Eine neue Studie des britischen Magazins Carbon Brief zeigt: Europäische Länder sind für mehr CO₂-Ausstoß verantwortlich, als bisher erfasst. Grund dafür ist ihre Kolonialgeschichte.
Als Verursacher der höchsten CO₂-Emissionen galten bisher die USA, China und der EU-Raum. Aus einer Analyse von Carbon Brief geht allerdings hervor: Die EU-Staaten und das Vereinigte Königreich sind für sehr viel mehr CO₂-Ausstoß verantwortlich, als bisher gerechnet. Grund dafür ist ihre koloniale Geschichte, so die Autor*innen der Studie.
Die Studie rechnet die Emissionen aus der Zeit der ehemaligen Kolonien den jeweiligen Kolonialmächten zu. „Unsere Ergebnisse unterstreichen die historische Verantwortung der Industrieländer für die derzeitige Erwärmung, insbesondere der ehemaligen Kolonialmächte in Europa.“, sagt Dr. Simon Evans, einer der Verfasser der Analyse. Carbon Brief ist ein britisches Investigativmagazin, das über Wissenschaft und Politik des Klimawandels berichtet. Das Online-Magazin wird von der europäischen Klimastiftung finanziert.
Franziska Müller, Politikwissenschaftlerin an der Uni Hamburg, hält die Studie für relevant: „Sie macht erneut klar, dass die Verantwortung für die Klimakrise und die Betroffenheit durch die Klimakrise deutlich auseinanderklaffen.“ Seit Anfang 2020 ist sie Junior-Professorin für Globalisierung und Governance der Klimapolitik an der Hamburger Universität. Ihre Forschungspunkte sind unter anderem poststrukturalistische und postkoloniale Theorien in internationalen Beziehungen.
Historische Emissionen im Vergleich
Die Carbon-Brief-Analyse stützt sich auf mehrere Forschungsarbeiten, eine davon wurde in der Zeitschrift „Scientific Data“ im März 2023 veröffentlicht. Die Wissenschaftler*innen sammelten Daten über die globalen und anteiligen CO₂-Emissionen von 1850 bis 2023. Darauf stützt sich auch die Carbon-Brief-Analyse.
Zum Verständnis: Die CO₂-Emissionen werden zusammengefasst. Unter dem Begriff „Emissionen“ fallen die Verbrennung fossiler Brennstoffe, Zementherstellung, Landnutzung, Landnutzungsänderung und Waldrodung. Die letzten drei werden auf Englisch auch als „LULUCF“ zusammengefasst.
Um Werte für den Ausstoß zu ermitteln, untersuchten die Wissenschaftler*innen Veränderungen der Kohlenstoffvorräte im Boden und beziehen sich auf historische Schätzungen und Aufzeichnungen über Landnutzung- und -änderung. Jede Einheit, Kohle, Öl oder Gas, die verbrannt wird, setzt eine bestimmte Menge Kohlendioxid frei, die berechnet werden kann. Ein Beispiel aus Indonesien: Das Land wird oft mit Waldrodung in Zusammenhang gebracht. Allerdings ist die Kolonialgeschichte dahinter weniger bekannt. Die Niederlande entdeckte in den 1860er Jahren die Tabakindustrie für sich und bauten industrielle Plantagensysteme in Indonesien. Die ausgestoßenen Emissionen aus der jahrzehntelangen Ausbeutung werden in der Carbon Brief Analyse den Niederlanden zugeschrieben, nicht wie bisher Indonesien.
EU und Großbritannien nach wie vor über China
Rechnet man den EU-Raum und das Vereinigte Königreich zusammen, steigen die Emissionen des Kontinents von 14,7 Prozent auf 18,7 Prozent. Zum Vergleich: Der gesamte afrikanische Kontinent ist nur für 5,2 Prozent verantwortlich, statt für 6,9 Prozent, wie vorher gerechnet. Mit der neuen Rechnung klettert Großbritannien vom neunten auf den vierten Platz der größten CO₂-Verursacher weltweit – vor Indien, Brasilien und Deutschland. Grund dafür sind vor allem die angerechneten Emissionen von Indien – einer ehemaligen Kolonie des Vereinten Königreichs.
