Wie sieht der Corona-Alltag für Studierende im Wohnheim aus, wenn sie sich Küche, Bäder und Wohnzimmer mit vielen anderen teilen? Zwei Bewohner sprechen über wachsenden Zusammenhalt und darüber, wie schwer es ist, im Lockdown Leute kennenzulernen.
“Das Infektionsrisiko ist höher”, sagt Wilhelm Flat. “Aber bei den Hamburger Mietpreisen kommt man hier schlecht raus.” Der 24-Jährige wohnt seit fast fünf Jahren im vom Studierendenwerk getragenen Wohnheim Margaretha-Rothe-Haus. Weil er kurz vor dem Abschluss seines Medizinstudiums steht, kann er dort länger als die maximale Mietdauer von vier Jahren wohnen.
Sergej Zhilinksi ist 33 Jahre alt und kommt ursprünglich aus Russland. 2013 ist er mit seinem Vater und seiner Schwester nach Köln gezogen und hat dort Deutsch gelernt. Seit 2016 studiert er Informatik an der Universität Hamburg und lebt im Wohnheim Die Burse. “Für meine Mitbewohner ist es härter als für mich”, sagt er.
“Es ist unmöglich, sich aus dem Weg zu gehen”
Beide Studenten wohnen in einer Flurgemeinschaft. Pro Flur teilen sich die Bewohner*innen Badezimmer, Küche und Gemeinschaftszimmer. Wilhelm wohnt mit elf Mitbewohner*innen zusammen, Sergej sogar mit 18. Das Margaretha-Rothe-Haus und Die Burse gehören zu den 26 Wohnheimen des Studierendenwerks Hamburg. “Es ist fast unmöglich, sich komplett aus dem Weg zu gehen”, sagt Wilhelm. Dennoch fühlt er sich sehr wohl im Wohnheim. Er engagiert sich im Heimrat, organisiert das Welcome-Tutorium und in der Corona-Zeit gemeinsames Glühweintrinken auf Abstand oder Brieffreundschaften.
Wenn der beste Freund nebenan wohnt
Wilhelm ist froh, in dieser Zeit viele Mitbewohner*innen zu haben. “Ich mache mir Sorgen um die Studierenden, die gerade ganz alleine sind”, sagt er. “Ich glaube, irgendwann hat jeder in dieser Pandemie gemerkt, dass man mit jemanden von Angesicht zu Angesicht reden muss.” Wer wie er mit so vielen Menschen zusammenwohne, fühle sich selten einsam. Irgendwann habe man Freunde auf seinem Flur, die man weiterhin sehen könne. Lagerkoller gab es bei Wilhelm und seiner Flurgemeinschaft bisher nicht. “Wir sind viel stärker zusammengewachsen. Ich spreche da nicht nur für meinen Flur.”
Auch Sergej fühlt sich wohl, trotz Corona. “Ich habe keine Angst, mich im Wohnheim zu infizieren”, sagt er. “Ich weiß zwar nicht, was hier passiert, wenn ich im Büro bin. Aber ich hoffe, es halten sich alle an die Regeln.” Sergej arbeitet neben seinem Studium als Informatiker. Weil seine Kolleg*innen im Homeoffice sind, ist er im Büro. “Das ist wirklich gut, so komme ich raus und bewege mich.”
Dafür studiert Sergej online im Homeoffice. “Klar gefällt mir dieses Fernstudium absolut nicht. Aber solange ich nicht geimpft bin, will ich auch keine Präsenzveranstaltungen haben”, sagt er. An Sergejs Alltag hat Corona kaum etwas verändert: “Arbeit, Uni, Schlafen: Das war schon vorher mein Rhythmus.”
Welche Regeln gelten für Studierendenwohnheime?
Für die Wohnanlagen des Studierendenwerks gelten die gängigen Corona-Regelungen. “In allen öffentlichen Bereichen der Anlagen gilt Maskenpflicht, Desinfektionsmittel stehen ausreichend zur Verfügung”, so Jürgen Allemeyer, Geschäftsführer des Studierendenwerks Hamburg.
Bei Kontakt mit einer nachweislich an Covid-19 erkrankten Person sind die Bewohner*innen verpflichtet, das Studierendenwerk über die Hausverwaltung zu informieren. “Im Rahmen unserer Hausordnung haben wir weitere Regeln erlassen, zum Beispiel Verbot von Partys und Schließen von Fitnessräumen”, sagt der Geschäftsführer.
In Sergejs Wohnheim hat der Fitnessraum vor kurzem wieder geöffnet. Per Buchung und mit einer Person pro Raum dürfen die Bewohner*innen dort wieder trainieren. “Aber sobald sich jemand infiziert, wird der Raum wieder geschlossen und alle, die dort waren, müssen in Quarantäne bis ein Negativtest da ist”, sagt Sergej.
Besuch dürfen die Studierenden bekommen. Allerdings nur eine Person pro WG. Manchmal kommt es laut Sergej zu Überschneidungen, dann halten sie sich in unterschiedlichen Zimmern auf. “Aber wir haben eh kaum Besucher”, sagt er.
“Wenn sich eine Bewohnerin oder ein Bewohner mit dem Coronavirus ansteckt, werden sie keinesfalls sich selbst überlassen”, sagt Allemeyer. “Oftmals haben sich Betroffene bereits bei einem Verdacht selbständig in Quarantäne begeben und der zuständigen Hausverwaltung sowie Kontaktpersonen Bescheid gegeben.”
