Wer nach Anbruch der Dunkelheit durch Hamburgs Innenstadt spaziert, gewinnt den Eindruck, die Energiekrise sei bereits überwunden. Dabei steht sie uns noch bevor.

Beitragsbild: Julian Khodadadegan

Wäre der Jungfernstieg ein Jahrmarkt der Eitelkeit, dann wäre der Neue Wall die Hauptattraktion. Hier dreht sich nicht nur das Konsumkarussel besonders schnell, sondern auch der Stromzähler, wenn die jährliche Weihnachtsbeleuchtung hängt. Chanel, Versace, Tiffany und Cartier: Im Passageviertel und dem Neuen Wall sind alle Handtaschenmarken und Juweliere aus dem High-End-Segment vertreten. Window-Shopping macht natürlich mehr Spaß, wenn analog zu den Diamanten im Schaufenster über dem eigenen Kopf Millionen Lichter funkeln. Auch in diesem Jahr.

An einem Samstagabend nach acht streift kaum noch Laufkundschaft den neuen Wall entlang. Stattdessen sieht man Security in Anzügen, die die Rollgitter herunterlassen. Der Geländewagen einer Gartenbaufirma hält auf dem Bordstein vor Chanel, eine Gärtnerin im grünen Overall steigt aus und gießt mit einem Schlauch die Blumentöpfe, die im Spalier die Flaniermeile säumen. Eine private Initiative der Geschäfte, Business Improvement District (BID) genannt, organisiert alle Verschönerungsarbeiten rund um die Prachtmeile.

Es dämmert auf dem Boulevard der Eitelkeit

Es müssen sich viele Zahnräder im Einklang drehen, damit die Inszenierung einer Prachtmeile wie dem Neuen Wall funktioniert. Dass die meisten dieser Zahnräder Angestellte im mittleren und unteren Lohnsektor sind, birgt in der gegenwärtigen Krise einen zynischen Beigeschmack: Um während der Energiekrise ihre Stromrechnung zu begleichen, müssen sie im Job zur Energieverschwendung beitragen – und damit zur Erhöhung ihrer eigenen Nachzahlung.

Gegenüber FINK.HAMBURG betont das Projektmanagement des BID Neuer Wall, dass durch die Umrüstung auf LED-Technik der jährliche Stromverbrauch der Weihnachtsbeleuchtung von etwa 23.500 auf knapp 6.000 Kilowattstunden reduziert wurde. Zudem leuchten in allen City-Quartieren einschließlich des Weihnachtsmarkts am Rathaus die Lichter erst ab 13 Uhr statt von 10 bis 23 Uhr wie in den Vorjahren. Damit werde der Energieverbrauch in diesem Winter gegenüber den Vorjahren voraussichtlich deutlich unterschritten, was sich auch finanziell für die Unternehmen rentiert.

Energiekrise: Wann gehen die Lichter aus?

Die Initiative Hamburg Werbefrei hat 15.000 Unterschriften für eine Begrenzung digitaler Außenwerbung gesammelt und rechtfertigt die Forderung unter anderem mit einer Energieeinsparung. Die Aktivisten vermischen ihr Anliegen allerdings mit städtebaulichem Purismus und antikapitalistischem Unterton: Sie bemängeln eine “Kommerzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raums” durch leuchtende Werbetafeln an Straßen und Plätzen.

Damit zeichnet die Initiative ein sehr dystopisches Bild, welches schwer vermittelbar ist: Einen Times Square oder Piccadilly Circus sucht man in Hamburg immernoch vergebens. Stattdessen strahlen Spotlights die malerische Baukultur an, die sich in der Binnenalster spiegelt und damit ein bezauberndes Panorama erzeugt, welches Spaziergänger*innen und verliebte Paare ihren Alltag vergessen lässt. Von ein paar Werbetafeln lässt sich dieses Ambiente nicht entzaubern.

Ob leuchtende Werbetafeln, dekadente Weihnachtsbeleuchtung oder illuminierte Bürohäuser an der Binnenalster: Angesichts der sich verschärfenden Energiekrise drängt sich grundsätzlich die Frage auf, ob Hamburg sich diesen urbanen Luxus noch leisten kann.