Der Hamburger Kiez bekommt eine True-Crime-Serie.
In einer neuen ARD-Dokuserie soll der Zeitenwandel auf dem Hamburger Kiez in den 1980er Jahren beleuchtet werden. Foto: Mats Mumme.

Die Fachberatungsstelle “Sperrgebiet St. Pauli” ist gleichzeitig Treffpunkt und Anlaufstelle für Frauen aus dem Hamburger Prostitutionsmilieu. Julia Buntenbach-Henke leitet die Fachberatungsstelle. Mit FINK.HAMBURG sprach sie über Veränderungen im Milieu.

Seit 1983 bietet das Sperrgebiet St. Pauli Unterstützung für Frauen, die in der Sexarbeit tätig sind. Die Mitarbeiterinnen unterstützen bei Behördenangelegenheiten, bei Überschuldung, bei Fragen zur körperlichen und psychischen Gesundheit und beim beruflichen Neustart.

Die Reeperbahn ist eine Amüsiermeile für alle – aber neben den vielen Discotheken, Kneipen und Imbissbuden prägen auch heute noch die mehr als fünfzig Bordelle den Hamburger Kiez. Auch Sexarbeiterinnen stehen in den Straßen St. Paulis, haben der Reeperbahn den Spitznamen „die sündigste Meile der Welt“ eingebracht. Waren es früher die Damen vom Gewerbe, die in den Gassen ihre Dienste für die Matrosen anboten, so dominieren heute moderne Großbordelle das Geschäft mit der käuflichen Liebe.

Julia Buntenbach-Henke leitet die Fachberatungsstelle Prostitution der Diakonie Hamburg und hat fast täglich mit Frauen aus dem Hamburger Prostitutionsmilieu zu tun. Mit FINK.HAMBURG hat sie über die Prostitution auf St. Pauli und ihre Arbeit in der Beratungsstelle gesprochen.


FINK.HAMBURG: Warum ist gerade St. Pauli der Hotspot für Prostitution in Hamburg?

Julia Buntenbach-Henke: Das ist, glaube ich, einfach durch die Nähe zum Hafen gewachsen. Es kamen viele Seemänner mit vielen Bedürfnissen. Dadurch hat Prostitution einfach eine gewisse Stellung im Stadtteil. Und in den letzten 40, 50 Jahren ist die Reeperbahn zu einer riesigen Amüsiermeile geworden. St Pauli ohne Prostitution ist nicht mehr denkbar, sie gehört einfach dazu.

Natürlich hat sich auch die Prostitution auf St. Pauli verändert. Was man sagen kann ist, dass früher deutlich mehr Frauen in der Sexarbeit tätig waren. Von ehemals ungefähr 1500 Prostituierten gehen heutzutage noch circa 350 Frauen dieser Arbeit nach. Das liegt auf der einen Seite daran, dass viele Sexarbeiterinnen in Appartements und mehr im Stadtgebiet arbeiten, und auf der anderen Seite schafft das Internet andere Möglichkeiten, um Sex-Kontakte zu knüpfen. Das funktioniert deutlich einfacher und ist weniger sichtbar.

Wie hat sich die Arbeit von Prostituierten auf dem Kiez verändert?

Was sich verändert hat, ist die Gewalt. Bei den Fachberatungsstellen beobachten wir, dass die Gewalt heute extremer ist. Sie ist härter, und es wird schneller Gewalt gegen die Frauen angewendet. Das gilt für die körperliche Gewalt genauso wie für die psychische. Es kommt auch vor, dass nicht nur den Frauen Gewalt angedroht wird, sondern zum Teil auch ihren Familien und Menschen aus ihrem Umfeld. Viele Frauen leben auch in Liebesbeziehungen, in denen die Rolle des Mannes nicht so klar ist. Er ist einerseits der Partner, aber andererseits nimmt er auch das Geld ein, das sie verdient. Emotionale Bindung und psychische Gewalt spielen häufig eine Rolle, um die Frauen in die Prostituition zu bringen.

