Foto: Quidditch Club Hamburg

Plastikstangen zwischen den Beinen, ein Tennisball am Hosenbund und bald eine eigene Meisterschaft: Warum ein Magiersport auch in unserer Welt immer beliebter wird – und das ganz ohne fliegende Besen.

Eine Wiese im Hamburger Stadtpark. Im Hintergrund erhebt sich der steinerne Bau des Planetariums. Jogger kommen hier vorbei und Spaziergänger mit Hunden. Nicht weit entfernt spielen einige ältere Männer Fußball. Doch etwas anderes zieht die Blicke der Spaziergänger auf sich. Neugierig bleiben sie an den mit Kreide auf die Wiese gezeichneten Seitenlinien-Markierungen stehen. Sie sehen eine Gruppe von etwa zwanzig jungen Männern und Frauen. Die eine Hälfte in schwarz-roten Trikots gekleidet, auf der Brust prangt ein Wolfskopf, die andere in grünen. Die Spieler tragen verschiedenfarbige Stirnbänder, manche haben sich die Gesichter mit Kriegsbemalung geschminkt.

Teamansprache der Hamburg Werewolves. Foto: Quidditch Club Hamburg

Sie stellen sich in Kreisen zur gemeinsamen Teamansprache auf. „Release the keys“ brüllen die einen, die andere Mannschaft antwortet mit einem ohrenbetäubenden Wolfsgeheul. Danach klemmen die Spieler sich bunte PVC-Stangen zwischen ihre Oberschenkel und stellen sich vor den eigenen Torringen auf. „Hamburg Werewolfes, are you ready?“, ruft der Schiedsrichter. Die Hamburger schreien „Yes.“ „Portkeys Bremen, are you ready?“ „Yes“, rufen die Bremer. „Brooms up!“ Die Mannschaften rennen los, um sich die auf der Mittellinie liegenden Bälle, einen Volleyball sowie drei Dodgebälle, vor den Gegnern zu sichern – das Spiel hat begonnen.

Als die britische Autorin Joanne K. Rowling im Jahr 1997 ihren Debütroman „Harry Potter und der Stein der Weisen“ veröffentlichte, konnte sie mit Sicherheit nicht ahnen, welche Auswirkungen der Erfolg ihres Buches auch viele Jahre später noch haben würde. Dabei war es nicht einmal am verwunderlichsten, dass sich die insgesamt sieben Abenteuer über den Zauberschüler mit der blitzförmigen Narbe auf der Stirn weltweit über 400 Millionen Mal verkauften. Oder, dass die acht Filme fast acht Milliarden Dollar einspielten und deren Hauptdarsteller Daniel Radcliffe, Emma Watson und Rupert Grint berühmt machten. Harry Potter ist weit mehr als nur ein kulturelles Phänomen. Italienische Wissenschaftler haben in einer Studie im Jahr 2015 herausgefunden, dass mit den Büchern und Filmen Aufgewachsene die empathischeren und toleranteren Menschen sind. Und eine Besonderheit der Romane hat es nun sogar aus den Büchern und Filmen in unsere Welt geschafft. Quidditch, der Magiersport.

Anders, aber trotzdem der Vorlage treu

Ein Sport, der im Original auf fliegenden Besen gespielt wird? Geht das überhaupt? Geflogen wird in der realen Variante jedenfalls nicht. Quidditch lässt sich am besten als eine Mischung aus Völkerball, Handball und Rugby beschreiben. Dennoch konnten fast alle charakteristischen Elemente der fiktiven Sportart irgendwie in unsere Welt übertragen werden. Statt fliegenden Besen klemmen die Spieler sich PVC-Stangen zwischen die Beine, die drei Torringe werden auf Stangen in verschiedenen Höhen angebracht. Und auch die unterschiedlichen Bälle und Spielerpositionen haben es in das Regelwerk geschafft.


Fakten über Quidditch

Ausstattung: Jeder Spieler klemmt sich als Besen eine Stange, zum Beispiel aus PVC zwischen die Oberschenkel. Außerdem tragen die Spieler abhängig von ihrer Position verschiedenfarbige Stirnbänder

Spielfeld: Gespielt wird auf einem rechteckigen Feld (22 X 33 Meter). Auf jeder Seite des Feldes befinden sich drei auf Stangen angebrachte Torringe in der Höhe von 0,91 Metern, 1,37 Metern und 1,83 Metern. Das entspricht 3 Fuß, 4,5 Fuß und 6 Fuß.

