Straßennamen sagen viel über die Geschichte einer Stadt, über Werte und gesellschaftliche Entwicklungen. Straßennamen in Hamburg erzählen teils dunkle Geschichten – von marginalisierten Frauen, Kolonial- und Naziherrschaft. Bis heute.
Von: Anton Peter, Chiara Bagnoli, Eric Ganther, Julia Kaiser, Laura Grübler und Lina Gunstmann
Titelbild: Julia Kaiser
Hamburgs Straßennamen zeigen, woran sich die Stadt erinnern will – und woran nicht. Die Geschichte der Stadt lässt sich anhand der Benennungen ihrer Straßen erzählen. Wo Straßen verschwinden, entstehen neue, hineingeboren in eine neue Zeit mit einem neuen Namen.
Doch wer kennt überhaupt die Bedeutung des eigenen Straßennamens? Wir haben uns in Hamburg umgehört:
FINK.HAMBURG hat Hamburgs Straßennamen auf ihre Eigenheiten untersucht. Neben vielen sonderbaren Bezeichnungen stechen weitere Themen heraus: Die Stadt ist voll von Straßen mit nationalsozialistischen, kolonialistischen, aber auch feministischen Bezügen. In der folgenden Karte siehst du, welche Straßen in Hamburg unter diese Kategorien fallen.
Hamburgs Straßen auf der Spur: Straßen mit feministischem, kolonialistischem und nationalsozialistischem Bezug
Wer legt die Straßennamen fest?
Früher benannten der Volksmund und die Gewohnheit Straßen. Heute sieht das anders aus. Regeln mussten her, um ein heilloses Durcheinander zu vermeiden – besonders, weil Hamburgs Fläche während der Industrialisierung und nach dem zweiten Weltkrieg extrem zunahm. Und um diejenigen zu würdigen, die es verdient haben.
Allein der Senat darf in Hamburg formal Straßen benennen. Die Ausarbeitungs- und Vorschlagsprozesse sind aber nicht zu unterschätzen. Die Vorschläge selbst werden in den Versammlungen der sieben Bezirke (Mitte, Eimsbüttel, Altona, Nord, Wandsbek, Bergedorf, Harburg) beschlossen. Und schon hier befindet sich die erste Hürde: Der Vorschlag zur Benennung einer Straße braucht im Bezirksamt eine politische Mehrheit.
Im Anschluss daran prüft das Hamburger Staatsarchiv beispielsweise auf Verwechslungsgefahren. Dann gehen die Vorschläge zum Senat – genauer, zur „Senatskommission für die Benennungen von Verkehrsflächen“. Die ist Teil der Kulturbehörde und entscheidet am Ende, ob die Straße so benannt wird wie vorgeschlagen. Mehrere Abstimmungsprozesse sind also nötig, bevor eine Straße einen neuen Namen bekommt.
Hamburgs Flurnamen
Wer durch Hamburg läuft, dem fallen schnell die vielen auffälligen und ungewöhnlichen Straßennamen auf. Endungen wie „-bek", „-twiete" oder „-kamp" spiegeln die Geschichte Hamburgs wider. Sie zeugen von einer Zeit, in der die Landwirtschaft und der Kampf gegen das Wasser zum Alltag der meisten Hamburger*innen gehörten. Diese Bezeichnungen nennen sich Flurnamen: Sie bezeichnen geografische Punkte wie Wege, Felder, Sümpfe, anhand derer sich Menschen orientierten, als es noch keine Straßenverzeichnisse gab.
Äcker, Felder, Bäche – Hamburgs 10 häufigsten Flurnamen
Die meisten der Hamburger Flurnamen haben einen landschaftlichen Bezug: Äcker (Kamp), Wiesen mit und ohne Zaun (Koppeln, Wisch) und Waldlichtungen (Loh) erzählen von einem Hamburg ohne Elbphilharmonie, Reeperbahn und Alstertouristik.
