Lust auf erfrischend langweilige Inhalte aus dem Leben deiner Freund*innen? Dann könnte BeReal etwas für dich sein. Die App soll den Wunsch nach mehr Echtheit – sprich Realness – in den sozialen Medien erfüllen. Redakteurin Sarah hat sie getestet.

Titelbild: Sarah Böse

Es ist Sonntagabend, du liegst in einer Decke eingekuschelt auf dem Sofa, neben dir ein leerer Pizzakarton, in der Hand dein Smartphone. Wie ferngesteuert bewegst du einen Finger zum Instagram-Icon. Du beginnst gedankenverloren zu scrollen, siehst perfekt gestylte Menschen auf dem Screen vorbeiziehen. Sie tanzen auf Konzerten, joggen im Wald und entspannen am Strand. Ein unangenehmes Gefühl macht sich in dir breit. Die ungewaschenen Haare fühlen sich noch fettiger, der Jogginganzug wie ein Kartoffelsack und dein Dasein wie Versagen an.

Da vibriert dein Smartphone und es schiebt sich eine Push-Benachrichtigung ins Blickfeld:

Push-Benachrichtigung: „Zeit Für BeReal"
Push-Benachrichtigung: „Zeit Für BeReal”. Foto: Sarah Böse

Du öffnest die App, machst ein Selfie von dir mit Pizzakarton und klickst auf „Senden”. Kurze Zeit später siehst du die Fotos von zehn anderen Menschen, deren Abend ganz ähnlich aussieht. Marie lächelt dir entgegen und hält einen Spielecontroller in der Hand. Chiara kocht in Schlabbershirt ihr Abendessen. Laura steht ganz unglamourös im Fahrstuhl.

Und schon ist die Welt wieder ganz okay.

Jeden Tag ein neues Bild

BeReal ist ein soziales Netzwerk, das Anfang 2020 von den Franzosen Alexis Barreyat und Kévin Perreau gelauncht wurde. Der Name setzt sich zusammen aus:

  • dem Wunsch nach mehr Echtheit, sprich Realness in den sozialen Medien
  • dem Begriff “B-Roll” beziehungsweise “B-Reel”

Letzterer wird in Film- und Fernsehproduktionen für Filmmaterial genutzt, welches die Lücken zwischen den Hauptaufnahmen füllt. Angewendet auf den Content der App BeReal hieße das: Hier siehst du überwiegend die Momente aus dem Leben, auf die du nicht als Highlight deines Jahres zurückblickst, sondern die deinen Alltag dokumentieren – die Lückenfüller zwischen den prägenden Ereignissen.

Die Grundregeln des Netzwerks sind einfach. Einmal am Tag schickt die App an alle Nutzer*innen gleichzeitig eine Push-Benachrichtigung – zu einem unbestimmten Zeitpunkt. Dann haben die Nutzer*innen zwei Minuten Zeit, um ein Foto aufzunehmen und zu posten. Anschließend sieht man auf den Fotos der Freunde, was sie gerade so machen.

So sieht es aus, wenn man ein „BeReal" aufnimmt – inklusive Countdown.
So sieht es aus, wenn man ein „BeReal” aufnimmt – inklusive Countdown. Foto: Sarah Böse

So funktioniert BeReal

Eine Besonderheit gibt es jedoch: Beim Abdrücken schießt dein Smartphone – mit einer Zeitverzögerung von wenigen Sekunden – ein Foto sowohl mit der Front- als auch mit der Rückkamera. Beide Schnappschüsse werden in einem gemeinsamen Bild zusammengefügt. Bist du unzufrieden mit dem Ergebnis, kannst du den Vorgang wiederholen. Die Anzahl deiner Versuche wird deinen Freund*innen allerdings angezeigt. Bist du zufrieden, kannst du deine Aufnahme hochladen und noch eine Bildunterschrift hinterlassen. Fertig!

Reagierst du nicht sofort auf die Aufforderung der App, erhält dein Foto den Titel „BeLate”. So wissen deine Freund*innen, dass du nicht pünktlich warst. Außerdem sind die Bilder deiner Freund*innen erst dann für dich sichtbar, wenn du selbst eines gemacht hast. Das macht BeReal ohne aktive Teilnahme quasi nutzlos.

Neben der normalen Timeline mit deinen Freund*innen gibt es noch den Discovery Feed. Bei jedem BeReal hat man die Wahl, ob es privat veröffentlicht werden soll oder für alle Nutzer*innen der App. Öffentliche Bilder können entdeckt werden. So kann der eigene Horizont über die langweiligen Bilder der Freund*innen hinaus erweitert werden – auf die langweiligen Bilder der Welt.

Für die Interaktion auf der App gibt es neben einer Kommentarfunktion noch etwas Besonderes: die Realmojis. Anstatt mit den immer gleichen Smileys zu reagieren, kann man seine eigenen Emotionen ablichten und mit diesen Fotos auf die Bilder der anderen antworten.

So sehen Realmojis bei BeReal aus.
Realmojis bei Be.Real. Foto: Sarah Böse

Die Konkurrenz hat BeReal im Blick

Woran merkt man im Social-Media-Universum, ob eine neue Idee gut ist? Sie wird von großen Playern kopiert. Im Fall von BeReal haben sich gleich zwei Social-Riesen bei den Grundfunktionen des Newcomers bedient: Instagram und Tiktok.

Instagram hat im Juli 2022 den Effekt Dual Camera gelauncht. Wendet man ihn für eine Story an, nimmt Instagram gleichzeitig ein Bild mit der Vorder- und der Rückkamera auf. Und Instagram hat die Idee weiterentwickelt: Durch doppeltes Tippen auf den Bildschirm kann ausgewählt werden, welche Kameraperspektive den Bildschirm füllt und welche in einem kleineren Ausschnitt darauf gelegt wird. Außerdem können Größe und Platzierung der vorderen Aufnahme angepasst werden. Dieser Effekt kann dabei nicht nur für die Aufnahme von Fotos, sondern auch für Videos genutzt werden und eignet sich gut für Reaction-Videos.

