Die Hamburger Tafel hat zum Juni Aufnahmestopps verhängt. Wie geht es jetzt weiter? Eindrücke aus einer Bergedorfer Ausgabestelle, zwischen Lebensmittelknappheit und einer wachsenden Zahl von Bedürftigen.
Foto: Eric Ganther
“Falls ihr irgendein Obst dabeihabt, nehme ich das gerne. Außer Äpfel. Äpfel habe ich genug.” Vor dem Pink Haus, einem lokalen Jugendzentrum in Hamburg-Bergedorf, sitzt eine ältere Frau im Rollstuhl und drückt einem Mann im grünen T-Shirt zwei leere Plastiktüten in die Hand.
Drinnen steht alles voller Kisten, einzelne Melonen, Brot und Gemüse liegen auf Tischen – eher moderate Mengen für den Menschenansturm, den die Helfenden hier in einer halben Stunde erwarten. “So circa 120 Leute kommen hier jede Woche an die Ausgabestelle”, sagt Ursula Butt, eine der etwa zwölf ehrenamtlichen Arbeiter*innen an diesem Tag.
Sie ist seit über 20 Jahren ein Teil der Hamburger Tafel in Bergedorf, packt Lebensmittel zusammen, versorgt Bedürftige. “Seit der Krieg in der Ukraine begonnen hat, kommen viel mehr Menschen hierher”, sagt sie.
Bergedorfer Tafel: Ausgabe im Krisenmodus
Essensausgabe an der Tafel bedeutete noch vor ein paar Jahren, dass das Angebot zwar begrenzt war, aber dass sich Bedürftigen aussuchen konnten, was sie möchten. Das ist inzwischen anders: Draußen den Beutel an die Ehrenamtlichen abgeben, ein, zwei Sonderwünsche äußern, dann mit den Lebensmitteln im Schlepptau wieder gehen. Ein Verteilsystem, das sich während der Pandemie etabliert hat. Ausgabe im Krisenmodus. Notgedrungen.
Trotzdem versuchen die Helfenden, möglichst gerecht zu verteilen. Alle bekommen möglichst gleichviel. “Die ersten zehn Plätze der Liste bekommen diese Woche zuerst. Die nächsten zehn nächste Woche und so weiter”, sagt Butt.
Auf die Hamburger Tafel angewiesen zu sein, bedeutet aktuell aber noch eine weitere Einschränkung: Nur wer registriert ist und einen Tafelausweis besitzt, bekommt auch Lebensmittel gestellt. Neue Bedürftige werden nicht mehr aufgenommen. Die Bergedorfer Ausgabestellen in St. Petri und Pauli waren die ersten, die zum 01. Juni einen Aufnahmestopp für neue Kund*innen verhängten. Kurz darauf folgten weitere 20 Ausgabestellen, verteilt in Hamburg.
Am Pink Haus reicht die Schlange der Bedürftigen bis auf den Bürgersteig. Viele Anstehende sind frustriert darüber, dass man die Lebensmittel nicht mehr selbst aussuchen darf. Eine Frau meint: “Das Essen hat früher noch für drei, vier Tage gehalten. Heute sind wir manchmal froh, wenn wir bis morgen hinkommen.”
Drinnen in den Kisten liegt alles durcheinander. Smoothies neben Fleischwaren und Tofu neben Joghurt. Drei Stücken Butter, mehr ist nicht mehr da. „Ist sowieso Luxusgut, die Butter. Da haben wir nie so viel von”, sagt Butt. “Heute gibt’s sogar was Besonderes.” Sie zeigt auf einige der roten Kisten im Hintergrund. “Da ist eine mit Schokolade dabei. Das ist ein Vermögen.”
“Wir sind an einer Leistungsgrenze angelangt”
Die Bergedorfer Tafeln unterscheiden sich ein wenig von den anderen Tafeln in Hamburg. Die Lebensmittelsituation hier sei momentan oft noch kontrollierbar. “Wir haben ein sehr ländliches Umland, da bekommen wir viel frisches Gemüse her”, sagt Ulrike Eckert-Rieke, Leiterin der vier Ausgabestellen des Bezirks.
