Afghanische Taxifahrer bringen ein Stück Kultur an den Hamburger Hauptbahnhof: Sie spielen öffentlich Schach und jeder kann mitmachen.
Aus der Mitte einer im Kreis stehenden Gruppe steigt schwadenartig Zigarettenqualm auf. Die Wärme ihrer Kaffee- und Teebecher steigt den Männern ins Gesicht. Im Hintergrund erklingen ruhige elektronische Rhythmen zu sanften Ambient Melodien, es wird getuschelt und gelacht, hin und wieder hört man das Klacken der Schachfiguren, dann wieder angeregte Unterhaltung, schließlich lautes Lachen.
Es wäre naheliegend, diese Szene in einem gemütlichen Café zu situieren, allerdings sitzen die Herren nicht im geselligen Kreis um einen feingemaserten Coffee-House-Table. Sie stehen um eine der charakteristisch roten Mülltonnen am Hamburger Hauptbahnhof herum, auf dem ein Schachbrett steht. Hier duftet es nicht nach Gebäck und herzhaftem Aroma, sondern das fünf Schritte entfernt stehende Pissoir weht von Zeit zu Zeit den Geruch von Urin herüber. Aber das scheint niemanden zu stören.
Hinter den Spielern parken ihre Taxen in Reih und Glied. Sie warten auf den nächsten Fahrgast. Wie eine NDR-Dokumentation kürzlich zeigte, gehören lange Wartezeiten zum Alltag derjenigen Taxifahrer, die nicht in dem schwer zugänglichen Taxifunk sind. Etliche Pfandsammler, Drogensüchtige, Betrunkene und Sozialschwache tummeln sich im direkten Umkreis. Sie betteln, sprechen unablässig mit sich selbst oder sitzen beinahe regungslos in den Ecken, aber in dieser kleinen Schach-Oase bekommt man davon nicht viel mit. Reisende eilen vorbei und werfen ungläubig den Blick zurück. Die Verwunderung ist ihnen anzusehen, aber auch die Neugier. Ich stelle mich dazu und werde mit einem „Salam Alaikum“ gegrüßt – Aleikum Salam.
Die Spielzeit beträgt zehn Stunden
Um 11 Uhr stehen fast zehn Männer um den Mülleimer herum. Sie alle sprechen Dari, die afghanische Bezeichnung des Persischen. Dabei machen ihre Hände typisch intensive Gebärden, zeigen auf Figuren und verschiedene Spielfelder. Noch wird hitzig über die sinnvollsten Ratschläge diskutiert. Dann hört man plötzlich das Klackern von Rollkoffern und eine große Gruppe mit teuer aussehenden Anzügen kommt aus dem Hauptbahnhof gehastet. Alle eilen zu ihren Taxen, laden das Gepäck ein und fahren los. Nur der 67-jährige Baschar-Jar bleibt. Den belebten Herrn in olivgrüner Steppjacke haben alle Anwesenden vorher mit großem Respekt gegrüßt. Mit seinen ruhigen grauen Augen schaut er mich an und fragt in gebrochenem Deutsch: „Wollen Sie spielen?“
Während der Partie raucht er mit Bedacht seine Zigarette und hält sie so ruhig, dass kaum die Asche abfällt. Vor 22 Jahren etablierte er mit einem ehemaligen Arbeitskollegen diese Tradition. „Wir konnten diese ewige Warterei nicht ab und fingen aus Langeweile an“, erklärt er. Seitdem spielen die Taxifahrer jeden Tag von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends – ihre ganze Schicht lang. Baschar-Jar selbst ist kürzlich in den Ruhestand gegangen und kommt mit seiner Rente einigermaßen zurecht. Sein ebenfalls pensionierter Kollege hat einen eigenen Kiosk aufgemacht und kommt nur noch selten zum Spielen.
Langsam trudeln die Fahrer wieder ein. Sie reihen sich hinten in die Schlange der wartenden Taxen ein und kommen wieder zum Mülleimer. Ab und zu hupt es, der Spieler muss zum Wagen laufen, um ein Stück vorzusetzen. Jemand anders spielt solange weiter. Es macht keinen Unterschied, denn in gewisser Weise spielen sie ohnehin alle zusammen. Immer, wenn eine der stark lädierten Figuren geschlagen wird, knallt es leise von den kraftvollen Handbewegungen.
Gemeinschaft ist ein hohes Gut
Der 40-jährige Mehdipour flüchtete 1993 aus Afghanistan, das seit der Revolution in den 70er Jahren bis in die Gegenwart von nationalen- und internationalen Konflikten zerrüttet wird. Hier fand er einen neuen Job und die nötige Sicherheit, um weiterzumachen. Seit sechs Jahren fährt er Taxi. Hier hat er Freunde und eine neue Heimat gefunden. „Das geht auch der älteren Generation so“, erzählt er.
Immer wieder betont Mehdipour den kollegialen Zusammenhalt untereinander. Der respektvolle Umgang ist Normalität. Wenn neue Kollegen ankommen, werden sie zur Begrüßung freudig umarmt. Er erzählt, wie sehr ihnen allen diese Tradition am Herzen liegt: „Wie du siehst, lachen wir alle, geben uns Tipps und haben eine gute Zeit.“ Probleme habe es dort trotz des brennpunktartigen Umfelds nie gegeben. Die Stadtreinigung hat sogar die Schach-Tonne stehen lassen und nicht durch die neuen BigBelly Solar-Mülleimer ersetzt, auf dem man kein Schachbrett abstellen kann. Selbst auf dem kleinen Roten muss das Spielfeld durch eine leere Kassettenhülle gesichert werden, damit es nicht wackelt.
In der kalten Jahreszeit bleibt so mancher Fahrer doch lieber im warmen Auto sitzen, aber dafür gibt es einen Trost: das alljährliche Taxifahrer-Turnier finde immer um die Weihnachtszeit statt, samt Pokal und Meisterschaft. Für diesen besonderen Tag bleiben sie unter sich, aber an jedem anderen Tag könnte jeder mitmachen. „Manche Touristen wollen zwar Fotos machen, aber keiner spielt mit“, erklärt Mehdipour achselzuckend. Er raucht noch eine Zigarette. Dann muss er weiterarbeiten, während wieder jemand anderes am Zug ist. So wird es noch etliche Schichten weitergehen.