Strafen: Aufgrund der Nähe zum Rugby lassen die Schiedsrichter relativ viel durchgehen. Kommt es aber doch mal zu einem Foul, so kann der Unparteiische verschiedene Karten (blau, gelb und rot) zücken.

Rekorde: Rekordweltmeister ist die USA mit den Siegen bei den Weltmeisterschaften 2012 und 2014. Im Jahr 2016 in Frankfurt gewann hingegen Australien. Deutschland erreichte den 11. Platz.

International: Quidditch wird fast auf der ganzen Welt gespielt: unter anderem auch  in Guatemala, Uganda, Paraguay und Neuseeland. Im Deutschen Quidditchbund (DQB) sind aktuell 30 Teams mit über 500 Spielern registriert. Weitere befinden sich derzeit im Aufbau.


„So, sagte Wood, pass auf. Quidditch ist leicht zu verstehen, auch wenn es nicht leicht zu spielen ist. Jede Mannschaft hat sieben Spieler. Drei von ihnen heißen Jäger.“ (Joanne K. Rowling. Harry Potter und der Stein der Weisen, Seite 184)

Wie bei Harry Potter besteht ein Quidditch-Team aus sieben Spielern. Die Jäger versuchen den Quaffel, einen Volleyball, durch einen der drei Torringe der gegnerischen Mannschaft zu befördern. Ein Tor bringt zehn Punkte. Der Hüter beschützt die Ringe seiner Mannschaft. Tackeln ist wie beim Rugby ausdrücklich erlaubt. Zusätzlich wird der Spielfluss durch die Klatscher behindert.

„Der schwarze Ball stieg sofort hoch in die Luft und schoss dann direkt auf Harrys Gesicht zu. Harry schlug mit dem Schlagholz nach ihm, damit er ihm nicht die Nase brach, und der Ball flog im Zickzack hoch in die Luft.“ (Joanne K. Rowling. Harry Potter und der Stein der Weisen, Seite 185)

Anders als in der Vorlage können die Klatscher in unserer Welt nicht von alleine fliegen. Ähnlich wie beim Völkerball werfen sich die beiden Treiber deswegen drei Dodgebälle zu und versuchen die gegnerischen Spieler abzuwerfen. Wer getroffen wird muss auf der Stelle den festgehaltenen Ball loslassen, zu seinem Torring zurückrennen und diesen berühren, ehe er wieder am Spiel teilnehmen darf.

„Das hier, sagte Wood, ist der goldene Schnatz, und der ist der wichtigste Ball von allen. Er ist sehr schwer zu fangen, weil er sehr schnell und kaum zu sehen ist. Der Sucher muss ihn fangen. […] Der Sucher, der ihn fängt, holt seiner Mannschaft zusätzlich hundertfünfzig Punkte, und das heißt fast immer, dass sie gewinnt.“ (Joanne K. Rowling. Harry Potter und der Stein der Weisen, Seite 186)

Der Schnatz kommt bei uns erst ab der 19. Spielminute zum Einsatz. Diese Aufgabe wird vom sogenannten Snitch-Runner, einem komplett in Gelb gekleideten neutralen Spieler übernommen, an dessen Hosenbund ein Tennisball in einer Socke befestigt wird. Die Sucher der gegnerischen Mannschaften müssen den Snitch-Runner jagen und den Tennisball aus dessen Socke ziehen. Der Sucher, der den Schnatz fängt, beendet das Spiel und sichert seiner Mannschaft zusätzliche 30 Punkte. Der amerikanische Quidditchbund bietet die Möglichkeit an, sich als Schnatz zertifizieren zu lassen. Wer die dafür notwendigen Tests erfolgreich absolviert, darf sich als zertifizierter Snitch-Runner bezeichnen und wird für die offiziellen Punktspiele bevorzugt eingesetzt. Auch die europäischen Quidditchverbände arbeiten daran, zukünftig ein solches Programm anzubieten.


