Schon mal eine App auf Rezept verschrieben bekommen? Oder Smartwatchdaten vom Hausarzt auswerten lassen? Adreas Meusch, Experte für Gesundheitspolitik, erklärt, wie die Digitalisierung in der Gesundheitsbranche Fahrt aufnehmen könnte.
Bevor Millionen Bundesbürger:innen ein Impfzertifikat auf ihrem Smartphone hinterlegt hatten, war die Nutzung digitaler Gesundheitsdienste eher noch die Ausnahme. Trotzdem geht es auch jenseits der Corona-Pandemie mit Videosprechstunden, elektronischen Patientenakten und E-Rezepten voran. Wir haben mit Dr. Andreas Meusch, Dozent für Gesundheitspolitik an der HAW Hamburg, über den Status Quo gesprochen – und werfen gemeinsam einen Blick in die Zukunft.
FINK.HAMBURG: Wie beurteilen Sie aktuell den Stand der Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung?
Es gibt Bereiche, da läuft die Digitalisierung hervorragend. Das sind zum einen die Abrechnung zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen und zum anderen der Service der Krankenkassen. Die Abläufe sind hier zum größten Teil digitalisiert.
Völlig rückständig sind wir bei der Digitalisierung der Versorgung.
Völlig rückständig sind wir bei der Digitalisierung der Versorgung. Für viele Mitarbeitende in Arztpraxen, Kliniken und anderen Gesundheitsberufen bedeutet Digitalisierung noch immer Mehrarbeit statt Entlastung. Das ist solange zutreffend, wie wir Arbeitsvorgänge sowohl analog als auch digital machen.
FINK.HAMBURG: Wie kann Digitalisierung zur Entlastung beitragen?
Digitale Verfahren können erst dann zu Arbeitserleichterungen führen, wenn der gesamte Versorgungsprozess oder zumindest relevante Teile digital sind. Deutschland ist aber unbestrittener Champion bei Medienbrüchen: Digitale Dokumente müssen häufig ausgedruckt werden, ausgedruckte Dokumente werden digitalisiert.
In der Produktion von digitalen Daten ist Deutschland übrigens amtierender Europameister. Die EU-Kommission hat im Februar 2022 entsprechende Zahlen aus 30 europäischen Ländern veröffentlicht: Nirgendwo sind Datenströme so groß, wie in Deutschland. Was wir nicht schaffen, ist die relevanten Daten am sogenannten Point of Care oder beim Patienten verfügbar zu machen.
FINK.HAMBURG: Welche Rolle spielt die Politik und was erhoffen Sie sich von der neuen Bundesregierung?
Hier muss man unterscheiden nach Bund und Land. Die primäre Zuständigkeit für den öffentlichen Gesundheitsdienst – die Krankenhäuser, die Pflegeheime und den Rettungsdienst – liegt beim jeweiligen Bundesland. Hier gibt es aus meiner Sicht deutlich mehr Schatten als Licht. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Bundesländer sind für die Investitionskosten der Kliniken und Pflegeheime zuständig, bleiben hier aber deutlich hinter den Vorgaben zurück. Hamburg ist im Vergleich der Bundesländer vorbildlich, trotzdem ist es zu wenig. Digitalisierung verursacht am Anfang hohe Investitionskosten, trotzdem besteht Handlungsbedarf.
Die Liste der Versäumnisse auf Bundesebene ist ebenfalls lang: Die Bundesregierungen der letzten 25 Jahre haben die Bedeutung der Digitalisierung für Deutschland und das Gesundheitswesen dramatisch unterschätzt. Das ist schwer aufzuholen. Die Forschungsministerin der letzten Bundesregierung hat beispielsweise gesagt: „Wir brauchen nicht an jeder Milchkanne 5G.“ Aber das ist falsch. Und das wird Ihnen jeder Milchbauer auf dem Land bestätigen. Ohne Digitalisierung können wir zudem im Gesundheitswesen und in der Landwirtschaft unsere Klimaziele nicht erreichen.
Völlig versagt hat die Politik dabei, rechtzeitig in Infrastruktur zu investieren und Rahmenbedingungen zu setzen, die die Interoperabilität der verschiedenen Soft- und Hardwaresysteme gewährleistet, damit sie nahtlos zusammenarbeiten können. Deshalb haben wir in Deutschland so viele digitale Inseln, die nicht miteinander kommunizieren können.
FINK.HAMBURG: Welche Erwartungen haben Sie an die Politik?
Die Bundesregierung und die Regierungen der Länder müssen die notwendigen Investitionen finanzieren, die Infrastruktur flächendeckend auf den 5G-Standard heben und die Interoperabilität der unterschiedlichen Hardware- und Softwaresystem möglichst eng an europäischen Standards voranbringen.
Ungenutzte Potentiale in der Gesundheitsversorgung
FINK.HAMBURG: Warum nutzen so wenige Menschen in Deutschland die Vorteile der elektronischen Patientenakte?