Mächte der Kolonialgeschichte tragen große Verantwortung
Die Emissionen der drei größten ehemaligen Kolonialmächte (das Vereinigte Königreich, Frankreich und die Niederlande) erhöhen sich um beträchtliche Anteile. Allerdings sieht Franziska Müller bei diesen Ländern einen Kritikpunkt. Dadurch, dass die Datenlage erst 1850 beginnt, fallen ein Großteil der vor diesem Zeitpunkt vor allem durch veränderte Landnutzung verursachten Emissionen der Kolonialmächte Portugal, Spanien und Frankreich aus der Studie heraus. „Als ‚Vorreiter‘ haben diese Staaten nicht nur immenses koloniales Leid verursacht, sondern auch zur späteren Normalisierung kolonialer Gewaltherrschaft beigetragen“, so die Politikwissenschaftlerin gegenüber FINK.HAMBURG. Allerdings ist das gewaltige Wachstum der CO₂-Emissionen seit dem Zweiten Weltkrieg primär auf fossile Brennstoffe zurückzuführen.
Koloniale Gewalt über Menschen ist eng mit der Ausübung kolonialer Gewalt über die Natur verknüpft.
Franziska Müller kritisiert auch das Bild Deutschlands in der Studie. Durch den spezifischen Zeitraum verändere sich die Rangfolge von Deutschland kaum, da die größten Emissionen nach der Kolonialzeit und im eigenen Territorium passierten. Die Waldrodung in drei der vier afrikanischen Kolonien seien zwar Teil der Analyse, würden aber durch den Start 1850 zu wenig einfließen, so die Politikwissenschaftlerin.
CO₂-Ausstoß pro Kopf verdoppelt sich für Großbritannien und die Niederlande
Ein weiterer Aspekt der Emissionen, der sich in der Carbon Brief-Analyse verändert, ist der pro-Kopf-Anteil an den kumulativen Emissionen. Um die Daten zu ermitteln, erfasst Carbon Brief die jährlichen Emissionen jedes Landes, summiert sie und teilt sie durch die derzeitige Bevölkerungszahl.
Besonders auffällig: der Wert der Niederlande. Von über eintausend Tonnen pro Kopf steigt der Wert um das Fünffache. Grund dafür sind wieder die Emissionen aus ihrer Kolonialzeit, insbesondere Indonesien. Neuseeland und Australien verlieren hingegen große Anteile ihrer Emissionen. Während der Kolonialherrschaft wurde massiv Waldrodung betrieben. Die entstandenen Emissionen werden der nun ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien angerechnet.
Kolonialgeschichte prägt die CO₂-Emissionen bis heute
Laut Statista hat die Menschheit seit 1850 insgesamt mehr als 2,5 Billionen Tonnen an Kohlendioxid in die Atmosphäre gepumpt. Das bedeutet, dass das CO₂-Budget bereits bis Ende 2023 zu 92 Prozent aufgebraucht ist. Das CO₂-Budget ist die errechnete Kohlenstoffmenge, die noch ausgestoßen werden kann, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Und das auch nur mit einer 50-prozentige Chance. Laut aktuellen Berechnungen beträgt der Restbetrag, der noch emittiert werden darf, rund 250 Gigatonnen CO₂. Das entspricht etwa sechs Jahren an Emissionen.
Neue Analyse als Erinnerung an Verantwortung
Dr. Simon Evans erwartet zwar keine große Änderung in der Politik, aber betont die Verantwortung der ehemaligen Kolonialmächte. „Unsere Analyse ist eine klare Erinnerung an die historische Verantwortung der Industrieländer, insbesondere derjenigen, die ehemalige Kolonialmächte sind.“
Auch die Politikwissenschaftlerin Müller hat Vorschläge für die Zukunft: „Eine intensivere Auseinandersetzung auch mit der umwelt- und klimabezogenen Kolonialgeschichte wäre notwendig.“ Politische Konsequenzen könnten beispielsweise darin bestehen, gezielte Klimakrisenpartnerschaften mit den ehemaligen Kolonien zu knüpfen, so Müller. Ehemalige Kolonialmächte könnten Klimareparationen leisten und ehemals kolonisierte Staaten bei Folgen der Klimakrise (wie Dürren, Überflutungen oder Hitzewellen) stärker unterstützen.
Alma Bartels, Jahrgang 1996, hat eine Schwäche für mongolischen Metal. Sie ist schon einmal kostenlos um die Welt gereist, kann sich aber kaum erinnern: Sie war erst zwei Jahre alt. Aufgewachsen zwischen Hamburg und Barcelona entwickelte sie ein Faible für Sprachen: Neben Englisch und Spanisch spricht sie auch Koreanisch und Katalanisch. Für Stern.de produzierte sie Videos über Fragen wie “Wie viele Nägel hat Ikea schon verkauft?”. In Bremen studierte sie Politologie und entdeckte ihre Liebe zum Kulturjournalismus. Am liebsten würde sie die mongolische Band Hanggai einmal danach fragen, wie das mit diesem Kehlkopfgesang eigentlich funktioniert. (Kürzel: aba)