In den Gesprächsrunden von “Dialog in Deutsch” können Geflüchtete Deutsch lernen – umsonst und anonym. Auch Ilya aus Odessa, Schauspieler und Moderator, will so möglichst schnell die Sprache beherrschen, um sich ein neues Leben aufzubauen.
Dieser Text wurde auch ins Ukrainische übersetzt. / Стаття Українською
Zentralbibliothek, zweiter Stock, ganz am Ende des Ganges. Ein kleiner Raum mit Blick auf den Hamburger Hauptbahnhof. Elf Tische und Stühle stehen u-förmig um einen surrenden Luftfilter herum. Frank Förster stellt eine Kiste mit Stiften, OP-Masken und einem kleinen Whiteboard auf den vordersten, separaten Tisch. „Bei dem guten Wetter kann es auch sein, dass heute gar keiner kommt. Das passiert ab und zu“ sagt er, während er die Fenster öffnet, um einmal zu lüften.
Förster arbeitet als Gruppenleiter für „Dialog in Deutsch“, ein ehrenamtliches Programm der Bücherhallen für Deutschlernende. Das Konzept ist niedrigschwellig und einfach: Jeder kann vorbeikommen und seine Sprachpraxis verbessern. Eine Stunde lang wird Deutsch geübt, Sprachbarrieren sollen abgebaut werden. Anmeldungen, Prüfungen oder Teilnahmevoraussetzungen gibt es dabei nicht. Zurzeit finden wöchentlich um die 200 dieser Gesprächsrunden statt, verteilt in ganz Hamburg.
Deutsch lernen geht auch anonym
Doch der Raum füllt sich trotz des schönen Wetters schnell. Es werden zusätzlich Hocker zu den Tischen gestellt, damit sich jeder setzen kann. Heute sind es ausschließlich männliche Teilnehmer, da parallel eine reine Frauengruppe stattfindet. Zwölf sind es insgesamt geworden.
Der Kurs beginnt mit einer kurzen Vorstellungsrunde. „Hallo, ich bin Kian aus dem Iran. Ich bin in Deutschland seit sechs Jahren.“ „Schön, dass du da bist“, sagt Förster. Der nächste Teilnehmer ist an der Reihe. „Willkommen in Hamburg.“ Jeder stellt sich kurz vor, dazu ermutigt der Kursleiter, es ist aber kein Muss. Auch wer anonym bleiben will, etwa wegen fehlender Papiere, soll das Angebot nutzen können. „Dialog in Deutsch“ will jedem gegenüber offen sein und das Gefühl vermitteln, willkommen zu sein – unabhängig von Bürokratie. Dass die Anonymität eine wichtige Rolle spielen kann, zeigte sich in der Corona-Zeit, als Kontaktverfolgungsformulare mit Klarnamen und Adressen ausgefüllt werden mussten. Das schreckte manche Leute ab, berichtet Förster.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine macht sich auch in Hamburg bemerkbar. FINK.HAMBURG hat dazu in der Serie “Ukraine in Hamburg” Reportagen und Porträts von Betroffenen zusammengestellt. In der Schule und im Ballett, unterwegs mit einer geflüchteten Influencerin und einem Tennisprofi aus Kiew – FINK.HAMBURG zeigt unterschiedliche Herausforderungen und Perspektiven, die mit dem Krieg zusammenhängen.
Auch Ilya nimmt an der Gesprächsrunde teil. Er ist Anfang März in Hamburg angekommen. Drei Wochen verbrachte der 35-jährige Ukrainer in einer Notunterkunft in den Messehallen, dann konnte er in eine private Unterkunft in Altona umziehen und auch gedanklich in Hamburg ankommen. Er meldete sich für einen Intensiv-Sprachkurs an. Unmittelbar vor der Flucht hatte er erste Deutschkenntnisse erworben und konnte so den Kurs für Anfänger ohne Vorkenntnisse überspringen und direkt mit der zweiten Stufe beginnen.
Die erste Übung heute: Ein kleiner Ball wird hin und her geworfen. Wer ihn fängt, sagt ein Wort, das er mit Hamburg verbindet. „Hafen.“ „Läden.“ Förster schreibt auf seinem kleinen Whiteboard mit und ergänzt die Artikel. Ein junger Afghane ist an der Reihe: „Reeperbahn“. Verwirrte Gesichter. Dann die enthusiastische Erklärung: „Disco, Party!“ Viele „Ahs“ und „Ohs“ im Raum und leises Lachen. Als nächstes sollen die Teilnehmer diskutieren, ob Hamburg eine Seilbahn bauen sollte, doch es gibt nur wenige Wortmeldungen und des Öfteren auch kaum verständliche Argumente. Eine wirkliche Debatte entsteht nicht. Ilya spricht sich für die Seilbahn aus, tut sich aber schwer, die passenden Worte zu finden.
