Am Tresen der Hong-Kong Bar im Hamburger Berg kann man bei Bier und Mexikaner versacken. Was viele nicht wissen: Das Lokal gehörte einem Mann, der 1944 vom NS-Regime verschleppt wurde. Damals hieß der Kiez noch Chinesenviertel. Seine Tochter erzählt seine Geschichte.

St. Pauli ist das Vergnügungsviertel Hamburgs mit Sexshops, Privattheatern und Bars. Vor dem zweiten Weltkrieg sah das noch anders aus. Eng aneinanderstehende Häuser, schmale Straßen und chinesische Gaststätten prägten das Bild. St. Pauli war Hamburgs Chinatown.

Chinesenaktion: Verschleppt und vergessen

Das wäre heute vielleicht immer noch so, hätte es zu Zeiten des NS-Regimes keine Chinesenaktion gegeben. Viele der dort lebenden Asiaten wurden 1944 verschleppt und in Arbeitslagern inhaftiert. Die Gestapo misshandelte über 100 chinesische Zuwanderer. Heute findet man kaum noch Spuren des ehemaligen Chinesenviertels – nur das Hotel Hong-Kong ist übriggeblieben.

Interview mit Marietta Solty, Gastwirtin der Hong-Kong Bar (Teaser) | FINK.HAMBURG

Chong Tin Lam und seine Hong-Kong Bar

Die Hong-Kong Bar ist eine der ältesten auf der Partymeile Hamburger Berg. Früher wurde sie von Chong Tin Lam geführt, der 1944 von den Nazis verhaftet wurde. Heute leitet seine Tochter Marietta Solty den Laden und kämpft gegen das Vergessen ihrer Familiengeschichte. Das Lokal ist seit den 1920er Jahren in Familienbesitz. Zunächst führte Soltys Großonkel die Bar, Anfang der 1930er Jahre übernahm ihr Vater das Hong-Kong und baute es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Hotel aus. Seine Tochter übernahm 1982 den Laden.

St. Pauli: Hamburgs China-Town

Das Chinesenviertel lag zwischen St. Pauli und Altona, das Zentrum war die Schmuckstraße. 1731 legte das erste Handelsschiff aus China im Hamburger Hafen an. 1898 eröffnete die Reederei Hapag einen monatlichen Liniendienst zwischen Shanghai und der Hansestadt. Viele chinesische Seeleute gelangten so nach Hamburg. Sie fuhren als Heizer oder Wäscher auf den Dampfschiffen mit. Einige blieben. In St.Pauli entstanden chinesische Restaurants, Kneipen und Hotels.

Opiumhöhlen und chinesische Gangster

Chinesische Gangster und exotisches Essen
Der Historiker Lars Amenda beschäftigt sich in mehreren Publikationen ausführlich mit dem Verhältnis zwischen Hamburgern und chinesischen Zuwanderern vor dem Zweiten Weltkrieg.

Marietta Soltys Vater gehörte zu den Einwanderern. Der gelernte Koch kam auf einem Handelschiff an den Landungsbrücken an und eröffnete 1934 die Hong-Kong Bar. Schnell entwickelte sie sich zu einem beliebten Treffpunkt chinesischer Seeleute und Zuwanderer.

In Hamburg war man sich uneinig darüber, was man von den Einwanderern halten sollte. Viele sahen sie als Bereicherung, andere erlebten sie als Bedrohung. Einige bewunderten die Kulturgüter aus Fernost und genossen das chinesische Essen.  Andere hatten Vorurteile: Von Opiumhöhlen, unchristlichem Verhalten und Kriminalität im Chinesenviertel war die Rede. Gelegentliche Drogenfunde nährten die Gerüchte um chinesische Gangster und ein geheimes unterirdisches Tunnelsystem unter St. Pauli.

Die Realität sah anders aus. Die meisten Zuwanderer hatten einen geregelten Alltag, betrieben Gaststätten oder arbeiteten im Einzelhandel. Häufig verliebten sich Chinesen und Deutsche ineinander. Chong Tin Lam lebte zunächst mit einer Polin in Hamburg zusammen, der Mutter von Marietta Solty. Später lernte er eine Frau aus Heidelberg kennen und trennte sich von Mariettas Mutter.

Interview mit Marietta Solty, Gastwirtin der Hong-Kong Bar (Teil 1) | FINK.HAMBURG

Verhaftung im Morgengrauen

Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht ergriffen, schränkten sie die Rechte der chinesischen Seeleute und Zuwanderer immer weiter ein. Die rassenpolitische Propaganda führte zur gesellschaftlichen Ausgrenzung der Einwanderer. Das nationalsozialistische Regime übte auch Druck auf die Reedereien aus, diese entließen daraufhin einen Großteil der chinesischen Arbeiter.

Den chinesischen Gaststättenbetreibern wurden immer schärfere Gesetze auferlegt. Die Zollfahndung und die Polizei führten regelmäßig Razzien durch – oft unter fadenscheinigen Begründungen.

