger subtil auf – vom Schlichten nicht ernst genommen Werden bis hin zum dummen Anmachspruch”, so Özdemir.
Wachsam in die Zukunft
Beide Politikerinnen sind den Vorkämpferinnen des Frauenwahlrechts dankbar für ihre Arbeit. Diese Dankbarkeit müssten Frauen nicht tagtäglich empfinden, meint Rath, “aber in Zeiten von Strömungen, die eine gesellschaftliche Rückwärtsrolle anstreben, muss das Bewusstsein, dieses hart erkämpfte Recht zu haben, ständiger Begleiter sein.” Auch für Özdemir sind die Rechte der Frau leider keine Selbstverständlichkeit. Sie stimmt das Jubiläum kämpferisch. “Die Geschichte ist der Beweis: Wir sind in der Lage durch gemeinsame Kämpfe die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend in einem emanzipatorischen Sinn zu verändern”, sagt sie. Wie schon vor hundert Jahren ist das Ziel der Frauen ähnlich, aber die Wege dahin unterschiedlich.