Hamburgs vielfältiger Bezug zum Wasser spiegelt sich in Bächen (Bek), Marsch- oder Moorland (Brook) und vielen Inseln und Halbinseln (Werder) wieder. Weitere häufige Nennungen mit Wasserbezug sind: Quellen (Born), Teiche (Diek) und kleinere Wasserläufe (Reye, Rei und Riggen).
Twiete bezeichnet einen kleinen Weg und kommt vom plattdeutschen Wort für „zwischen". Einzig die vielen Berge (Barg) irritieren auf den ersten Blick – doch im historischen Hamburg konnte wohl jeder kleine Hügel als Orientierungspunkt herhalten. Klar verständlich ist hingegen die Bedeutung von Horn – es bezeichnet einen spitz zulaufenden Landstrich.
Stadt, Land, Fluss – Hoff, Koppel, Reye
Hamburgs Flurnamen zeigen ein ländliches Leben mit vielen kleinen Wegen, Feldern und gebrochenen Deichen.
Die Kategorie "Adjektive und Formen" dienen dazu, die geografische Punkte zu spezifizieren: Op de Wisch in Neugraben wird zu oberhalb der Wiese, die Babendiekstraße in Blankenese zur Straße die an einem erhöhten Teich liegt und am Bredenbekkamp bezeichnete einen Acker, der am breiten Bach lag.
Flurnamen und ihre Bedeutung nach Kategorien
Grafik: Anton Peter | Quelle: Hamburgs Straßennamen erzählen Geschichten, C. Hanke, Medien-Verlag Schubert (2014) | Erstellt mit Miro
Von Komponisten, Pferden und Märchen
Neben den sonderbaren Eigenheiten der Hamburger Straßennamen gibt es auch räumliche Besonderheiten. In manchen Ecken Hamburgs häufen sich Straßennamen mit thematischen Zuordnungen – nach Märchen, Komponisten oder sogar Pferden.
In Hamburg gibt es über 80 von diesen sogenannten „Motivgruppen". Wir haben uns fünf davon genauer angeschaut und ihre Besonderheiten zusammengefasst. Durch Klick auf die Motivgruppen in der Karte erfährst du mehr.
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Grafik: Laura Grübler | Quelle: hamburg.de | Erstellt mit Google My Maps
So weiblich sind Hamburgs Straßen
Straßenbenennungen sind ein Zeichen großer Wertschätzung – eines der größten Zeichen, die einer Stadt zur Verfügung stehen. In Hamburg sind circa 3.150 Straßen nach Personen benannt. In 85 Prozent der Fälle waren die Namensgeber*innen männlich, nur zu 15 Prozent weiblich.
Dass in Hamburg nur 460 Straßen nach Frauen benannt sind, heißt allerdings nicht, dass es nur so wenige bedeutende Frauen gab. Berufstätige Frauen oder besondere politische Aktivitäten von Frauen wurden weniger wertgeschätzt und dadurch seltener öffentlich geehrt. Denn auch Straßenbenennungen unterliegen einem System, in dem es klare Vorstellungen von Geschlechterrollen und Machtstrukturen gibt.
Benennung von Hamburgs Straßen
Damit werde die Diskriminierung von Frauen fortgeschrieben und die Leistungen der Frauen würden als unbedeutend abgetan, so Rita Bake, promovierte Historikerin und bis 2017 stellvertretende Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung in Hamburg.
Im Vergleich mit den bevölkerungsreichsten Städten Deutschlands landet Hamburg mit 15 Prozent Frauenstraßen auf Platz zwei. Nur in München sind Frauen im Straßenbild präsenter. Das ist laut Bake auf die Arbeit von Frauenverbänden oder Ortsausschüssen zurückzuführen. Die wenigsten Frauennamen begegnen einem auf den Straßenschildern Berlins.
Verhältnis von Frauen- und Männerstraßen in deutschen Großstädten
Der Blick ändert sich
Die neusten Straßenbenennungen zeigen: Der Blick auf die Bedeutung von Frauen in der Gesellschaft ändert sich. Insbesondere in den letzten 40 Jahren wurden immer mehr Straßen nach Frauen benannt – das ist nicht selbstverständlich.