Die Spielerpositionen

Treiber: Wie im Völkerball werfen sich die Treiber insgesamt drei Dodgebälle zu. Wird ein Spieler von einem der sogenannten Klatscher getroffen, muss er den gehaltenen Ball fallenlassen und auf der Stelle zu seiner Torstange zurückkehren

Jäger: Die drei Jäger versuchen einen Volleyball, den Quaffel durch die gegnerischen Torringe zu befördern. Für jeden Treffer gibt es 10 Punkte.

Hüter: Wie der Torwart in anderen Ballsportarten bewacht der Hüter seine eigenen Torringe.

Sucher: Ab der 19. Spielminute wird der sogenannte Snitch-Runner, ein neutraler Spieler gelb gekleideter Spieler, auf das Spielfeld gelassen. Fängt der Sucher einen Tennisball aus dem Hosenbund des Snitch-Runners, so endet die Partie und die Mannschaft erhält 30 Punkte.


„Es ist einfach sehr intensiv und sozial“

Eine Gruppe von etwa zehn jungen Männern und Frauen hat sich heute im Hamburger Stadtpark versammelt. Die meisten tragen bereits ihre Trikots. Andere müssen sich noch ihre Jacken oder ihren Hufflepuff-Schal – eines der vier Häuser der Zauberschule Hogwarts – ausziehen, während Torringe, Bälle und Besen auf das Spielfeld geschleppt werden. Sally ist eine Spielerin der Quidditch-Mannschaft Hamburg Werewolves. Sie ist selbst großer „Harry Potter“-Fan, bezeichnet sich als einen stolzen Hufflepuff.

Aber das ist nicht die Hauptmotivation, weshalb sie Quidditch spielt, auch wenn sie über ihre „Harry Potter“-Gruppe auf Facebook auf den Sport aufmerksam wurde. „Es ist einfach sehr intensiv und sozial“, sagt sie, „Es hat keine Grenzen. Keine Grenzen von Rasse, Alter, Herkunft, Geschlecht.“ Früher hat sie eine ganze Weile Schwertschaukampf betrieben, aber „die Leute hier sind wesentlich cooler.“ Timo, ebenfalls ein „Harry Potter“-Fan, sieht das genauso. Der Zugbegleiter ist durch seine Freundin auf Quidditch gekommen. „Ich konnte mir darunter erst gar nicht vorstellen und bin dann mal mitgegangen und war sofort infiziert“, sagt er, „Wenn man Events hat, dann ist es ein großes Miteinander, wie eine große Familie.“

So wie ihnen geht es den meisten. Viele Spieler kommen durch die „Harry Potter“-Szene dazu, haben vorher aber gar keinen Sport gemacht. „Es gibt natürlich auch viele, die hören dann wieder auf, da es viel zu körperintensiv ist“, sagt Timo. Andere kommen durch Handball oder Rugby dazu. Als ursprünglich fiktive Sportart muss die Quidditch-Szene aber auch mit Ablehnung und Unverständnis leben. Abfällige Kommentare kommen immer wieder, ob auf Facebook oder bei einem der Turniere. Die Hamburger Quidditch-Spieler haben sich angewöhnt, darüber hinwegzusehen. „Die Leute sollen sich das erstmal angucken, bevor sie sich darüber lustig machen“, sagt Timo und lächelt, „Ich glaube, die meisten Leute würden dann nicht mehr darüber lachen.“

Heute Nachmittag steht für die Hamburger Mannschaft ein Testspiel gegen die Bremen Portkeys an. Im Gegensatz zu anderen Sportarten besteht im Quidditch keine Rivalität zwischen den beiden Nordteams. „Hamburg Bremen ist natürlich immer etwas Besonderes, aber es geht alles schon recht freundschaftlich zu“, sagt Timo. Die Bremer haben heute Morgen sogar schon am gemeinsamen Training teilgenommen.

Ein glückliches Team. Foto: Quidditch Club Hamburg

Zuvor wird noch einmal über die anstehenden Termine gesprochen. Am kommenden Wochenende steht eine Reise nach Darmstadt, unter anderem mit einem Spiel gegen die europäische Spitzenmannschaft Titans Paris, auf dem Programm. Und auch das gerade in den Kinos angelaufene Harry Potter Spin-off „Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“ mit Oscar-Preisträger Eddie Redmayne in der Rolle des Magizoologen Newt Scamander wird natürlich ausführlich diskutiert.