“Es macht Spaß, wenn ich immer mehr verstehe”
Morgens einen Teil der Hausaufgaben, mittags der Intensivkurs, abends den anderen Teil der Hausaufgaben und gelegentlich noch die Gesprächsrunden von „Dialog in Deutsch“ – das Deutschlernen bestimmt jetzt seinen Alltag. „Abends bin ich dann auch müde. Es macht aber Spaß, wenn ich merke, dass ich immer mehr verstehe“, sagt Ilya auf Deutsch.
Er spricht noch mit starkem Akzent und macht grammatikalische Fehler, aber man versteht ihn erstaunlich gut für die kurze Zeit, die er erst Deutsch lernt. In der Ukraine hat er als Theater- und Kinoschauspieler und Moderator gearbeitet, er ist es gewöhnt, Texte auswendig zu lernen und kann sich vergleichsweise gut Vokabeln merken. Das letzte Mal, dass er eine neue Sprache lernen musste, war in der Schule. Damals entschied er sich für Englisch, nicht Deutsch. Englisch erschien ihm wichtiger. Schon jetzt ist sein Deutsch besser als sein Schulenglisch, sagt er.
Die Deutsch-Stunden laufen jedes Mal anders ab. „Richtig vorbereiten kann man sie nicht“, sagt Förster. „Die Vorkenntnisse sind zu unterschiedlich und man weiß auch nie, wie viele kommen. Mit zwei Leuten kann man zum Beispiel keine Diskussion führen. Dann muss man halt was anderes machen.“
Der 46-Jährige leitet seit rund zehn Jahren Kurse, er kann daher, sagt er, spontan auf ein Repertoire an Übungen zurückgreifen. Außerdem ermutigt er Teilnehmende, selbst Themenwünsche zu äußern, um inhaltlich möglichst nah an der Lebensrealität dran sein. „Wie läuft ein Arztbesuch oder Behördengang ab, wie funktioniert das Krankenkassensystem und wo kauft man ein? Das sind so Dinge, die erzählt sonst keiner.“
Gemeinsam lernen und Freunde finden
Die Sprache sei wichtig, sagt Förster. „Aber auch wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger sei die Vernetzung. „Die Leute treffen sich hier, es bilden sich Freundschaften. Es gibt auch mehrere Gruppen von ‚Dialog in Deutsch‘, da werden zum Beispiel Fußballtreffen ausgemacht oder Möbel verschenkt.“ Alles sei besser, als in einem fremden Land ohne Kontakte alleine auf dem Sofa zu sitzen. Außerdem wird in den Gesprächsrunden kultureller Austausch gelebt, es kommen Menschen aus unterschiedlichsten Nationalitäten zusammen. So sitzt auch mal ein Israeli neben einem Palästinenser oder ein Russe neben einem Ukrainer.
Bei den Gesprächsrunden hat auch Ilya Menschen aus verschiedenen Kulturen kennengelernt. Beispielsweise hat ein Syrer ihm den Ramadan und dessen Bedeutung erklärt. Dennoch sucht Ilya mehr Kontakt zu Hamburger*innen, denn bis jetzt kennt er eigentlich nur seine Vermieterin. „Ich finde es sehr wichtig, richtiges Deutsch und richtige Grammatik zu hören – ohne Akzent.“ Er bedankt er sich auch mehrmals für das Interview, er sei dankbar für jede Möglichkeit, seine Sprache zu verbessern.
Bis Ilya seinen Beruf wieder aufnehmen kann, wird es noch dauern. Um als Schauspieler arbeiten zu können, braucht er fehlerfreies Deutsch. Doch davon will er sich nicht entmutigen lassen, Ilya versucht nach vorne zu schauen und sich nicht zu sehr unter Druck zu setzen. Er würde sich gerne mal wieder ein Theaterstück anschauen, befürchtet aber dass er es nicht richtig verstehen würde. „Aber wenn ich weiter so viel übe, vielleicht in einem halben Jahr“, sagt er nachdenklich.