Im 13. Jahrhundert wurde mit der Katharinenbrücke in Hamburg erstmals eine Straße nach einer Frau benannt. Es blieb 84 Jahre lang die einzige. Ende des 18. Jahrhunderts waren es gerade mal vier. Erst im 19. Jahrhundert gab es einen kleinen Aufschwung: 60 Frauenstraßen kamen dazu, zumeist aber benannt nach Ehefrauen, Töchtern oder Müttern der Grundstückseigentümer.
Straßenbenennungen nach Frauen in Hamburg im Laufe der Zeit
Auch der 1949 eingeführte Gleichstellungsartikel im Grundgesetz änderte wenig an der patriarchalen Praxis der Straßenbenennungen. Zwischen 1950 und 1973 wurden zwar 54 Straßen nach Frauen benannt, aber auch rund 756 nach Männern.
Anfang der 1970er Jahre erstarkten Frauenrechtsbewegungen und forderten mehr Frauenstraßen. Erst zehn Jahre später hatten sie Erfolg: Im Bezirk Bergedorf benannten Senat und Bezirk einen großen Teil der neuen Straßen nach Frauen.
Das Vorbild Bergedorfs führte dennoch nicht zum Durchbruch. Nach 1974 wurden circa 72 Prozent aller nach Personen benannten Straßen Männern gewidmet – und nur 28 Prozent Frauen. Dennoch: Diesem Zeitraum entstammen fast die Hälfte aller existierenden Frauenstraßen in Hamburg.
Seit 2015 heißen neue Hamburger Straßen vorrangig nach Frauen – bis Ende Dezember wurden 80 Straßen nach Frauen und 25 nach Männern benannt. Aufholen kann man die Diskrepanz allerdings kaum. So viele Straßen werden in Hamburg wohl nicht mehr entstehen.
Wonach sind die Frauenstraßen in Hamburg benannt?
Zu den 460 nach Frauen benannten Straßen zählen auch Straßen, deren Namen willkürlich und ohne tiefere Bedeutung gewählt sind, die nach Ehefrauen, Töchtern oder Müttern des Grundstücksbesitzers benannt sind oder bei denen die Namen nur zum Teil auf eine Frau zurückgehen - tatsächlich sind in Hamburg sind die meisten Frauenstraßen nach dem Familienstand benannt. Die Schumannstraße wurde beispielsweise 1876 nach dem Komponisten Robert Schumann benannt, und seit 2001 auch nach seiner Frau, der Komponistin Clara Schumann.
Auch auffällig: Viele Frauenstraßen wurden nach Fabelwesen, Märchenfiguren oder literarischen Gestalten benannt, wie beispielsweise der Dornröschenweg. Auch wurden Opfer des Nationalsozialismus und Schriftstellerinnen mit einem Straßennamen geehrt. Dennoch gibt es nur wenige Straßen, die die Berufe der Frauen widerspiegeln. So gibt es Rita Bake zufolge bis heute keine Straße in Hamburg, die nach einer besonders agilen und herausragenden Marktfrau benannt wurde, dagegen aber viele Straßen, die nach Gastwirten, Schmieden oder Schornsteinfegern heißen.
Wonach sind die Frauenstraßen benannt?
Drei Hamburgerinnen im Porträt
Einige Straßen in Hamburg tragen den Namen von Frauen, die durch ihr Schaffen Bedeutendes erreicht haben. Drei Hamburgerinnen im Porträt:
Agathe Lasch war die erste Universitätsprofessorin in Hamburg und die erste Germanistin, die in Deutschland je einen Professorentitel erhielt.
Geboren wurde Lasch am 4. Juli 1879 in Berlin. Ihr akademischer Weg war alles andere als einfach, denn Frauen durften bis 1908 nicht ohne Weiteres an preußischen Universitäten studieren. Obwohl sie 1906 die offizielle Genehmigung dazu erhielt, verweigerte ihr der damalige Professor für Germanistik in Berlin die Teilnahme an seinen Seminaren. Also studierte Lasch in Heidelberg und arbeitete anschließend sieben Jahre an einem College in Pennsylvania.
