Die Bundestagswahl hat viele Verlierer — und eine große Gewinnerin: Die AfD zieht in den Bundestag ein. Viele Politiker und Wähler sind bestürzt. Doch das Wahlergebnis bietet auch Chancen.
Ein Kommentar von Christoph Petersen, Johanna Röhr und Martin Tege
“Ganz Hamburg hasst die AfD”. Mit dieser Parole zogen noch am Wahlabend rund 150 AfD-Gegner vom Hauptbahnhof nach Eimsbüttel. Dort feierte die Partei in einer Kneipe ihren Einzug in den Bundestag. Vier Jahre nach ihrer Gründung wurde sie hinter der Union und der SPD drittstärkste Kraft.
Der erste Impuls: sich mit viel Schnaps und guten Freunden in eine Ecke verkriechen, um das Wort “Blau” wieder positiv zu besetzen. Wir plädieren jedoch für den zweiten Impuls: Kräfte sammeln und die fünf Chancen dieser historischen Wahl nutzen.
Chance 1: Die Mehrheit ist für Vielfalt
Eine Zahl machte am Sonntag in den sozialen Netzwerken die Runde: 87 Prozent. So viele Wähler haben nicht für die AfD gestimmt. Das bedeutet: Die überwiegende Mehrheit im Deutschen Bundestag setzt sich für Vielfalt, Toleranz und Menschlichkeit ein. Und auch innerhalb der AfD gibt es Abgeordnete, die für ein solidarisches Miteinander stehen. Im europäischen und internationalen Vergleich steht Deutschland damit noch immer gut dar. Ob in Frankreich, Niederlande, Österreich, Großbritannien: In diesen Ländern haben nationalkonservative Politiker die Macht erlangt oder sie nur knapp verpasst. So stark geteilt ist die deutsche Gesellschaft bislang nicht.
87 Prozent haben nicht die #AfD gewählt. Was wünschen sie sich nach der #btw17? Wir wollen es wissen. Twittern Sie mit #87Prozent! pic.twitter.com/7tAclhWYCM
— ZEIT ONLINE (@zeitonline) 25. September 2017
Chance 2: Jetzt müssen sie liefern
Verbale Entgleisungen und gezielte Provokationen haben viele AfD-Wähler darin befeuert, “Merkel muss weg” zu rufen, eine gesamtdeutsche Identität herbeizuträumen und das Schicksal Asylsuchender zu ignorieren. Die Verrohung des politischen Diskurses ist schlimm und kann deswegen nicht weitergehen wie bisher. Denn eine parlamentarische Tagesordnung beinhaltet weit mehr Themen, denen sich die AfD nun in der Opposition stellen muss. Sie muss sich an der Realpolitik messen lassen.
Chance 3: Debatten formen Demokratie
Parlamente leben von einer lebendigen Diskussionskultur. Wurden in den vergangenen Legislaturperioden die meisten Themen in einer großen Koalition unter den Regierungspartnern SPD und CDU/CSU ausgemacht, ist das politische Feld jetzt weitaus diverser. Nun könnte die Regierung aus Union, FDP und Grünen bestehen, sollte sich eine Jamaika-Koalition durchsetzen. Die Parteien der Opposition sind ebenso vielfältig aufgestellt: Die SPD und die Linke stehen der AfD wertemäßig gegenüber. Gerade die Opposition wird also gezwungen sein, sich Debatten zu liefern und daran ihr Profil zu schärfen. Der SPD, die nun als stärkste Oppositionskraft einzieht, kann das nach der großen Koalition der letzten Jahre nur guttun. Auch der Demokratie kann das zuträglich sein, denn sie wird durch Debatten im besten Fall gestärkt. Jedenfalls sollte man die Hoffnung nicht verlieren, dass die deutsche Demokratie den Einzug einer Partei wie der AfD aushält.
Chance 4: Enttäuschung bekämpfen
Mehr als eine Million Wähler haben noch vor vier Jahren für die CDU/CSU gestimmt, etwa eine halbe Million für die SPD. Diesmal haben sie der AfD ihre Stimme gegeben: aus Protest. 60 Prozent haben die AfD laut Umfragen aus Enttäuschung gewählt — hauptsächlich, weil sie unzufrieden mit der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik der aktuellen Regierung sind. Gleichzeitig sagt jeder zweite AfD-Wähler, dass sich die Partei nicht genug von rechtsextremen Positionen distanziert. Das zeigt vor allem eines: Wir müssen die AfD und ihre Wähler unterscheiden. Und auch differenziert mit ihnen umgehen.
Aber was tun mit der Enttäuschung über die aktuelle Politik und den Ängsten vor Überfremdung und ungewisser Zukunft? Die räumt man nicht durch Schweigen aus, oder indem man sich die Augen zuhält, um sie nicht mehr sehen zu müssen. Das hat schon als Kind beim Versteckspiel nicht geklappt. Die Verantwortung für die Zukunft liegt auch da bei den restlichen 87 Prozent. Die Antwort – und das gilt auch für die digitale Welt: reden, diskutieren, ernst nehmen, verstehen (und das heißt nicht einverstanden sein), Stellung beziehen. Und: Grenzen setzen. Denn das wahre Problem ist natürlich nicht, dass der Union der rechte Rand verlorengegangen ist, sondern, dass es ihn überhaupt gibt.
Chance 5: Jetzt erst recht!
Auf die Prognose und die ersten Hochrechnungen folgte der Trotz: “Jetzt werde ich mich politisch engagieren” kündigten viele aus unserem Freundes- und Bekanntenkreis nach der Bundestagswahl an. Die SPD verzeichnete beispielsweise in der Wahlnacht fast 1000 neue Mitglieder. Auf Demonstrationen gehen, in Parteien eintreten, ehrenamtlich arbeiten: Wenn alle enttäuschten Wähler ihre politischen Vorhaben Realität werden lassen, hat das Bundestagswahlergebnis wirklich etwas Gutes bewirkt.