Trotzdem gehen die Lebensmittelspenden kontinuierlich zurück. Ursula Butt steht hinter den Kisten, die ihr gerade so über die Hüfte reichen. “Es gab mal Zeiten, da konnte ich hier kaum drüber weggucken, weil so viel Essen ankam.” Einer der anderen Helfer pflichtet ihr bei. Das Pink Haus sei die letzte Ausgabestelle, bei der die Laster die Nahrung ablieferten. Manchmal würden die Fahrer erst hier merken, dass nur noch relativ wenig übriggeblieben sei.
Laut Eckert-Rieke komme zu der Lebensmittelknappheit noch ein weiteres Problem hinzu: “Wegen des Kriegs in der Ukraine kommen gerade sehr viele Geflüchtete hierher. Das können wir nicht mehr stemmen.”
Zu den Bedürftigen gehören seit Beginn des Krieges allein für die Bergedorfer Tafel über 40 Geflüchtete aus der Ukraine. Hinzu kommt die Mehrbelastung durch steigende Preise: Die Inflation kletterte im Mai auf fast acht Prozent. Wegen der erhöhten Preise für Energie steigen Transport- und Produktionskosten quasi überall. Auch das treibt mehr Menschen zu den Tafeln.
“Wir sind an einer Leistungsgrenze angelangt”, sagt Eckert-Rieke. Zu viele Arbeitsstunden könne sie gar nicht verantworten. “Die meisten Helfenden sind auch schon in Rente, da muss man ja sowieso ein bisschen mehr auf die Gesundheit achten. Außerdem arbeiten alle hier auch ehrenamtlich.”
Die Helfer*innen berichten von einem angespannteren Ton in den letzten Wochen. Es sei alles etwas hektischer geworden. Am Pink-Haus ist das Team der Helfenden zwar eingespielt, dennoch bejahen alle die Frage, ob die aktuelle Situation eine Mehrbelastung für sie darstelle.
Keine Lösung für die Situation der Hamburger Tafel
Perspektivisch werden in Zukunft eher mehr als weniger Hilfesuchende an den Ausgabestellen Schlange stehen. Angesichts der aktuellen Situation ist das Problem der Hamburger Tafeln nur sehr schwer zu lösen.
Mehr Ehrenamtliche? Das ist nicht das Problem. Zurzeit gibt es glücklicherweise in Hamburg genug Ehrenamtliche, die die Ausgabestellen unterstützen.
Mehr Geld? Gern gesehen. Aber die rein spendenfinanzierte Tafel sieht sich mit einer sinkenden Spendenbereitschaft konfrontiert. Zwar ist die Hamburger Tafel durch Vereine wie die Annemarie-Dose Stiftung langfristig abgesichert. Die Stiftung verwaltet die Spendengelder und deren Anlage. Laut Otto Kühl, dem Stiftungsvorstand, seien allerdings die Möglichkeiten inzwischen ausgeschöpft, kurzfristig Unterstützungsgelder bereitzustellen.
Mehr Lebensmittelspenden? Kaum vorstellbar. Supermärkte und Discounter optimieren seit der Pandemie ihre Lagerkapazitäten strikter denn je. Grundnahrungsmittel werden eher weggekauft. Die abgegebenen Mengen pro Markt sinken.
Ersthelfer für Geflüchtete, Endabnehmer von Lebensmitteln
Die Tafeln sind letztendlich Endabnehmer von Lebensmitteln. Man könnte sich also auch über weniger Spenden von Großmärkten freuen, heißt das doch letztendlich, dass dort weniger Lebensmittel am Ende übrigbleiben. Auf der anderen Seite fehlen genau die bei den Tafeln. Das findet Julia Bauer aus dem Vorstand der Hamburger Tafel problematisch: “Die Leute kommen her, weil sie am Ende des Monats nicht genug Geld auf dem Konto haben und Essen brauchen. Punkt.”
Das sinkende Lebensmittelvolumen mache Bauer deshalb mehr Sorgen als die Zahl der Geflüchteten: “Wir sind ja am Ende nur Ersthelfer. Hoffentlich legt sich diese Überfüllung bald wieder.” Eckert-Rieke geht dennoch davon aus, dass die Lage angespannt bleibt: “Bei vielen reicht die Rente oder Hartz IV einfach nicht, ohne auf die Tafel angewiesen zu sein. Das wird eher schlimmer.”
Vor dem Pink-Haus in Bergedorf reicht die Schlange inzwischen bis auf den Bürgersteig. Gerade wird die zweite Hälfte der Wartenden aufgerufen. Die Lebensmittelkisten sind schon deutlich leerer. Äpfel gibt es noch, Butter ist schon lange aus.