1914 veröffentlichte sie ein Buch über mittelniederdeutsche Grammatik – auch heute noch ein Standardwerk. Durch ihren nun hervorragenden Ruf erhielt Lasch 1917 eine Stelle an der Universität Hamburg. Zwei Jahre später habilitierte sie und 1923 ernannte der Hamburger Senat Agathe Lasch „zum Professor”. 1926 bekam sie den neu geschaffenen Lehrstuhl für Niederdeutsche Philologie.
Die Karriere der jüdischen Professorin endete mit der nationalsozialistischen Machtergreifung. 1934 wurde sie aus dem Dienst entlassen und 1942, mit 63 Jahren, nach Riga deportiert und ermordet. Nach ihr wurde der Agathe-Lasch-Weg in Othmarschen benannt.
Foto: Staatsarchiv Hamburg, Signatur: 731-8_A 761
Grafik: Lina Gunstmann, Quelle: Hansestadt Hamburg, 2023
Johanne Caroline Agnes Reitze geb. Leopolt war führende Funktionärin der sozialdemokratischen Frauenbewegung und Politikerin.
Reitze wurde am 16.01.1878 in Hamburg geboren. Durch ihre Arbeit als Buchdruckgehilfin kam sie mit der Arbeiterbewegung in Berührung und trat 1902 in die SPD ein. Zwischen 1904 und 1907 war sie in der SPD-Frauenbewegung tätig. 1916 wurde sie Vorstandsmitglied der Hamburger SPD, der sie bis 1919 angehörte. Bis 1931 war sie regelmäßig Delegierte bei den SPD-Frauenkonferenzen und SPD-Parteitagen auf Reichsebene. Rietze setzte sich wesentlich für das Frauenwahlrecht ein.
1919 wurde sie als eine der wenigen Frauen in die Deutsche Nationalversammlung gewählt. Von 1919 bis 1921 war sie außerdem Angehörige der Hamburgischen Bürgerschaft und von 1919 bis 1933 Mitglied des reichsweiten SPD-Parteiausschusses.
1944, im Jahr als ihr Mann starb, wurde sie von der Gestapo verhaftet und kam in „Schutzhaft“. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Johanne Reitze am Wiederaufbau der Arbeiterwohlfahrt beteiligt. Rietze verstarb am 22.02.1949 in Hamburg.
Nach ihr wurden zwei Straßen in Hamburg benannt: Der Reitzeweg in Groß Borstel und der Johanne-Reitze-Weg in Ohlsdorf.
Foto: Staatsarchiv Hamburg
Grafik: Lina Gunstmann, Quelle: Hansestadt Hamburg, 2023
Elise Averdieck war Leiterin des Diakonissenhauses „Bethesda“, Kinderschriftstellerin und Schulleiterin.
Averdieck wurde am 26.02.1808 als eines von zwölf Kindern einer Hamburger Kaufmannsfamilie geboren und war sehr gläubig. Nach ihrer Tätigkeit als Gesellschafterin pflegte sie fünf Jahre lang kranke Kinder in einer Privatklinik. 1837 eröffnete Averdieck in St. Georg eine Vorschule für Knaben, entwickelte eine eigene Lesefibel und verfasste selbst Kinderbücher. Ihre Bücher spielten in Hamburg und stellten die Alltagswelt der Kinder dar.
Im Herbst 1856 gab sie ihre Schule auf und eröffnete mit zwei Freundinnen in einem gemieteten Haus das Krankenhaus „Bethesda“. Da das Haus zu klein wurde, kaufte sie im Juni 1859 zwei Häuser, die sie zu einem Kranken- und Diakonissen-Mutterhaus ausbaute. Averdieck wurde als Vorsteherin für das Krankenhaus gewählt, sie wurde Diakonissenmutter und bildete Schwestern aus. 1881 legte sie ihr Amt aus Altersgründen nieder.
Sie ist die Namensgeberin der Elise-Averdieck-Straße in Borgfelde.