Tiktok wiederum hat im September 2022 die App Tiktok Now nach Vorbild – oder besser als Kopie – von BeReal herausgebracht. Was an dieser App anders ist als an BeReal? So gut wie gar nichts. Aber immerhin dies: Bei TikTok Now haben User*innen drei anstatt zwei Minuten Zeit, um ein Now zu veröffentlichen. Außerdem kann man bis zu zehn Sekunden lange Videos veröffentlichen. Vom Look and Feel ist Tiktok Now ansonsten beinahe identisch zu BeReal. Selbst die Kalenderfunktion, in der man seine vergangenen Posts ansehen kann, ist vorhanden. Nur die Realmojis hat Tiktok Now nicht übernommen.

Kein neues Clubhouse

Das kulturelle Phänomen BeReal macht aus unseren alltäglichen Momenten bedeutungsvolle Verbindungen – App Store Redaktion

Mithalten kann Tiktok Now mit BeReal dennoch nicht, trotz der enormen Reichweite des Mutterkonzerns. Die App hat Ende 2022 gerade mal 779 Bewertungen im App Store, eine Gesamtwertung von 3,7 Sternen und liegt auf Platz zehn der Kategorie “Soziale Netze”. BeReal hingegen liegt neun Plätze weiter vorne – auf dem ersten Platz. Bei den App Store Awards wurde BeReal sogar zur „Iphone App des Jahres 2022″ gekürt. Da diese App “aus unseren alltäglichen Momenten bedeutungsvolle Verbindungen” mache, so die Begründung der Redaktion. Von den Nutzer*innen wurde BeReal im App Store über 65.000 Mal bewertet mit einer Durchschnittswertung von 4,6 Sternen. Ähnlich sieht es im Google Playstore aus. Hier schneidet BeReal bei über 100.000 Rezensionen mit 4,6 Sternen ab.

Zwei Jahre nach ihrer Veröffentlichung stieg die App erst 2022 auf wie eine Rakete. Während im Januar noch rund 760.000 Personen weltweit BeReal runtergeladen hatten, steigerten sich die Downloadzahlen laut Statista bis September um das Neunzehnfache, auf 14.700.000. Wer also zu Beginn des Jahres noch Clubhouse-Vergleiche anstellte und BeReal ein schnelles Ende prophezeite, sollte unrecht behalten.

Wie real ist BeReal wirklich?

Dass ausgerechnet ein soziales Medium behauptet, real zu sein, scheint viele Menschen zu provozieren. Trotzdem ist diese App anders, weil sie die Realität stärker abbildet, als etwa Instagram:

  1. Es gibt keine Filter.
  2. Alle Aufnahmen werden ausnahmslos mit der Smartphone-Kamera geschossen, anstatt mit Profi-Equipment.
  3. Es gibt keinen Kampf um Aufmerksamkeit. Der Content deiner Freun*innen steht im Vordergrund und wird nicht von Content-Creator*innen überschattet. Die Nutzer*innen werden nicht mit Follower*innen belohnt, nicht mit Likes überhäuft und sie erhalten auch (noch) keine Kooperationsanfragen.

Schon klar, BeReal spiegelt nicht eins zu eins die Realität wider. Die Fotograf*innen entscheiden, welche Details sie mit aufnehmen und welche sie weglassen. Es ist jedoch ein Unterschied, ob ich mich via Photoshop in die Karibik beame oder ob ich nur in ein vorteilhaftes Licht drehe. Vielleicht sollte man den Namen der App deshalb mehr als eine Aufforderung an die Nutzer*innen sehen, sich möglichst echt zu zeigen, anstatt als eine Garantie für Realness.

Der Grad an Realness auf BeReal ist also stark von einem selbst und seinem Netzwerk abhängig. Heißt: Ist dir BeReal nicht real genug, dann geh doch mit positivem Beispiel voran. Zeig her dein Doppelkinn und deine unaufgeräumte Bude.

Für wen ist BeReal geeignet?

BeReal ist eine App für alle, die Lust auf ein entschleunigtes soziales Medium haben und gerne regelmäßig die Gesichter von Freund*innen sehen wollen. Die Identifikationsmöglichkeit mit seinen Freund*innen ist besonders hoch, dank erfrischend langweiligen Inhalten aus ihrem Leben.

Darüber hinaus ist BeReal hilfreich für Menschen, die das Hochladen von Content auf den sozialen Medien gerne zerdenken und deshalb im Endeffekt gar nicht posten. BeReal lehrt Spontanität: Benachrichtigung bekommen, Foto schießen und hochladen – und das jeden Tag. Ein wirksames Training, um sich die Perfektion, die wir von Instagram gelernt haben, wieder abzulegen. Endlich mal wieder aktiv teilnehmen, anstatt nur passiv zu konsumieren.

Und dann sind da noch die RealMojis. Die machen einfach viel mehr Spaß als die immer gleichen Emojis von Apple und Co.

Herunterladen – oder nicht?

Brauchst du dieses weitere soziale Medium zwingend in deinem Leben? Nein. Aber wenn die genannten Punkte dich ansprechen, kommt es auf einen Versuch an. Diese App ist tatsächlich anders als die anderen sozialen Medien. Es ist nicht zu spät, um auf den Trend aufzuspringen. Besonders jetzt über die Feiertage, wenn alle zu ihren Familien nach Hause fahren und du intime Einblicke unterm Tannenbaum erhaschen kannst.