Die Corona-Krise bringt die Studentin Shalom Baer in den USA an ihre Grenzen. Sie muss sich zwischen ihrer Existenz und ihrer Gesundheit entscheiden.
Normalerweise hört man morgens bei Shalom Baer die Kaffeemaschine brummen, doch nun herrscht unangenehme Stille im Skype Telefonat. Ihr Blick wirkt leer als sie von ihrer Couch durch die Fensterfront am Balkon schaut. Fast so, als wäre ihr Körper eine leere Hülle. „Ich stehe mit dem Rücken an der Wand. Entweder arbeite ich und riskiere Corona zu bekommen, oder ich gehe finanziell unter’’, sagt sie und ohne den Blick vom Fenster zu wenden.
Das “Irrenhaus”
Geboren in Kalispell im Bundesstaat Montana, einer kleinen Ortschaft neben dem Glacier National Park, wächst Shalom in einer Großfamilie auf. Ihre sieben Geschwister und sie werden zu Hause unterrichtet und streng christlich erzogen. Jeden Sonntag geht die Familie in die Kirche. Die Haare der Mädchen dürfen nicht geschnitten werden und sie dürfen nur lange Kleider tragen.
FINK.HAMBURG hat 24 Menschen gefragt, wie sich ihr Leben durch die Corona-Krise verändert hat. Geführt haben wir die Gespräche via Skype, Zoom, im engsten Bekanntenkreis, denn wir mussten Abstand halten. Herausgekommen sind dennoch Nahaufnahmen von Hebammen, Lehrkräften, Krankenpfleger*innen, Studierenden. Sie zeigen, wie herausfordernd das Virus für den beruflichen und privaten Alltag ist und wie Neuanfänge gelingen.
Schon früh merkt Shalom, dass sie aus dem „Irrenhaus’’ raus will. Sie gilt als Rebellin in ihrer Familie, weil sie mit 16 anfängt Jeans zu tragen und über ein Studium nachdenkt. Studienkosten fangen in den Tausenden an, eine Summe die ihre Eltern niemals aufbringen können. Sie ist auf sich alleine gestellt.
Mit 18 Jahren zieht sie von zu Hause aus und reist durch das ganze Land, um Geld für ihr Studium zu verdienen. Zwei Jahre und unzählige Jobs später, fängt sie ihr Studium in Minot, North Dakota an. Um sich den Lebensunterhalt zu finanzieren, arbeitet die US-Studentin auf der Militärbasis bei der Sandwich-Kette Subway, ihrer einzigen Einnahmequelle. Dann kommt die Corona-Krise und sie verliert ihre Arbeit.
Der Kampf ums Überleben
Drei Jahren habe ich an der Seite von Shalom in North Dakota studiert. Sie ist immer auffallend aktiv, heiter und arbeitsam gewesen. Doch während des Skype Telefonats Ende April, wirkt sie wie ausgewechselt. Mit zotteligen Haaren, übergroßem T-Shirt und langer Jogginghose liegt sie jetzt auf der Couch und atmet tief durch. Sie wirkt erschöpft und unmotiviert. Mühsam richtet sie sich auf, streicht sich die Haare aus dem Gesicht und stützt ihren Kopf ab. „Ich habe mich vor drei Wochen arbeitslos gemeldet und habe immer noch nichts gehört. Das System braucht Ewigkeiten, weil sich jetzt jeder arbeitslos meldet’’, sagt sie besorgt. „Selbst wenn Sie irgendwann mein Formular bearbeiten, werde ich nicht viel Geld bekommen, höchstens die Hälfte von dem was ich normalerweise verdiene. Es wird gerade so zum Überleben reichen’’.
In den USA gibt es kein Auffangnetz wie in Deutschland. Kurzarbeit ist dort unbekannt. Durch die Existenzängste breitet sich Panik aus. Waffen und Munition sind mittlerweile Mangelware und werden für jeden Raum im Haus gekauft, erzählt die US-Studentin kopfschüttelnd. Mit hoch gezogenen Augenbrauen betont sie, dass sie froh ist, schon eine Waffe zu besitzen. Auch Shalom hat Angst. Sie wisse zu was Menschen fähig sind, wenn sie in Panik geraten. Eigentlich hat sie die Waffe für die Jagd, aber sie würde sie auch zur Selbstverteidigung nutzen.
Plötzlich springt Shalom von der Couch und schreit „Du wirst nicht glauben was passiert ist!“ Sie stapft durch das Wohnzimmer, hält sich die Hand vor die Stirn und lacht kopfschüttelnd. Es klingt wie ein Lachen der Verzweiflung. „Zu Hause in Montana haben Menschen angefangen zu protestieren! Ich wurde in eine Facebook Gruppe eingeladen die ‘Reopen Montana’ heißt. Eine Frau hat dort geschrieben, dass wir alle die Adresse des Bürgermeisters rausfinden müssen, um dort mit Fackeln und Heugabeln aufzulaufen!’’, schildert sie fassungslos.
Konditionen wie zur Weltwirtschaftskrise 1929
Mittlerweile weiß die US-Studentin nicht mehr ob ihr zum Lachen oder zum Weinen zumute sein soll. Sie dreht sich um und zeigt mir bunte kinesiologische Tapes auf ihrem Rücken. Sie sehen nicht aus, als hätte ein Profi sie befestigt. „Ich musste mir die Tapes selber ankleben’’, bestätigt sie meinen fragenden Blick.
Letzte Woche hatte sie so starke Rückenschmerzen, dass sie ins Krankenhaus fuhr. An der Tür jedoch hieß es ‘If you don’t have the corona virus, you can’t come to the hospital right now’. Sie wurde von drei Ärzten abgewiesen und nach Hause geschickt. Letztenendes sprach sie über FaceTime mit einem Arzt, der ihr ohne Weiteres starke Pillen verschrieb. Mit lautem Seufzer gesteht sie: „Ich weiß nicht mal, wie viel mich die Untersuchung kosten wird. Das ist das große Problem mit unserem Gesundheitssystem. Du weißt nie, wie viel du für etwas bezahlen musst, bis du die Rechnung bekommst. Die Versicherungen geben auch keine Auskunft darüber, welche Kosten sie übernehmen’’.
Wenn die Untersuchung zu teuer werden sollte, hilft der US-Studentin auch Trump’s Stimulus Plan nicht. Die Regierung der USA gibt den US-Bürgern einen 1,200 Dollar Scheck, um in dieser Zeit über die Runden zu kommen. Bereits im Mai soll alles wieder hochgefahren werden, auch Subway soll wieder öffnen. Das Corona-Virus wird jedoch nicht einfach verschwinden, die Gefahr einer zweiten Infektionswelle ist groß. Doch welche Wahl hat Shalom: „We can’t close down again even if a second wave would hit. We are hitting great depression levels. At this point we have to choose between more illness or an economic collapse. Pick your poison.’’