Foto: Staatsarchiv Hamburg, Signatur: 731-8_A 751 Averdieck, Elise
Grafik: Lina Gunstmann, Quelle: Hansestadt Hamburg, 2023
Hamburgs Straßen mit NS-Bezug
Straßennamen erzählen Geschichten einer Stadt, und dazu gehört auch das Kapitel des Nationalsozialismus in Deutschland. In Hamburg gibt es bis heute noch Relikte aus dieser Zeit – auch auf den Straßen. Zum Beispiel fahren Hamburger*innen im Norden der Stadt immer noch auf der Hindenburgstraße und überqueren die Alster über die Hindenburgbrücke. Straße und Brücke sind nach Paul von Hindenburg benannt. 1933 ernannte Adolf Hitler Hindenburg zum Reichspräsidenten. Er ermöglichte der NSDAP eine Diktatur zu errichten und galt als Steigbügelhalter Hitlers.
In Städten wie Münster, Hannover oder Darmstadt wurden die Hindenburgstraßen bereits umbenannt. In Hamburg einigte man sich 2013 auf einen Kompromiss: Der Teil der Straße zwischen Borgweg und Jahnring, der durch den Stadtpark verläuft, wurde in Otto-Wels-Straße umbenannt. Wels hielt 1933 die letzte freie Reichstagsrede gegen das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten. Die Teilumbenennung soll Hindenburg "einen demokratischen Kontrapunkt" entgegensetzen. Doch wenn man den Park hinter sich lässt, fährt man einfach wieder auf der Hindenburgstraße, und der Name der Brücke blieb ebenfalls bestehen.
Auf der Straße finden sich außerdem die Stolpersteine von Dr. Heinrich Wohlwill und seiner Frau Hedwig Wohlwill. Wohlwill erfand 1903 ein Verfahren, mit dem man Kupfer rückgewinnen konnte. Dieses Patent spielte bis zum 2. Weltkrieg eine große wirtschaftliche Rolle. 1942 wurde er und seine Frau von den Nationalsozialisten nach Theresienstadt deportiert. Heinrich Wohlwill starb 1943 im Konzentrationslager. Hedwig Wohlwill starb 1948 an den Folgen der Haft.
Dass die Dinge bei diesem Thema manchmal komplizierter sind, als es auf den ersten Blick scheint, zeigt das Beispiel Heidi Kabel. 2011 wurde der Platz am Hamburger Hauptbahnhof der Volksschauspielerin gewidmet. Kabel war Mitglied in der NS-Frauenschaft und hat nach eigenen Angaben ihren Ehemann Hans Mahler zum Beitritt in die NSDAP überredet, um bessere Chancen bei seiner Bewerbung als Intendant in Lüneburg zu haben. Später distanzierte sie sich deutlich vom Nationalsozialismus und arbeitete ihr Handeln in ihrer Autobiografie selbstkritisch auf. Deshalb wird auch von einer Umbenennung abgesehen. Auch wenn Kabel keine aktive Unterstützerin des NS-Regimes war, galt sie dennoch als Mitläuferin des Nationalsozialismus.
Eine vollständige Liste mit allen NS-belasteten Straßen oder eine genaue Auflistung aller Straßen, die während des Nationalsozialismus in Hamburg umbenannt wurden, gibt es aktuell nicht.
Änderung von Straßennamen während des Nationalsozialismus
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 verschwanden vor allem Straßen aus dem Stadtbild, die nach Personen mit jüdischer Herkunft, Gewerkschaftsführer*innen, Vertretern der Arbeiterbewegung und nach demokratischen Politiker*innen benannt waren. Die Nationalsozialisten benannten Straßen nach Unterstützer*innen und Profiteur*innen des Regimes und Hitlers, nach NSDAP-Mitgliedern oder Mitgliedern anderer NS-Organisationen sowie nach Kolonialakteuren. Sie widmeten Straßen auch Sagengestalten oder Romanfiguren, zum Beispiel aus dem Nibelungenlied.