Quidditch wurde im Jahr 2005 von zwei Studenten des Middlebury Colleges im US-Bundesstaat Vermont entwickelt. Zwei Jahre später kam es zum ersten Spiel gegen das Team vom Vassar College. Mit steigender Beliebtheit wurden die Medien, unter anderem das Wallstreet Journal, MTV oder USA Today, auf den Sport aufmerksam und im Jahr 2010 traten in Manhattan bereits 46 Mannschaften vor 20.000 Besuchern zum World Cup an. Im Jahr 2014 erschien unter dem Titel „Mudbloods“ sogar eine Dokumentation. Auch nach Deutschland hat sich der Sport ausgebreitet. Besonders populär ist Quidditch bei Studenten im Alter zwischen 20 und 25 Jahren – der Generation, die mit den „Harry Potter“-Büchern und Filmen aufgewachsen ist. Inzwischen ist in Nordrheinwestfalen sogar eine Liga gestartet, in diesem Jahr startet diese auch in Norddeutschland.

„Man sollte einstecken können“

Die Spieler stürmen auf die Mittellinie zu und versuchen ihrer Mannschaft die Bälle zu sichern. Es entsteht ein Gerangel um den Quaffel, bei dem ein Bremer Jäger als Sieger hervorgeht. Sofort werfen die Treiber ihre aufgenommenen Klatscher auf gegnerische Spieler. Auch der den Quaffel führende Jäger wird getroffen und muss zu seinen Torringen zurückkehren. Ein weiterer Bremer Jäger sichert sich den Quaffel.

Am Spielfeldrand erklären die Zuschauer sich derweil gegenseitig die komplizierten Regeln: welcher der Bälle zum Torwurf benutzt werden darf und welche Funktion die anderen Bälle haben. Ein älteres Paar versucht verzweifelt zu verstehen, welche Sportart da gerade gespielt wird, während von den Kapitänen immer wieder ein lautes „Defense“ ertönt, um die eigene Mannschaft neu zu ordnen.

Nach einem Zweikampf holen die Hamburger sich den Quaffel. Die Jäger werfen sich gegenseitig den Ball zu, bis einer der Spieler frei vor den gegnerischen Torringen steht. Der Bremer Hüter kann den Treffer nicht verhindern. Es steht 10 zu 0. Beide Mannschaften nehmen wieder die Stellung ein. Jetzt sind die Bremer im Quaffelbesitz. Aber nicht lange, denn die Hamburger gehen aggressiv zu Werke. Zwei Jäger reißen sich gegenseitig um. Das ist im Quidditch ganz normal. „Man sollte einstecken können“, sagt Timo über die Härte des Spiels, „Es geht zur Sache, zum Beispiel beim Tackeln. Danach ist man auf dem Boden.“ Mit dem gewonnen Quaffel kontern die Hamburger in Überzahl. Erneut hat der Bremer Hüter keine Chance und wieder jubelt Hamburg.

Nach achtzehn Minuten kommt der Snitch-Runner ins Spiel und mit ihm die Sucher der beiden Mannschaften. Jetzt kann sich der Spielverlauf noch einmal ändern. Umso gnadenloser jagen die beiden Sucher den gelbgekleideten Spieler, während um sie herum das Spiel seinen Lauf nimmt.

Am Ende fängt Hamburg nach einer dramatischen Verfolgungsjagd den Schnatz und gewinnt mit 160 zu 60. Aber das Ergebnis ist gar nicht so wichtig, denn vor allem geht es den Spielern beim Quidditch darum, sich stetig zu verbessern und gemeinsam Spaß zu haben. Es zählt der Zusammenhalt innerhalb des Teams und auch in der gesamten Szene. Das sieht auch Sally so: „Da wird episch versucht, sich gegenseitig zu motivieren und es kommen Verbesserungsvorschläge untereinander. Alle helfen sich gegenseitig.“ Und das ist die wahre Magie vom Quidditch.

Lena Frommeyer ist Journalistin und Dozentin für Online-Journalismus am Mediencampus der HAW Hamburg. Sie betreut hier den Newsroom von FINK.HAMBURG. Sie schreibt u.a. für das Mobilitäts-Ressort beim SPIEGEL über Mobilität der Zukunft, Fahrradkultur, öffentlichen Nahverkehr und Verkehrspolitik. Davor hat sie unter anderem für das Stadtmagazin HAMBURG SZENE und die ZEIT gearbeitet.