Höher, schneller, digitaler – auf dem Hamburger Frühlingsdom locken Fahrgeschäfte wie die Wilde Maus XXL oder Dr. Archibald mit Virtual Reality. Selbst den kleineren Schaustellern gefällt das.

Mit fast 60 Kilometern pro Stunde rast der Körper dem Betonboden entgegen, der Kopf dagegen macht einen Looping. Ein animiertes Segelflugzeug fängt den Sturz ab. Wind braust durch die Haare. Wusch – mitten durch ein Maisfeld. Die Gondel der echten Achterbahn fährt mit einem Ruck um die Kurve. In der virtuellen Welt dreht der Holzwagen in die gleiche Richtung ab. Der Blick rast weiter durch die Szenerie eines Zeichentrick-Bauernhofes. Das Virtual-Reality-Erlebnis kann bei der Wilden Maus XXL dazu gebucht werden. Die VR-Achterbahn ist eine der Attraktionen auf dem Hamburger Frühlingsdom 2019.

Zwei Euro Aufpreis kostet das Fahren mit VR-Brille. “10 bis 15 Prozent der Fahrgäste nutzen das”, sagt Betreiber Max Eberhard. Viel mehr ginge auch nicht, sonst dauere der Umstieg zu lange. Nach seinen Angaben ist die Wilde Maus XXL weltweit die größte mobile Achterbahn mit VR-Ride. “Sonst finden Sie so etwas nur in Freizeitparks”, sagt der Unternehmer. Eine halbe Million Euro hat Eberhard, Schausteller in achter Generation, allein in die Entwicklung des Films, die VR-Brillen und die dazugehörigen Smartphones investiert. “Marketing”, sagt er. “Es gibt viel Konkurrenz. So bekommt man den ein oder anderen Platz, den man sonst nicht bekommt.”

In 22 Metern Höhe nimmt die Gondel der Achterbahn die nächste Kurve. Dort oben ist der Abgrund gefährlich nah. In der Virtualität bekommt der Fahrgast davon nichts mit. Eine Männerstimme tönt aus den Kopfhörern: “Jetzt nach rechts” Es ruckelt. Hände klammern sich um den Sicherheitsbügel. Der Wagen rast auf eine Holztür zu. Beim Aufprall birst sie in alle Einzelteile. Dann taucht eine Maus in rotem Overall auf. Sie winkt. Und schon geht es 60 Meter in die Tiefe. Über eine Straße. Über eine saftige Wiese. John Paul Youngs “Love is in the air” wird übertönt von schneller Countrymusik. Doch statt nach frischem Heu riecht es nach Bratenfett mit Röstaromen.

Die Technik der VR-Achterbahn ist wetteranfällig

Für die fast perfekte Illusion ist gutes Wetter nötig. Als die ersten Regentropfen vom Himmel fallen, greift Techniker Markus Hader zum Walkie-Talkie. “Bitte erst mal kein VR mehr verkaufen.” Dann erklärt er: “Das sind ja normale Brillen, wie für zu Hause.” Die sollten nicht nass werden.

Schwierigkeiten mit der Technik hat zu Beginn des Doms auch die Hamburger Geisterfabrik: Gerade erst eingeweiht, dreht sich bei der interaktiven Geisterbahn mit Lasershooter-Spiel am vierten Domtag nur ein großes Zahnrad auf dem Dach. Wie ein Saloon in einer Geisterstadt steht das Fahrgeschäft ansonsten verlassen da. “Wir wissen noch nicht, was das Problem ist”, sagt Darlin Rasch, Tochter des Besitzers. Sie zuckt mit den Schultern. “Unsere Techniker sind dran.” Die Dombesucher zieht es weiter, vorbei an Schmalzgebäck, Bratwürsten und Heliumballons.

Spätestens vor dem Fahrgeschäft Dr. Archibald werden viele stehenbleiben. Zwei Jugendliche zücken ihr Smartphone und versuchen, die 900 Quadratmeter große Fassade auf einem Foto einzufangen. Ein Urwald aus Blumen und Fliegenpilzen, ein Eulenkopf, der aus zwei Meter großen LED-Augen hinabstarrt, zuckende Lichter und Feuerfontänen – die Vorderfront könnte aus einem Tim-Burton-Film stammen. Dahinter verbirgt sich: eine Halle mit nackten Schienen. Denn das eigentliche Fahrerlebnis ist eine VR-Zeitreise, auf der die Besucher Dr. Archibald suchen.

