Auch in Zeiten von Social Media setzen Parteien noch auf den Wahlkampf an der Haustür. Wir haben einige Jungpolitiker vor der anstehenden Bürgerschaftswahl begleitet und erlebt, wie erlösend das Geräusch eines Türsummers klingen kann.
Drei junge Männer stehen vor einem Nagelsalon und warten. An der Wandsbeker Chaussee Ecke Conventstraße rasen Autos entlang, klingeln Fahrradfahrer*innen Fußgänger*innen aus dem Weg, sind alle mit einem Ziel unterwegs: schnell ankommen. Die Wartenden wirken in diesem Trubel seltsam deplatziert. Einer schaut auf seine Armbanduhr. Es ist kurz nach 17 Uhr. “Ich glaube, so viele werden wir dann nicht mehr.”
Die Grüne Jugend, der Jugendverband von Bündnis 90/Die Grünen in Hamburg, ist in Eilbek zum Haustürwahlkampf verabredet. Gemeinsam wollen die Parteimitglieder von Wohnung zu Wohnung ziehen und jene, die ihre Tür öffnen, dazu bewegen, bei den Bürgerschaftswahlen am 23. Februar ihre Kreuze bei ihrer Partei zu setzen.
Der Jutebeutel mahnt: “Die Zeit ist jetzt”
Justin Orbán ist Mitglied im Kreisvorstand der Grünen in Wandsbek und Teil des Wahlkampfteams. Über seiner Schulter hängt ein grüner Jutebeutel. Mit großen weißen Buchstaben mahnt dieser: “Die Zeit ist jetzt.” Im Eiltempo gibt Orbán zwei neuen Parteikollegen eine Kurzeinführung. “Hier haben wir unsere Kandidatinnen-Karte”, sagt er und hält einen Flyer hoch, auf dem die zuversichtlich in die Kamera lächelnde Spitzenkandidatin Rosa Domm abgebildet ist. Es folgt ein Flyer mit Spitzenkandidatin Katharina Fegebank. “Die geben wir immer zusammen raus.” Er kramt im Beutel: “Wir haben aber auch noch kleine Giveaways. Unter anderem grünen Tee.”
Kurz bevor die Gruppe aufbricht, stößt ein weiterer Mann hinzu. Adriaan van Haeften ist Vorsitzender im Kreisverband Wandsbek. Er kommt wie gerufen, geklingelt wird nämlich immer in Zweierteams. „Wo gehen wir heute lang?“, fragt van Haeften. „Na bei dir”, sagt Orbán, während er die Flyer auf die Taschen verteilt. “Du darfst gleich wieder zurück nach Hause.“ Gekämpft wird in der eigenen Nachbarschaft.
Mit der App durch den Haustürwahlkampf
Der Haustürwahlkampf zählt zu den klassischen Wahlkampf-Instrumenten. Was in Zeiten von Social Bots und personifizierten Werbeanzeigen auf Facebook fast antiquarisch wirkt, ist nach wie vor aktuell: Im Bundestagswahlkampf 2017 haben alle großen Parteien auf den Wahlkampf an der Haustür gesetzt. Neu dabei: das Smartphone mit der Wahlkampf-App in der Hand.
Die App hilft den Wahlkämpfer*innen bei der Orientierung. Sie zeigt relevante Gebiete an. Der*die Wahlkampfmanager*in markiert die Straßen, in denen potenzielle Wähler*innen der Grünen wohnen. Mit grünen Linien werden vielversprechende Gebiete ein- und mit roten Linien vernachlässigbare Gebiete ausgeschlossen. Geklingelt wird in Straßen, in denen man potenzielle grüne Nichtwähler*innen vermutet. Über das Navigationssystem kann außerdem vermieden werden, dass mehrmals an einer Tür geklingelt wird. Für die spätere Auswertung können die Teams außerdem vermerken, wie viele Türen ein Haus hat und wie viele davon geöffnet wurden.