Corona im Wohnheim: Kochen für die Isolierten
Zu Beginn der Corona-Pandemie dachte Wilhelm, es ist nur eine Frage der Zeit, bis das gesamte Wohnheim in Quarantäne gesteckt wird. Jetzt fühle er sich aber sicher, weil sich aus seiner Sicht die meisten an die Corona-Regeln halten: “Natürlich kann die Hausverwaltung nicht bei jedem vorbeigehen und kontrollieren. Aber meine Leute auf meinem Flur gehen sehr verantwortungsvoll damit um.”
“Durch zielgerichtete Quarantänemaßnahmen betroffener Personen konnten wir verhindern, dass ganze Wohnheime unter Quarantäne gestellt werden mussten”, sagt Allemeyer. Wer in Quarantäne muss, isoliert sich also auf dem Zimmer und nutzt eine eigene Toilette. “Hier hat jeder Flur eine Gruppe in einem Social Messenger. Man tauscht sich aus, wann wer in die Küche geht und anschließend lüftet man durch”, sagt Wilhelm.
Eine Mitbewohnerin von Sergej besucht alle paar Wochen ihren Freund in Dänemark. Zurück im Wohnheim isoliert sie sich für zwei Wochen in ihrem Zimmer. “Wir haben irgendwann mitbekommen, dass sie sich währenddessen nur von billigen Ramensuppen ernährt”, erzählt Sergej. “Dann haben wir sie mit Essen verpflegt.”
“Aufeinander achten gehört hier zum Alltag”
Allemeyer beobachtet ein vorbildliches Verhalten der Bewohner*innen im Umgang miteinander und mit der Pandemie. Das spiegele sich vor allem in den geringen positiven Fällen wider, die auch durch den Einsatz der Mitarbeiter*innen bestmöglich gehandhabt würden. “Einige Bewohnende haben bereits während des ersten Lockdowns für Betroffene eingekauft und sogar einen Einkaufsservice für die umliegende Nachbarschaft organisiert”, sagt er. “Andere haben über 100 Community-Masken für Interessierte aus ihrem Wohnheim genäht. Aufeinander achten gehört hier zum Alltag.”
Ausländische Studierende werden nach ihrer Ankunft im Wohnheim dazu angehalten, sich selbst in Quarantäne zu begeben, bis ein negatives Testergebnis vorliegt. “Die Aktion Hamburg packt’s zusammen hat dem Studierendenwerk Tüten gespendet mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln. Die wurden vor allem an internationale Neuankömmlinge verteilt”, sagt Wilhelm.
Kein Weihnachten mit der Familie
An Weihnachten ist Wilhelm nicht zu seiner Familie nach Mönchen-Gladbach gefahren. Das war ihm zu gefährlich. Seine Mutter arbeitet im Altenheim und er hatte Angst, Corona aus dem Wohnheim mit nach Hause zu bringen. Weil sein Bruder auch im Margaretha-Rothe-Haus wohnt, haben sie zusammen Weihnachten gefeiert, per Videochat mit den Eltern.
Wilhelm hofft, dass er zu Ostern wieder nach Hause fahren kann. “Mir fehlt das Gefühl, dass ich meine Familie sehen kann, wann ich will.” Auf die Frage, was er nach Corona als erstes machen will, antwortet Wilhelm: “Zu meiner Familie fahren. Und eine Party schmeißen.”
Auch Sergej ist es zu riskant, seine Familie zu besuchen. “In meiner Familie wurden schon acht Menschen infiziert und eine ist gestorben. Deswegen verstehe ich das Problem”, sagt er. Die meisten Corona-Erkrankungen gab es bei seinen Verwandten in Russland, aber auch Familienmitglieder in Köln haben sich angesteckt. Eigentlich kommt seine Mutter jedes Jahr zwischen Juni und August zu Besuch. “Das war letztes Jahr nicht möglich und dieses Jahr wohl auch nicht”, sagt Sergej. Seine Familie fehle ihm, deswegen telefoniere er mindestens einmal pro Woche mit ihnen.
Von Hauspartys zu Flurpartys
Vor Corona gab es in den Wohnheimen von Sergej und Wilhelm mindestens zwei Mal im Monat eine Party für alle. “So blöd es klingt, aber die flurübergreifenden Partys mit der Bar hier im Wohnheim fehlen mir schon am meisten”, sagt Wilhelm. “In letzter Zeit habe ich oft gedacht: Wär ich doch damals das eine oder andere Mal mehr gegangen.”
Auf die Flurpartys will Sergejs WG nicht verzichten: “Wenn wir uns eh alle eine Küche teilen, können wir auch Party machen”, sagt Sergej. “Ein bisschen Spaß ist besser als nichts.”
Dieser Artikel ist der zweite Teil der Miniserie “Corona-Alltag in Wohngruppen”
Im ersten Teil hat FINK-Redakteurin Caterina über die aktuelle Situation in der Jugendhilfe berichtet und mit zwei Leiter*innen von Einrichtungen über Herausforderungen und Hoffnungen im Lockdown gesprochen. Das dritte Stück wird in Kürze veröffentlicht. Es behandelt den Alltag von Menschen mit Behinderungen in betreuten Wohngruppen: Markus sitzt im Rollstuhl und erzählt von seiner Sozialphobie und seiner Angst, dass sie im Lockdown stärker wird.
Illustration: Wiedeking/Klaeden