Mann steht auf dem Hamburger Frühlingsdom vor dem Fahrgeschäft Dr. Archibald und zeigt eine VR-Brille.
VR-Fahrerlebnis auf dem Hamburger Frühlingsdom 2019: Volker Greier, Bruder des Inhabers, ist beim Fahrgeschäft Dr. Archibald für die Technik verantwortlich. Foto: Sandra Jütte

Die Idee dazu hatte Schaustellersohn Patrick Greier, der die einstige Geisterbahn vor vier Jahren für fast vier Millionen Euro umbauen ließ. “Mein Bruder war schon immer ein Visionär”, sagt Volker Greier. “Als er mir das erste Mal davon erzählt hat, war ich sprachlos.” Seit der Eröffnung 2017 werde die Technik aber auch täglich weiterentwickelt. Die Gondeln im Steam-Punk-Look – einem Mix aus futuristischen Technikelementen und dem Stil des viktorianischen Zeitalters – seien ein “Meisterwerk”. In ihnen sind sowohl die Computer für das VR-Erlebnis als auch Infrarot-Sensoren zur Abstandsmessung versteckt. An einem durchschnittlichen Tag verbraucht das VR-Fahrgeschäft in etwa so viel Strom wie vier Einfamilienhäuser.

Sobald die Gondel losfährt, fliegt der Fahrgast durch einen virtuellen Zeittunnel. Und landet 68 Millionen Jahre in der Vergangenheit. Inmitten von Farnen reißt ein Tyrannosaurus das Maul auf. Daneben schwebt der Eulenkopf. “Hallo, da seid ihr ja endlich”, krächzt er. Die Zeitmaschine rödelt. Vom Doktor keine Spur. Der Zeittunnel katapultiert die Passagiere in die nächste Welt. Der Magen dreht sich ein wenig mit. Nach zweieinhalb Minuten VR-Fahrt landet der Besucher in einer psychedelischen Kulisse aus überdimensionalen Kunststoffpilzen. Die Hüte verteilen buntes Neonlicht im Raum. Am Boden sprudelt Wasser. Bei jedem Schritt geben Druckdämpfer unter den Füßen nach. Aber hinter der nächsten Kurve schimmert schon das Tageslicht.

Frühlingsdom: Nicht alle Besucher VR-begeistert

Sabine Viti tritt mit einem Lächeln zurück in die Realität. Ihre Augen sind noch etwas glasig. Sie war gerade zum dritten Mal im Dr. Archibald. “Toll, dass es so etwas gibt”, findet die Hamburgerin. “Das ist mal was anderes. Trifft den modernen Nerv.” Andere Dombesucher sind da skeptischer und inspizieren erst mal die Infotafel vor dem Tickethäuschen. Nicht alle können etwas mit Virtual Reality anfangen.

Bodenständiger ist da Peter Heitkamps Ballonfahrt. Nach Jahrzehnten hinter der Pommesbuden-Theke hat der Schausteller vor wenigen Tagen das Familienkarussell mit nostalgischem Flair eröffnet. Hinter ihm im Kassenhäuschen stehen noch in Folie verpackte Blumen und ein Beutel Münzen, die Glück bringen sollen. Auf die Frage, warum er sich für dieses Fahrgeschäft entschieden hat, lehnt er sich zurück und sagt: “Wir wollten etwas für die ganze Familie, fahren wie früher. Außerdem bin ich 60 Jahre alt. Was soll ich mir jetzt noch so ein High-Tech-Ding kaufen?”

Er drückt ein paar Knöpfe auf dem Pult vor ihm und die metallenen Heißluftballons gleiten in die Luft. Im Hintergrund rasen die Wagen der Wilden Maus XXL in die Tiefe. “Aber es ist gut, wenn es Kollegen gibt, die das Geld investieren”, sagt Heitkamp. “Da profitieren wir alle von. So etwas ist gut für die ganze Veranstaltung.” Und die Gondeln drehen sich weiter.

Titelfoto: Sandra Jütte