Was nach dem oft vermissten Dialog zwischen Politiker*innen und Bürger*innen aussieht, hat eher symbolischen Charakter, wie eine Studie zu den im Vorfeld der Bundestagswahlen 2017 stattfindenden Haustürwahlkampf zeigt. Man wolle eher den Anschein der Erreichbarkeit erwecken, als wirklich das Gespräch zu suchen.
“Wir hätten gerne Ihre Stimme”
Das heutige Ziel der Haustürwahlkampf-Wahlgemeinschaft: Die Hasselbrookstraße in Hamburg Eilbek. Hier haben die Grünen bei der vergangenen Wahl gute Ergebnisse eingefahren, die Wahlbeteiligung war aber nicht besonders hoch. In den stuckverzierten Gründerzeithäusern, schlichten Geschosshäusern und nüchternen Rotklinkerbauten vermutet man potenzielle grüne Wähler*innen, die beim letzten Mal nicht den Weg an die Urne gefunden haben. Diese zu mobilisieren, ist die Aufgabe des Abends.
Für die linke Seite der Straße sind Adriaan van Haeften und Linus Bohm zuständig. Tagsüber ist van Haeften IT-Produktmanager. Bohm ist Schüler an einem Gymnasium. “Hast du so etwas schon einmal gemacht?”, fragt van Haeften mit niederländischem Akzent und hebt den Beutel hoch. Nein, das ist Bohms erster Haustürwahlkampf.
Im Gehen erklärt ihm van Haeften seine Methodik: “Ich mache das immer so: Ich sage ‘Moin, am 23. Februar ist Wahl. Wir hätten gerne Ihre Stimme, hier ist ein Flyer. Schönen Abend.’ Es geht gar nicht darum, dass man lange schnackt.”
Effektivität bestimmt das Handeln
Van Haeften geht zielstrebig zur Tür eines Fünfzigerjahrebaus mit drei Stockwerken und klingelt. Nichts zu hören. Keiner öffnet. Weiter zum nächsten Haus. Diesmal geht der Blick zuerst nach oben. “Ganz oben ist rechts das Licht an und darunter an beiden Seiten. Diesmal haben wir Glück”, sagt van Haeften und klingelt bei den Wohnungen im obersten Stockwerk.
Kurzes Warten. “Ja?”, fragt eine ältere Herrenstimme. Van Haeften: “Hallo, Bündnis 90, Die Grünen. Nächsten Monat sind Bürgerschaftswahlen. Wir möchten hier gerne Flyer abgeben.” – Herr an der Klingel: “Wie bitte?” – “Bündnis 90, Die Grünen, wir möchten gerne Flyer abgeben.” – “Ne danke, brauchen wir nicht.” Ein dumpfes Klicken. Aufgelegt.
Manchmal sage van Haeften einfach, dass er Post zustelle. “Dann geht die Tür meistens auf.” Bei den nächsten Türen haben die Wahlkämpfer aber mehr Glück. Nach dem erlösenden Surren an der Eingangstür geht es zuerst in das oberste Stockwerk, dann klingeln sie sich systematisch nach unten. Simultan wird im Akkord an Türen geläutet, werden Flyer in Hände gedrückt. Wo niemand zu Hause ist, wartet ein Türanhänger mit der Forderung, Katharina Fegebank am 23. Februar zu wählen, auf die Heimkehrenden.
Mikrotargeting in Zeiten von Big Data
Es wäre praktisch, mehr Informationen zu den Bewohner*innen zu haben. Was in den Vereinigten Staaten zum Wahlkampf-ABC dazugehört, ist in Deutschland aus datenschutzrechtlichen Gründen verboten. Die Rede ist von datenbasiertem Mikrotargeting. Hierbei wird die Bevölkerung mithilfe von statistischen Analysen beispielsweise in demografische, religiöse und politische Zielgruppen eingeteilt. Auf dieser Grundlage entwickeln Kommunikationsstrateg*innen Botschaften, die auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der einzelnen Zielgruppen eingehen.
Im Vorfeld der vergangenen Präsidentschaftswahlen in den USA sollen die Haustürwahlkämpfer*innen Donald Trumps über eine App möglichst genaue Informationen über die von ihnen besuchten Bewohner*innen und auf 32 Persönlichkeitstypen zugeschnittene Gesprächsleitfäden bekommen haben. In Deutschland können die Parteien lediglich in den Sozialen Netzwerken passgenaue Botschaften als Werbung ausspielen.