Rückbenennung von Straßen mit jüdischem Bezug in Hamburg
Nach aktuellem Stand (Juli 2022) wurden insgesamt 150 Straßen in der Zeit des Nationalsozialismus umbenannt. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus 1945 gab es zwar eine große Umbenennungswelle, doch diese verbesserte wenig: Die Alliierten wählten Straßennamen von einer Liste, die von den Nationalsozialisten stammte. Die Folge: Auch nach 1945 wurden Straßen nach Personen mit Bezug zum Nationalsozialismus benannt.
Ein Spaziergang durch Altonas NS-Straßen
1933 besetzte die SA (Sturmabteilung) das Altonaer Rathaus und hisste dort die Hakenkreuzfahne. Durch Hitlers Groß-Hamburg-Gesetz verlor Altona wie auch andere Städte um Hamburg die Selbstständigkeit und wurde nach Hamburg eingegliedert. Die Nationalsozialisten hatten viele Baupläne für Altona. So wurden auch viele Straßen in Altona in der NS-Zeit umbenannt, die bis heute bestehen.
Mit unserer interaktiven Karte nehmen wir dich mit auf einen Spaziergang durch Altona und du erfährst mehr über die einzelnen Straßen.
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Grafik: Chiara Bagnoli | Quelle: Rita Bake: „Umgang mit Hamburger Straßennamen, deren Namensgeber*innen eine mögliche NS-Vergangenheit in ihren Biographien aufweisen“, Juli 2022/Abschlussbericht der Kommission zum Umgang mit NS-belasteten Straßennamen in Hamburg, Februar 2022 | Erstellt mit Google My Maps
Umgang mit NS-belasteten Straßennamen in Hamburg
Zwischen 1985 und 2019 wurden insgesamt 15 Straßen wegen NS-Belastung umbenannt oder umgewidmet. Zuletzt 2016, als aus dem Irmgard-Pietsch-Ring in Bergedorf der Fritz-Bringmann-Ring wurde.
Laut Bake ist die kritische Durchleuchtung von Straßennamen wichtig, denn diese können „bewusstseinsbildend wirken". Sie sieht in der Namenswahl eine große Verantwortung, da Straßennamen wie „ein Gedächtnis der Stadt sind".
2022 war Bake Teil einer Kommission, die sich mit dem Umgang mit NS-belasteten Straßen beschäftigte. Die Kommission wurde von der Kulturbehörde einberufen. Sie erarbeitete Kriterien, nach denen diese Straßen behandelt werden sollen und sprach konkrete Empfehlungen für 24 Straßen aus. Von diesen wurde noch keine umgesetzt (Stand: Januar 2023). Die Vorschläge der Kommission gingen an die betreffenden Bezirke. Diese müssen nun darüber beraten und konkrete Vorschläge machen.
Empfehlungen der Kommission zum Umgang mit NS-belasteten Straßen
Der Hamburger Hafen war ein Zentrum des Kolonialismus
Spuren deutscher Kolonialgeschichte finden sich auch in Hamburg, unter anderem in den Straßennamen der Stadt. In Hamburg gibt es über 100 Straßen, die einen kolonialen Bezug aufweisen, davon knapp 40 im Bezirk Hamburg Mitte. Warum ausgerechnet dort?
Im Bezirk Hamburg Mitte gibt es die meisten Kolonial-Straßen
Hamburgs Geschichte als Kolonialmacht
Hamburg trat im Jahr 1321 der Hanse bei – einem Verband für nordische Kaufleute, die gemeinsam wirtschaftliche Interessen vertraten. Zunächst orientierte sich Hamburg in Richtung Westen und Norden, ließ Nordeuropa aber schnell hinter sich. Die hanseatischen Kaufleute erkundeten neue Handelsrouten, insbesondere nach Afrika und in die Karibik.
Der Handel mit Zucker, Kakao und versklavten Menschen prägte die Stadt und verhalf vielen Kaufleuten und Privatunternehmen zu Reichtum. Dieser beruhte auf der Ausbeutung der unterworfenen Gebiete wie Kamerun, Tansania oder Benin – und ging einher mit Gewalt, Genoziden und Menschenrechtsverletzungen.
