Eine Essstörung wird häufig als “Frauenkrankheit” betrachtet — aber auch Männer können unter krankhaftem Essverhalten leiden. Die Fotografin Mafalda Rakoš hat in ihrem Fotoprojekt “A Story to Tell” elf Männer mit Essstörungen porträtiert.
Florian Reimer war noch nie gut im Judo. Und so richtig Spaß gemacht hat ihm die japanische Kampfsportart auch nicht. Besonders schlimm waren jedoch die Wettkämpfe. Was passiert, wenn man so leicht ist, dass es keinen Gegner in der Gewichtsklasse gibt? Man muss nicht antreten. Ganz langsam und unbemerkt rutschte Florian so in eine Essstörung.
In der Schule hatte der heute 26-Jährige viele Probleme. Er wurde gemobbt, eckte an und war einfach anders als die anderen. “Egal, was ich gemacht habe, ich wurde von den anderen nicht gemocht. Die Essstörung war etwas, bei dem ich die Kontrolle hatte”, sagt Florian. “Sie war tröstend, während alles um mich herum aussichtslos erschien.” Seinem Umfeld sei zwar aufgefallen, dass er deutlich abgenommen hatte, aber niemand sprach ihn darauf an. Erst als er mit einer Hirnhautentzündung im Krankenhaus lag, stellten Ärzte die Diagnose “Essstörung”.
Essstörung: Auch Männer leiden darunter
Florian ist einer von elf Protagonisten der Fotoserie “A Story to Tell”, die vom Hamburger Therapiehilfe Verbund sMUTje unterstützt wird. Wir treffen ihn auf der Eröffnungsfeier der Ausstellung in der Kulturetage Altona. “Eigentlich wollte ich gar nicht an dem Projekt teilnehmen”, erzählt Florian. “Meine Essstörung ist ziemlich lange her und ich wusste nicht, was ich darüber erzählen soll.” Der Ansatz, junge Männer und nicht Frauen mit Essstörungen zu porträtieren, überzeugte ihn dann aber doch.
Die Wiener Dokumentarfotografin Mafalda Rakoš hat für ihre zweite große Fotoreihe über Essstörungen Männer wie Florian begleitet, die unter Anorexie, Bulimie oder der Binge-Eating-Störung (Erklärung s. Kasten am Ende des Artikels) leiden, darunter auch einige Trans-Männer. Ihr war es wichtig zu zeigen, dass auch Männer unter Essstörungen leiden können. “Männer haben viel weniger Identifikationsmöglichkeiten damit. Auch vom Umfeld wird die Krankheit oft erst viel später erkannt”, sagt die Fotografin.
In ihrem ersten Projekt “I want to disappear” begleitete Rakoš essgestörte Frauen. Bereits damals wollte sie eigentlich Männer mit Essstörungen fotografieren, fand aber niemanden, der mit ihr das Projekt umsetzen wollte. “Ich glaube, jede Person, die man auf der Straße anspricht und fragt, ob sie schon einmal was von Essstörungen bei Männern gehört hat, verneint diese Frage”, sagt Rakoš. “Viele denken, Essstörungen seien eine Mädchenkrankheit. Ich glaube schon, dass das Bewusstsein in der Gesellschaft wächst, aber die Wahrnehmung ist viel weniger da als bei Frauen.”
Ursachen sind vielschichtig und individuell
Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zeigt etwa ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen im Alter von elf bis 17 Jahren Symptome von Essstörungen. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Die Gründe für die Erkrankung sind laut BZgA vielfältig: Genetische Faktoren, ein instabiles Familienumfeld, das vorherrschende Schönheitsideal, ein geringes Selbstwertgefühl — all diese Faktoren können eine Essstörung fördern.
Während ihrer Fotoprojekte gewann Rakoš den Eindruck, dass es einige Gemeinsamkeiten bei Männern und Frauen in Hinblick auf die Gründe für ihre Essstörung gibt: “Viele leiden unter Depressionen, haben komplizierte Familienverhältnisse, sind sensibel und versuchen, ihre Gefühle zu unterdrücken, indem sie ihr Ess- und Sportverhalten kontrollieren.” Für Männer sei zusätzlich belastend, nicht dem klassischen Männlichkeitsbild zu entsprechen: “Viele unserer Protagonisten haben erzählt, dass es ihnen schwerfällt, ihren Platz zu finden. Von außen wird oft sanktioniert, wenn man als Mann nicht stark, laut oder mutig ist.”
In ihren Aufnahmen hält die junge Fotografin intime Momente der Protagonisten fest — so zeigt sie die Männer beim Kochen in der Küche oder in den Räumen ihrer alten Schule. “Ich habe versucht, mich als Fotografin zurückzunehmen”, sagt sie. Die porträtierten Männer hätten selbst entschieden, wo und wie sie fotografiert würden. Auf diese Art sind feinfühlig umgesetzte, sehr private Aufnahmen entstanden.
Einer von zehn Erkrankten ist männlich
“Die Magersucht ist eine typisch weibliche Erkrankung”, sagt Liane Hammer, therapeutische Leiterin des Versorgungszentrum Essstörung Anad e.V.. Nur eine von zehn essgestörten Personen sei bei diesem Krankheitsbild männlich. Essgestörte Männer würden oft eine Muskeldysmorphie, auch Muskelsucht genannt, entwickeln: “Betroffene empfinden ihren Körper nicht als muskulös, beziehungsweise männlich genug. Um das für sie ideale Körperbild zu erreichen, wird extrem viel Sport betrieben und diese Aktivität mit einer eiweißbetonte Ernährung und oft auch mit illegalen Substanzen wie beispielsweise Anabolika unterstützt.” Eine Essstörung trete deshalb bei Männern oft in Kombination mit Sport auf.
Frühe Hilfe, bessere Heilungschancen
Für alle Formen von Essstörungen gilt: Je früher eine professionelle Beratung und Behandlung beginnt, desto besser sind die Heilungschancen. Florian bekam nach etwa zwei Jahren professionelle Hilfe. “Vom Krankenhaus ging es für mich direkt in eine Klinik für Essgestörte”, berichtet er. “Danach habe ich vier Jahre in einer WG für Essgestörte gewohnt, das hat mir sehr geholfen.”
Heute hilft Florian anderen. “Ich bin Ergotherapeut in einer psychiatrischen Klinik und arbeite mit Menschen zusammen, die sich aufgrund seelischer Störungen in einer Krise befinden.” Auch Sport mache ihm inzwischen Spaß: “Was ich früher nur gemacht habe, um Gewicht zu reduzieren, mache ich heute einfach gerne.”
Die Ausstellung “A Story to Tell” ist vom 16. November 2019 bis zum 9. Februar 2020 im Fotomuseum Rotterdam zu sehen.
Titelfoto: Mafalda Rakoš