Treppen, Treppen, Treppen
Zurück nach Eilbek: Wenn die Haustüren aufgehen, scheinen viele Bewohner*innen überrumpelt. Mit großen Augen schauen sie die Wahlkämpfer an und schließen die Türe schnell wieder. Viele freuen sich aber auch, dass junge Menschen sich politisch engagieren. In den Treppenhäusern entstehen kurze Gespräche, Nachbar*innen winken sich von Haustür zu Haustür zu. In einem Altbau öffnet ein älterer Herr mit auffälligem Brillengestell die Tür und lobt den Einsatz der Wahlkämpfer: “Klasse, ich finde das echt super, was ihr macht.” Er hebt noch einmal kurz den Daumen, bevor er die Türe wieder schließt.
So unterschiedlich die Häuser in der Hasselbrookstraße sind, alle haben eins gemeinsam: keinen Aufzug. “Ich habe einen Bürojob”, sagt van Haeften laut atmend. Für ihn sei das Treppensteigen ein guter Ausgleich. “Und man hat ja auch Pausen zwischendurch”, ergänzt Bohm auf dem Weg nach oben.
Politische Gespräche vor Wandtattoos
Drei Tage später im Stadtteil Eimsbüttel: Für einen Samstag ist es noch früh, als sich die Grünen-Politiker um zehn Uhr in der Weidenallee in ihrer Visionenwerkstatt treffen. In Start-up-Atmosphäre mit industriell anmutender Backsteinwand, Lounge-Ecken und “Still lovin’ visions”-Wandtattoo macht man sich gegenseitig heiß auf den Haustürwahlkampf. Ein Fernsehteam und eine Handvoll Reporter sind heute dabei, denn Spitzenkandidatin Katharina Fegebank hat sich angekündigt.
Nach einer motivierenden Ansprache und entsprechendem Applaus geht es raus auf die leere Straße. Rund 20 Wahlkämpfer*innen haben sich heute früh aus dem Bett geschleppt und schauen nun erwartungsvoll in Richtung der Organisator*innen.
Wahlprognosen: Gefühl statt Mikrotargeting
In ihren dunklen Winterjacken und mit leuchtend grünen Mützen setzt sich die Gruppe langsam in Bewegung zur Christuskirche. Auch Georg Nitsche kämpft heute mit. Der ehrenamtliche Coach und Wahlkampfmanager ist extra für den Haustürwahlkampf aus München angereist. Er habe bereits an 10.000 Türen persönlich geklingelt, das hat er ausgerechnet.
“Ich gebe Workshops und Webinare zum Haustürwahlkampf”, sagt Nitsche und fährt sich mit dem Handschuh über seinen weißen Oberlippenbart. “Auf diese Weise habe ich inzwischen ungefähr 500 Multiplikatoren trainiert und das ist natürlich noch wichtiger, als selbst an den Türen zu klingeln.”
Mit der Zeit bekomme man ein ziemlich genaues Gespür dafür, wie hoch der Zuspruch für die eigene Partei hinter den Haustüren sei. Auch ohne Mikrotargeting. “Viele Wähler outen sich ungefragt, welche Partei sie bevorzugen. Und das, obwohl es das Wahlgeheimnis gibt.”
Die Aussagen an der Tür haben tatsächlich exakt übereingestimmt mit dem Ergebnis der vergangenen Landtagswahl in München, sagt Nitsche. “Jede dritte Person hat gesagt, dass sie grün wählt. Unser Ergebnis waren 31 Prozent.”
Jetzt geht es aber erst einmal weiter in Hamburg von Tür zu Tür. Nitsche zieht gemeinsam mit einer jungen Frau los, für die es der erste Haustürwahlkampf ist. Ausgerüstet mit der App, Flyern und dem guten Gewissen, etwas für die Gesellschaft zu tun.
Alle Informationen rund um die Bürgerschaftswahl findet ihr hier.
Titelfoto: Isabel Surges