Um ihren neu gewonnenen Reichtum zu sichern, überzeugten hanseatische Kaufleute den damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck davon, den Besitz in Übersee unter deutschen Schutz zu stellen. Deutschland gründete also Kolonien. Bismarck lud dazu 1884/85 zur Afrika-Konferenz nach Berlin. Dort teilten die Großmächte Europas den gesamten afrikanischen Kontinent in Interessensgebiete auf.
In Hamburg entstanden durch den Kolonialismus nicht nur am Hafen, sondern in der gesamten Stadt neue Infrastrukturen und Industrielandschaften. Der Freihafen und die Speicherstadt wurden für einen einfachen Warenverkehr angelegt. Harburg entwickelte sich zu Europas größtem Zentrum zur Verarbeitung von Kautschuk, Palmöl und Zucker. Altona und Wandsbek profitierten von ihren Kakao- und Tabakindustrien.
Auf den Spuren von Herrmann von Wissman
„Deutsch-Ostafrika", bestehend aus Tansania, Ruanda und Burundi, war von 1885 bis 1919 eine deutsche Kolonie. 1895 bis 1896 war Hermann von Wissmann dort Gouverneur.
Hermann von Wissmann (1853 bis 1905) war ein preußischer Offizier und an der kolonisierenden Erforschung des Kongo beteiligt. Als Reichskommissar schlug er von 1889 bis 1890 mit der aus afrikanischen Söldnern bestehenden „Wissmanntruppe" den antikolonialen Widerstand der Küstenbevölkerung in „Deutsch-Ostafrika" gewaltsam nieder. Er ließ Dörfer niederbrennen und galt als Wegbereiter des Maji-Maji-Krieges (1905 bis 1907), einem der verheerendsten Kolonialkriege auf dem afrikanischen Kontinent.
Wissmann war gefeierter „Kolonialheld" in Hamburg
1926 fand die Hamburger Kolonialwoche statt. Hier wurde auch Wissmann als „Kolonialheld" gefeiert. Über 40 Jahre lang stand außerdem ein Wissmanndenkmal vor dem Hauptgebäude der Universität Hamburg. Ende der 1960er beschmierten Studierende das Denkmal mit gelber Farbe und stürzten es – die Stadt entfernte es. Heute liegt das Wissmann-Denkmal in einem Lager der Sternwarte in Bergedorf.
Neben der Wissmannstraße in Wandsbek gibt es noch das „Wissmann-Haus" in Hamburg-Jenfeld, auf dem Gelände der ehemaligen Lettow-Vorbeck-Kaserne. Hier ist Wissmann mit einem in die Außenwand integrierten Porträt verewigt.
Die Wissmannstraße in Deutschland
Hermann von Wissmann ist niemand, der öffentlich durch einen Straßennamen geehrt werden sollte. Trotzdem gibt es die Wissmannstraße (oder Wißmannstraße) aktuell 20 Mal in Deutschland. In Hamburg gibt es seit 1950 eine Wißmannstraße im Bezirk Wandsbek. 2013 beschloss die Bezirksversammlung, dass die Straße umbenannt werden soll. Die Anwohner wollten an dem Namen aber festhalten.
Warum sich die Umbenennung der Wißmannstraße in Hamburg weiter verzögert, erklärt Jürgen Zimmerer, Professor für Afrikanische Geschichte an der Universität Hamburg, so: „Da viele die Benennung öffentlicher Flächen nach Kolonialisten und Rassisten nicht mehr für tragbar halten, fordern sie eine Umbenennung. Zu jeder Umbenennung gibt es auch Widerstand. Die Menschen möchten am Liebgewordenen festhalten, sehen den rassistischen Charakter des kolonialen Unrechtssystems oft nicht, verteidigen ein eingefrorenes Geschichtsbild."
Umbenennungen der Wissmannstraßen
Wie geht Hamburg mit dem kolonialen Erbe um?