Außerdem gibt es hier eine Tendenz zu mehr Armut in der Prostitution. In den letzten Jahren sind viele Frauen aus Osteuropa gekommen – Bulgarinnen und Rumäninnen, die hier in den Laufhäusern arbeiten und das eben unter schlechten Bedingungen. Sie arbeiten als Prostituierte, weil sie nur so sich selbst ernähren und ihre Familien in der Heimat finanziell unterstützen können. Dieses Phänomen kann man in großen Laufhäusern häufig beobachten.

Die Beratungsstellen bieten den Frauen Hilfe an. Wie sieht die Arbeit konkret aus?

Derzeit sind wir eine Beratungsstelle mit zehn pädagogischen Mitarbeiterinnen. Wir haben zwei Standorte hier in Hamburg. Einmal in St. Georg, das ist eher der Bereich Straßenstrich, und den Standort St. Pauli, mit der Reeperbahn. Kern unserer Arbeit sind eigentlich die offenen Sprechstunden: An beiden Standorten haben wir vier Mal die Woche offen und die Frauen können kommen, etwas essen und Wäsche waschen. Sie können duschen, in die Kleiderkammer gehen oder auch einfach mal sein. Wir sind also auch Schutzraum. Dieser niedrigschwellige Zugang ist uns sehr wichtig und auch notwendig. Wir unterstützen bei der Arbeitssuche, begleiten zu Ämtern und erklären das Gesundheitssystem. Wir haben eine Ärztin in der Einrichtung, die uns unterstützt. Sie bietet zweimal in der Woche eine medizinische Sprechstunde an und behandelt die Frauen.

“Wir haben die Vermutung, dass unsere Tochter in die Prostitution möchte, was können wir jetzt tun?”

Um die Frauen überhaupt in die Einrichtung zu bekommen ist viel Straßensozialarbeit in St. Georg, St. Pauli, aber auch an anderen Orten Hamburgs notwendig. Dort sprechen wir die Frauen auf der Straße an, verteilen Kondome, Gleitmittel, Süßigkeiten und bieten so einen ersten Kontakt an. Frauen in der Prostitution sind oft misstrauisch. Sie haben viel Diskriminierung und Stigmatisierung erlebt und haben häufig auch einfach ein größeres Misstrauen gegenüber öffentlichen Einrichtungen. Das versuchen wir über die Straßensozialarbeiter abzubauen. Wir beraten aber auch Angehörige, Fachkräfte und das Umfeld. Wir haben Eltern, die anrufen und sagen: “Wir haben die Vermutung, dass unsere Tochter in die Prostitution möchte, was können wir jetzt tun, wie können wir sie unterstützen?”

Am 01. Juli 2017 ist das Prostituiertenschutzgesetz in Kraft getreten. Wird sich zukünftig die Prostitution auf dem Kiez verändern?

Ich glaube nicht, dass sich sich die Prostitution auf dem Kiez großartig verändern wird, nur weil die Betreiber jetzt durch die Auflagen des Prostituiertenschutzgesetzes dafür sorgen müssen, dass nur angemeldete Frauen in ihren Establishments arbeiten. Auch die Frauen, die hier auf der Straße oder in den Hotels arbeiten werden sich anmelden, weil klar ist, dass hier kontrolliert wird. Die Frage ist, zu welchem Preis das geschieht? Einige Frauen, die unsere Beratungsangebote nutzen, sind schon durch die Sperrgebietsverordnung mit Bußgeldern belastet. Das Arbeiten ohne Anmeldung im Sperrgebiet bedeutet, dass diese Frauen doppelt mit Bußgeldern belangt werden können – mit der Konsequenz, dass die Frauen noch stärker unter Druck geraten, ihr Geld in der Prostitution verdienen zu müssen. Durch häufigere Kontrollen an einem Ort könnte ich mir vorstellen, dass zum Beispiel ein Straßenstrich in einem anderen Stadtteil auftaucht, oder dass sich die Prostitution mehr an die Ränder der Stadt verschiebt, in Industriegebiete, wo dann einfach eine größere Fluktuation herrscht. Das bedeutet dann für uns als Fachberatungsstelle, dass wir mehr tun müssen, mehr aufsuchen müssen, um diese Frauen zu erreichen.