Als Kilian Riedhof das Buch „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ von Antoine Leiris zuschlägt, weiß er, daraus möchte er einen Film machen. Fünf Jahre später feiert der gleichnamige Kinofilm Deutschlandpremiere auf dem Filmfest Hamburg. FINK.HAMBURG hat Kilian Riedhof zum Interview getroffen.

Foto: Valentina Rössel

Die Nacht des 13. November 2015 verändert das Leben von Antoine Leiris. Seine Frau Hélène, die Mutter seines knapp zwei Jahre alten Sohnes, wird an diesem Abend mit 88 weiteren Personen im Konzertsaal Le Bataclan Opfer der Terroranschläge in Paris. Insgesamt 130 Menschen fordert die Anschlagserie vor dem Stade de France und in den beliebten Ausgehvierteln im 10. und 11. Arrondissement.

Nach den Anschlägen postet Leiris auf Facebook einen offenen Brief. Der bewegende Post löst eine weltweite Anteilnahme aus:

„Am Freitagabend habt ihr das Leben eines ganz besonderen Menschen gestohlen. Die Liebe meines Lebens. Die Mutter meines Sohnes. Aber meinen Hass bekommt ihr nicht. Ich weiß nicht, wer ihr seid, und ich will es auch nicht wissen. Ihr seid tote Seelen. Wenn der Gott, für den ihr blind tötet, uns nach seinem Bild erschaffen hat, dann hat jede Kugel im Körper meiner Frau auch ihn ins Herz getroffen. Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen. Auch wenn es das ist, was ihr wollt. Auf den Hass mit Wut zu antworten, hieße, der gleichen Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid.“ – Auszug aus dem Facebookpost vom 16. November 2015, Antoine Leiris

Regisseur Kilian Riedhof erzählt nun die Geschichte von Antoine Leiris aus der sehr persönlichen Perspektive eines Vaters auf der Kinoleinwand. Der Film basiert auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Leiris. Im Rahmen der Deutschlandpremiere des Films hat FINK.HAMBURG den Regisseur zum Interview getroffen.

FINK.HAMBURG: Die Anschläge in Paris waren vor sieben Jahren. Wann kam der Entschluss, einen Film darüber zu machen?

Kilian Riedhof: Ich habe das Buch vor fünf Jahren auf Anraten meiner Tante gelesen und war von der ersten Sekunde an überwältigt. Ich bin selbst Vater einer Tochter, die im gleichen Alter wie der Sohn von Antoine Leiris ist. Ich konnte mir seine Situation gut vorstellen. Mir war schnell klar, daraus möchte ich einen Film machen.

Was hat dich am meisten am Buch von Antoine Leiris beeindruckt?

Riedhof: Die Perspektive. Terrorismus wird neu erfahrbar. Terrorismus trifft den Kern unseres Zusammenlebens. Er trifft die Familie, einen der intimsten und fragilsten Bereiche unseres Lebens. Das Schicksal von Antoine ist für mich mehr als eine Geschichte über das Trauern. Es ist eine Ode an das Leben. Sie zeigt, wie man nicht im Hass stecken bleibt, sondern ihn überwinden kann.

Das Filmpublikum kennt nur die Sicht von Antoine Leiris. So sind auch die Anschläge im Film nicht zu sehen. War das eine bewusste Entscheidung?

Riedhof: Ja. Das war ein Wunsch von Antoine. Er wollte nicht, dass wir die Anschläge dramatisieren. Das traf auch unsere Überzeugung. Wir wollten die Perspektive wahren und nicht zugunsten eines billigen Effektes den Terroristen eine Bühne geben. Wir wollten bei den Opfern bleiben und zeigen, was Terrorismus mit Menschen macht, wenn er sie trifft.

Eine solch persönliche Perspektive eines Opfers wird in den Medien selten gezeigt. Berichterstattung fokussiert sich eher auf die Anschläge und Attentäter, weniger auf die Opfer.

Riedhof: Es ist nun mal ein Blickwinkel, den man eher tabuisiert. Was bedeutet es für mich, wenn ich getroffen werde? Es ist ein Albtraum, der einem in seiner Vorstellung begegnet. Ich habe den Film wohl auch gemacht, um mich meiner eigenen Angst zu stellen und persönlich eine Antwort auf die Frage zu finden. Mich hat die Geschichte nicht mehr losgelassen.

Die Anschläge haben ganz Europa getroffen. Es gab bestimmt einige Ansätze, die Geschichte zu verfilmen. Warum hat Antoine Leiris sich für deine Filmidee entschieden?

Riedhof: Es stimmt, dass die Rechte weltweit sehr umkämpft waren. Ich denke, Leiris hat uns die Filmrechte gegeben, weil wir die nötige Distanz haben, um die Geschichte auch erzählen können. Wir als Deutsche stehen nicht im Epizentrum der Geschehnisse. Kein Franzose braucht den offenkundigen deutschen Kommentar. Wir agieren hier als ein mitfühlender Freund.

In Paris hat fast jeder seine Geschichte zu jener Nacht, kennt jemanden der im Bataclan war oder der hinwollte. Ich habe mit einem Schauspieler gesprochen, der bei uns nicht mitspielen wollte, weil ein Verwandter von ihm im Bataclan war. Die Überschrift der Produktionsprozesse war zuhören, mitempfinden, sensibel bleiben. Aber auch aushalten, was Menschen einem erzählen.

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Wie war die Zusammenarbeit mit Antoine Leiris? Hat er Vorgaben für das Drehbuch gemacht?