Im Mai 1944 klopfte nachts die Polizei an die Türen der Bewohner und Gewerbetreibenden im Chinesenviertel. Die Gestapo verhaftete 129 chinesische Männer und verschleppte sie in verschiedene Konzentrationslager. Dort wurden sie gefoltert, misshandelt und getötet. Später sprach man in dem Zusammenhang von der Chinesenaktion. Mariettas Vater war einer der Betroffenen. Zunächst kam er zum Verhör nach Fuhlsbüttel. Der Historiker Lars Amenda erklärt:

“In Fuhlsbüttel hatte die Gestapo einen eigenen Verhöhrraum. eine Folterkammer, muss man eher sagen.”

Mariettas Vater wurde Verrat vorgeworfen. Er wurde durch einen Landsmann denunziert. Zunächst kam Chong Tin Lam in das Untersuchungsgefängnis Holstenglacis und später in ein Konzentrationslager bei Stendal. Marietta entkam der Gefahr durch die Gestapo nur knapp. Ihr Vater hatte sie kurz vorher zu der Familie seiner Lebensgefährtin nach Heidelberg geschickt.

Einige der verschleppten Chinesen starben bereits durch die Folter in Fuhlsbüttel. Im Herbst 1944 wurden die Überlebenden in das Arbeits- und Erziehungslager Wilhelmsburg transportiert. Dort leisteten sie Zwangsarbeit, lebten unter schlechten hygenischen Bedingungen und erhielten kaum medizinische Betreuung. Nach heutigen Kenntnissen sind mindesten 17 der chinesischen Verfolgten in Wilhelmsburg gestorben.

“Sein ganzes Leben wurde ihm weggenommen.”

Interview mit Marietta Solty, Gastwirtin der Hong-Kong Bar (Teil 2) | FINK.HAMBURG

Chong Tin Lam kam 1945 nach Kriegsende aus Stendal zurück nach Hamburg – und wollte seine Hong-Kong Bar wieder eröffnen. “In der Zwischenzeit war der Laden jedoch zwangsvermietet worden”, sagt Marietta Solty. Erst 1948 durfte ihr Vater die Bar erneut pachten und baute sie zu einem Hotel aus. Die Räume waren zu dem Zeitpunkt komplett leer: Es gab keine Möbel, kein Geschirr, keine Küche. Der Unternehmer musste seinen Betrieb neu aufbauen.

Lam versuchte eine finanzielle Entschädigung zu bekommen, erhielt aber nur eine geringe Wiedergutmachung vom deutschen Roten Kreuz. In den 1980er Jahren übernahm Marietta Solty schließlich das Hotel Hong-Kong. Obwohl Solty die Bar schon seit mehr als 30 Jahren leitet, ist ihr Vater immer noch präsent: Sein Porträt hängt gegenüber vom Tresen.

Und es gibt weitere Relikte aus der Vergangenheit: zum Beispiel die Eingangstür. “Die wurde natürlich schon mal gestrichten”, sagt Solty und lacht. Auch die leuchtenden Buchstaben über dem Eingang stammen noch aus der Zeit ihres Vaters. Der Schriftzug wurde aufwendig restauriert und ist mittlerweile Kult.

Mariette Solty in ihrer Hong Kong Bar auf dem Hamburger Berg. Foto: Ulrike Schmidt.
Mariette Solty in ihrer Hong-Kong Bar auf dem Hamburger Berg. Foto: Ulrike Schmidt.

Entschädigung und Aufarbeitung

Auch die anderen chinesischen Inhaftierten erhielten keine Entschädigung. Viele von ihnen standen vor einer existentiellen Krise. Da die Chinesenaktion nicht als politische, sondern als Polizeiaktion angesehen wurde, hatten die Verfolgten keinen Anspruch auf eine Wiedergutmachung. Die chinesische Gemeinde stellte mehrere Anträge beim entsprechenden Amt, die allesamt abgelehnt wurden. Die Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs war für viele Verfolgte traumatisch. Der Historiker Lars Amenda erklärt:

Die Gedenktafel an der Talstraße auf St. Pauli. Foto: Astrid Benoelken
Die Gedenktafel an der Talstraße auf St. Pauli. Foto: Astrid Benoelken.

“Die fehlende AnerkennunG der Verfolgung war wie ein neuer Schlag ins Gesicht.”

Eine gesellschaftliche Aufarbeitung begann erst in den 1980er Jahren. Zunächst interessierten sich Journalisten für das Thema, mittlerweile gibt es Spielfilme, wissenschaftliche Arbeiten und Theaterstücke, die die Ereignisse aufgreifen.

Kürzlich haben sich zudem verschiedene Initiativen gegründet. Vor allem der Verein St. Pauli Archiv hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Hamburgerinnen und Hamburgern diesen Teil der Vergangenheit ihrer Stadt näher zu bringen. 2012 wurde eine Gedenktafel an der Talstraße errichtet. In der Schmuckstraße liegt mittlerweile ein Stolperstein für den chinesischen Verfolgten Woo Lie Kien. “Wichtig ist, dass wir das Geschehene nicht vergessen”, sagt Marietta Solty.

Interview mit dem Historiker Lars Amenda | FINKHAMBURG