Wann immer es geht, hilft Amira im Schnellrestaurant ihrer Eltern aus. Auch in der Corona-Krise. Eigentlich lebt die gebürtige Perserin in Berlin. Dort hat Corona ihr eine Wohnung gegeben – und auch wieder genommen.

Amira sitzt im grauen Strickpullover auf einem Barhocker. Draußen ist es warm und sonnig, aber hier drinnen, im Laden ihrer Eltern, ganz schön kalt. Vor der jungen Frau nimmt ein Laptop beinahe die ganze Fläche eines Stehtischs aus. Amira hebt den Kopf, als die Ladentüre aufgeht: “Wir haben noch nicht geöffnet”, sagt sie leise. Sie sieht müde aus. Kein Lächeln auf ihren Lippen. Ihre Haare trägt sie jetzt kürzer, schulterlang. Das lässt sie erwachsener wirken.

Geschichten einer Krise

FINK.HAMBURG hat 24 Menschen gefragt, wie sich ihr Leben durch die Corona-Krise verändert hat. Geführt haben wir die Gespräche via Skype, Zoom, im engsten Bekanntenkreis, denn wir mussten Abstand halten. Herausgekommen sind dennoch Nahaufnahmen von Hebammen, Lehrkräften, Krankenpfleger*innen, Studierenden. Sie zeigen, wie herausfordernd das Virus für den beruflichen und privaten Alltag ist und wie Neuanfänge gelingen.

“Wäre das alles hier nicht, wäre Corona mein bester Freund”

Amira, die eigentlich anders heißt, jedoch nicht möchte, dass der Laden ihrer Eltern auf Dauer mit Corona in Verbindung gebracht wird, ist 24 Jahre alt. Als sie fünf war, ist sie aus dem Iran geflohen und kam nach Deutschland. Sie lebt und arbeitet in Berlin, unterstützt aber wo es nur geht ihre Eltern im Betrieb: ein kleines Schnellrestaurant mit Lieferservice in Niedersachsen. Während andere in Kurzarbeit gehen oder ihre Jobs verlieren, weiß sie nicht, wo ihr der Kopf steht. Von neun bis 18 Uhr arbeitet sie im Homeoffice für einen amerikanischen Sportartikelanbieter. Danach hilft sie ihren Eltern bis Ladenschluss, gegen 22 Uhr. Für sie ist das selbstverständlich.

Das Handy klingelt. Sie antwortet auf persisch. Ihr Gesicht wird ernst und die Stimme lauter. Das Gespräch ist schnell beendet. “Meine Mutter. Ich soll beim Arzt anrufen. Für meinen Bruder. Alles muss ich hier machen.” Sie steht auf und geht zur Musikanlage. Kurz darauf schallt die Stimme des Rappers 6LACK durch den Laden. Langsam entspannt sich ihr Gesicht ein wenig.

“Wäre das alles hier nicht, wäre Corona mein bester Freund”, sie lacht über ihre makabere Aussage. Dinge, die ihr wichtig sind, verändern sich positiv: Die Leute würden auf Hygiene achten, der Lockdown sei gut für die Natur und sie hätte Zeit für sich.

Corona gab ihr eine Wohnung

Eigentlich wünscht sie sich nichts mehr als Ruhe. Kaum vorstellbar hier im Familientrubel – und auch in Berlin nicht, denn dort hat sie noch vier Mitbewohner. Fast hätte sie eine eigene Wohnung bekommen. Eine Freundin hatte sie als Mieterin vorgeschlagen. Ein Glücksfall auf dem angespannten Berliner Mietmarkt. Dann brach die Corona-Pandemie aus. Eigentlich wollte die Hausverwaltung noch öffentliche Besichtigungen durchführen. Das war nicht mehr möglich und Amira bekam die Nachricht: Sie könne einziehen.

Allerdings sieht die wirtschaftliche Lage des Unternehmens, bei dem sie angestellt ist, schlechter aus denn je. Die Hoffnung einen unbefristeten Arbeitsvertrag zu bekommen, ist dahin – und damit auch die finanzielle Absicherung. “Die Entscheidung, ob ich die Wohnung nehmen soll, hat mich gequält. Ich hatte Magenschmerzen, weil ich mir so einen Druck gemacht habe”, beschreibt sie. Letzten Endes entschied sie sich gegen das Angebot. Corona hatte ihr eine Wohnung gegeben – und wieder genommen.

Sonntags ist jetzt “tote Hose”

Punkt 17 Uhr klingelt das Ladentelefon. Amira nimmt die erste Bestellung für den Tag an: eine Pizza Sucuk, eine Calzone Hawaii und eine Cola. Auch das tägliche Ladengeschäft bekommt die Auswirkungen der Corona-Krise deutlich zu spüren. Die Bestellungen haben abgenommen. Durch die Schule in der Nähe brummte der Laden zur Mittagszeit, aber diese Kundschaft fällt nun völlig weg. Mittags haben sie deshalb nicht mehr geöffnet und sonntags ist jetzt auch “tote Hose”.

Nach wie vor kann alles von der Karte bestellt werden. Was die Lebensmittel angeht, habe sich nicht viel verändert. “Außer beim Mehl”, sagt sie. Oft hatten sie es in großen Mengen im Supermarkt gekauft. “Damals hat das niemanden gestört. Jetzt backen alle ja gefühlt nur noch selbst.” Auch beim Großhändler sei Mehl knapp und teuer geworden.

“Es ist so schön, einmal ein anderes Gesicht zu sehen”

17.30 Uhr – die erste Bestellung kann ausgeliefert werden. Amira legt den Pizzakarton auf den Deckel der Transportbox und übergibt ihn so an den Kunden. Der Austausch des Geldes erfolgt ebenfalls auf diesem Weg. Zurück im Auto reinigt sie sich die Hände. Desinfektionsspray und Gel liegen bereit. “Wenn meine Nase juckt, dann juckt sie. Da wird nichts angerührt”, erklärt sie ihre wichtigste Regel zur Handhygiene.

Schon vor der Corona-Krise war Amira eine Hygienefanatikerin. Desinfektionsmittel oder Tücher langen immer in Reichweite. Einkaufen ging sie nur mit eigenem Jutebeute. “Jetzt muss man ja einen Einkaufswagen benutzen”, sagt sie und verzieht angewidert das Gesicht. Ohne Handschuhe oder Tücher fasse sie die Wagen erst gar nicht an. Die Einkäufe reinige sie zu Hause immer gründlich und sobald sie die Wohnung betritt, wechselt sie erst einmal die Kleidung.

“Es ist so schön einmal ein anderes Gesicht zu sehen”, sagt sie lächelnd auf der Rückfahrt zum Laden. Rauskommen – auch das hilft im stressigen Alltag. Amira greift zum Handy, sucht einen Song heraus und drückt auf Play. Sie singt textsicher mit und trommelt im Takt auf dem Lenkrad. Die gedrückte Stimmung von vorher ist verschwunden.

Titelfoto: Chiara Schenk