Riedhof: Ich habe Antoine nur zweimal getroffen. Er hat uns freie Hand gelassen. Wichtig war ihm, dass das Kind im Film nicht zu alt ist. Wäre sein Sohn Melvil älter gewesen, hätte er den Tod seiner Frau mit Worten erklären können. Das war für ihn damals aber nicht möglich.

Die dreijährige Zoé Iorio spielt im Film die Rolle des Melvil, dem Sohn von Leiris. Wie bist du mit so einem jungen Kind am Set umgegangen? Wie hast du ihr das Thema und Emotionen erklärt?

Riedhof: Das war für uns ein großes Wagnis. Ich kenne keinen Film, der mit einer Dreijährigen in einer so großen, tragenden Rolle arbeitet. Wir hatten einen Kindercoach, Nouma Bordj. Sie hat mit Zoé trainiert und das Kennenlernen zwischen Pierre und Zoé betreut. Sie hat mit Zoé gemeinsam Parallelgeschichten entwickelt, um Emotionen hervorzurufen. Wir haben sehr darauf geachtet, dass man dem Kind nicht real Angst macht.

Der Rest ist Geduld und Timing: Ein Kind funktioniert nicht immer. Das ist völlig klar. Für Pierre Deladonchamps, der die Rolle des Antoine Leiris spielt, war das eine Herausforderung. Er musste immer dann präsent sein, wenn das Kind wollte und konnte. Dafür haben wir ein riesiges Geschenk bekommen: eine unglaubliche Authentizität. Das Kind spielt eine tragende Rolle, weil es für Antoine den Ausweg aus der traumatischen Trauer bedeutet. Antoine ist eingetaucht in seiner Rolle als Vater. Seine Beziehung zu seinem Kind rettet ihn davor, in seinem Hass unterzugehen.

Hier auf dem Filmfest läuft noch ein zweiter Film, der die Anschläge in Paris behandelt, „Novembre“. Und ein dritter Film, „Paris Memories“, erschien ebenfalls 2022. Warum gibt es jetzt gerade mehrere Filme zu diesem Thema? 

Riedhof: Filme bedeuten Verarbeitung und Verarbeitung braucht einen Augenblick des Luftholens. In Frankreich sind die Anschläge immer noch sehr frisch. Der Prozess gegen Salah Abdeslam, den einzigen überlebenden Attentäter, ist gerade erst zum Abschluss gekommen. Handelt man zu früh, wird es keine Bereitschaft geben, so einen Film zu finanzieren, geschweige denn anzuschauen. Vielleicht würde man es sogar als pietätlos sehen.

Was sollen die Zuschauer aus dem Film mitnehmen?

Riedhof: Dass wir uns unserer Beziehung zueinander und unserer Kultur bewusster werden. Nur so können wir uns vor Attacken von außen verteidigen. Wir müssen den Wert von Musik, Theater und Film wiederkennen. Wir tun gut daran, uns einander zuzuwenden, uns wahrzunehmen und das auch öffentlich erlebbar zu machen.

Ich war sehr froh, dass der Film seine Welturaufführung in Locarno hatte. Wir haben mit 8000 Menschen auf einem Marktplatz diesen Film zusammen gesehen. Es war der richtige Ort, den Film zu zeigen. 2015 in Paris hatten die Attentäter das Ziel uns Angst machen, wollten uns von großen Plätzen vertreiben. Dem haben wir bei der Premiere getrotzt und das war genau die richtige Antwort.

Kann Antoines Geschichte ein Vorbild für den Umgang mit Trauer und Hass sein?

Riedhof: Dagegen würde sich Antoine wehren. Wie wir trauern, kann man nicht lernen. Trauer ist immer schrecklich. Wünschenswert ist, dass man aus der Trauer in einem Neuanfang etwas entdecken kann. So habe ich es für mich erkannt. Auf den Tod meines Vaters habe ich innerlich beschlossen, Vater zu werden. Das war für mich die direkte Konsequenz, Tod mit Leben zu beantworten.

„Meinen Hass bekommt ihr nicht“ feierte am 12. August 2022 am Schweizer Ufer des Lago Maggiore beim 75. Internationalen Filmfestival in Locarno auf der Piazza Grande seine Weltpremiere. Am Dienstagabend folgte die Deutschlandpremiere auf dem Filmfest Hamburg. Mit dabei: Kilian Riedhof und die beiden Drehbuchautoren Jan Braren und Marc Blöbaum. Der Film läuft ab dem 10. November in den deutschen Kinos.

Das Leben von Valentina Rössel, Jahrgang 1998, läuft in der Regel nach Plan. Für Abwechslung sorgen gelegentliche Abenteuer. Die 23-Jährige probiert gerne Neues: schläft im Outback am Lagerfeuer, reitet Wellen auf Bali, knuspert in Mexiko Heuschrecken. In Norddeutschland geboren, in Köln aufgewachsen, war Valentina schon immer klar, dass sie einmal in Hamburg landen wird. Ihre erste Station war die Pressestelle im Hamburger Rathaus. Dort hat sie als Praktikantin den Ersten Bürgermeister auf Pressetermine begleitet und Social-Media-Posts für den Senat erstellt. Zuvor studierte sie Sprache und Kommunikation in der globalisierten Mediengesellschaft kombiniert mit Medienwissenschaft in Bonn. Die Frage: „Wie viele Heuschrecken kannst du essen?“ war zwar nicht prüfungsrelevant, ihren Bachelor hat sie trotzdem gut bestanden. Kürzel: var