Es gibt die elektronische Patientenakte erst seit einem guten Jahr. Der Branchenverband Bitkom hat im November 2021 eine Befragung durchgeführt, die ergab, dass 0,5 Prozent der gesetzliche Versicherten sie bereits nutzen.
FINK.HAMBURG: Sind das viele?
Zum Vergleich: Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hatte 2021 eine Auflage von 683.000 Exemplaren. Das entspricht rund 0,8 Prozent der Bevölkerung in Deutschland. Mehr als die Hälfte (52 Prozent) der Befragten gaben übrigens an, bislang noch nicht von ihrer Krankenkasse oder der Ärzteschaft über die elektronische Patientenakte informiert worden seien.
FINK.HAMBURG: Was ist mit den Apps der Krankenkassen: Bieten sie keinen erkennbaren Mehrwert für Patient:innen?
Ich habe selbst die App meiner Krankenkasse installiert, und das war wegen der verschiedenen gesetzlichen Vorgaben und des Datenschutzes viel aufwendiger als die Installation einer Banking-App. Außerdem ist der Nutzen der Apps noch relativ begrenzt. Die wenigen Informationen aus Arztbesuchen sind teilweise erst nach über einem halben Jahr verfügbar. Das liegt daran, dass die Krankenkassen die Informationen nicht schneller von den Kassenärztlichen Vereinigungen bekommen. Eine tages- oder zumindest wochenaktuelle Abrechnung sollte dringend umgesetzt werden.
FINK.HAMBURG: Was halten Sie von Apps auf Rezept?
Apps auf Rezept sind sogenannte digitale Gesundheitsanwendungen, die Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen ihren Patient:innen verschreiben können, wenn dies als Begleitung einer Behandlung sinnvoll erscheint. Die Kosten übernehmen die (gesetzlichen) Krankenkassen.
Hier war Deutschland endlich einmal bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen vorn. Der Gesetzgeber hat mit Geldern der Krankenkassenmitglieder und ihrer Arbeitgeber:innen diese grundsätzlich sinnvolle Entwicklung beschleunigt. Das bringt in einigen Bereichen schon Vorteile für die Nutzer:innen. Wenn diese zukünftig vielleicht die Möglichkeit erhalten, die gewonnenen Daten auf eigenen Wunsch mit der elektronischen Patientenakte zu verbinden, tun sich weitere Möglichkeiten auf.
Im Moment ist die Nutzer:innenzahl von Apps auf Rezept noch übersichtlich. Zur Zeit gibt es 28 zugelassene und von den Krankenkassen bezahlte Apps, 25 weitere Anträge liegen beim zuständigen Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte im Zulassungsverfahren. Bei Deutschlands größter Krankenkasse, der Techniker, gab es Ende Januar 2022 knapp 23.000 Anträge, diese Apps zu nutzen. Bei über zehn Millionen Versicherten ist das noch kein Durchbruch in der Versorgung.
Sind sensible Daten sicher?
FINK.HAMBURG: Wo sehen Sie Gefahren durch die Digitalisierung insbesondere im Umgang mit sensiblen Gesundheitsdaten?
Datensicherheit ist das zentrale Thema. Absoluten Schutz kann es nicht geben, das gilt allerdings auch für analoge Daten. Auch die liegen manchmal in Arztpraxen oder Kliniken nicht dort, wo sie aus Gründen der Datensicherheit liegen sollten.
Eines der größten Sicherheitsprobleme besteht meiner Meinung nach darin, dass viele Menschen sensible Gesundheitsdaten nicht über eine gesicherte Infrastruktur mit Servern in Europa versenden, sondern ungesichert über Mailsysteme und Messenger-Dienste – einfach aus Komfort. Deshalb verbessert der zügige Ausbau der Infrastruktur die Datensicherheit.
FINK.HAMBURG: Sollten Ihrer Meinung nach Daten von Smartdevices, etwa eine mit der Smartwatch aufgezeichnete Herzfrequenz, für eine Diagnose herangezogen werden dürfen?
Hierfür gibt es bereits Verfahren der Zulassung, wir stehen aber erst am Anfang. In der Dermatologie sind wir schon weiter. Die Qualität der Bilder von Smartphones ist inzwischen so gut, dass die Fachgesellschaft selbst sogar anbietet, die Bilder für eine Diagnose nutzbar zu machen. Eine Studie des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung hat gezeigt, dass Smartwatches Vorhofflimmern erkennen und helfen können, Schlaganfälle zu verhindern.
Wir stehen hier erst am Anfang einer Entwicklung. Wenn heute der Grundsatz „ambulant vor stationär“ in der Versorgung gilt, werden wir künftig für einige Krankheitsbilder dieses Prinzips modifizieren müssen: „digital vor ambulant oder stationär“.