Black, Indigenous and People of Color (BIPoC) sowie Initiativen und Vereine fordern eine kritische und akribische Aufarbeitung der Kolonialgeschichte und einen klaren Perspektivwechsel. Trotzdem wurden in Hamburg bislang keine einzige Straße mit kolonialem Bezug umbenannt.
Laut der Hamburger Behörde für Kultur und Medien (BKM) bereitet die Stadt derzeit im Austausch mit verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppen ein grundsätzliches postkoloniales Erinnerungskonzept vor. Teil davon sei auch der Umgang mit kolonial belasteten Straßennamen. Zur Vorbereitung des Konzepts fand im September 2021 ein Symposium im Staatsarchiv statt.
Die BKM hat außerdem einen Runden Tisch einberufen, um die verschiedenen Beteiligten aus Politik, Verwaltung, Institutionen und Gesellschaft zusammen zu bringen. Im Sommer 2022 stellte die Behörde außerdem einmalig 150.000 Euro für Hamburger Vereine, Stadtteilgruppen oder Einzelpersonen mit nachgewiesener Expertise und Erfahrung im Bereich Kolonialgeschichte zur Verfügung.
Der Pressesprecher der BKM erklärt, wie es weiter geht: „Auf Grundlage des Erinnerungskonzepts werden die Bezirke über den Umgang mit den Straßen diskutieren und der Senatskommission einen Vorschlag unterbreiten, auf dessen Grundlage dann entscheiden wird." Wann Vorschläge zur Umbenennung also konkretisiert und umgesetzt werden, ist unklar. Aber generell ist es wichtig, das koloniale Erbe aufzuarbeiten. Auch Professor Zimmerer sieht eine wichtige Bedeutung darin: "In ihren Straßennamen einigt sich eine Gesellschaft auf Vorbilder, Idole, was sie ausmacht und wie sie gesehen werden möchte."
Unsere Datensätze:
- Hamburgs Eigenarten
- Hamburgs Straßennamen erzählen Geschichten, C. Hanke, Medien-Verlag Schubert (2014)
- Barmbek-Süd: Wissens- und Sehenswertes, Hafen City: Moderne Architektur an der Elbe, Hamburg.de (zuletzt aufgerufen Januar 2023)
- Der Grindel, grindel-hamburg.de, (zuletzt aufgerufen Januar 2023)
- Hamburger Stadtteilprofile, Statistikamt Nord (Stand: 2019)
- Frauenstraßen:
- Wer steckt dahinter? Nach Frauen benannte Straßen, Plätze und Brücken in Hamburg, Bake, Stadt Hamburg, Landeszentrale für politische Bildung (2009)
- Auswertung nach Geschlecht, Stadtgeschichte München (2016)
- Frauen auf Köllner Straßennamen, Kölner Frauengeschichtsverein e.V. (2023)
-
Weibliche Straßenwidmungen in Berlin, H. Davenport, Tagesspiegel (2019)
- Straßen mit NS-Bezug:
- Umgang mit Hamburger Straßennamen, deren Namensgeber*innen eine mögliche NS-Vergangenheit in ihren Biographien aufweisen, R. Bake (Juli 2022)
- Abschlussbericht der Kommission zum Umgang mit NS-belasteten Straßennamen in Hamburg (Februar 2022)
- Übersicht über Umbenennungen bzw. Teilumbenennungen sowie „Umwidmungen“ (Wechsel Namensgeber) von Straßennamen wegen NS-Belastung 1985 bis 2019, Staatsarchiv Hamburg (Senatsbeschlüsse 1985 – 2019)
- Straßen mit kolonialem Bezug:
- afrika-hamburg.de, H. Jokinen & Hamburger Behörde für Kultur und Medien (2005, fortlaufende Aktualisierung)
- Städte mit kolonialem Straßennamen, freedom roads – Berlin Postkolonial & afrika-hamburg.de (Stand 2014)
- Aufarbeitung des kolonialen Erbes, Behörde für Kultur und Medien (zuletzt aufgerufen Januar 2023)