Psychische Erkrankungen sind in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Trotzdem reden wir nur selten über sie. Um Vorurteile und Stigmata aus dem Weg zu räumen, ist jedoch genau das nötig: Wir müssen reden.
Wer schon einmal in einer mentalen Krise steckte oder Personen kennt, die an einer psychischen Erkrankung leiden, weiß: Oft ist es gar nicht so leicht, die richtigen Worte zu finden. Grund dafür sind Vorurteile und Stigmata, die wir gegenüber psychischen Erkrankungen entwickelt haben. Doch was ist ein Stigma und wie entsteht es?
Stigmatisierung: kein neues Phänomen
Der vorliegende Artikel ist im November 2021 als Radiobeitrag aufgezeichnet worden. Diesen Beitrag könnt ihr hier hören.
Stephanie Wuensch ist Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie und seit 12 Jahren als leitende Ärztin in der auxiliar GmbH tätig. Außerdem ist sie Vorstandsvorsitzende der Stiftung Freundeskreis Ochsenzoll, die sich für die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen einsetzt. Sie beschreibt Stigma so: „Das Wort leitet sich aus dem Griechischen her und bedeutet „der Stich“. Im 17. Jahrhundert ist das Wort in der kirchlichen Tradition mit Brandmal übersetzt worden. Damit kennzeichnet es eine Unstimmigkeit negativ, eben ein Makel.“
Stigmatisierung zeigt sich auf unterschiedliche Weise. Man unterscheidet zwischen interpersoneller Stigmatisierung (z.B. Ausgrenzung, Mobbing oder persönliche Angriffe) und öffentlicher Stigmatisierung (z.B. Benachteiligung bei der Arbeitsplatz- und Wohnungssuche). Zudem gibt es strukturelle Diskriminierung durch öffentliche oder private Einrichtungen, etwa durch die Benachteiligung psychisch Kranker bei der Vergabe von Leistungen. Auch Selbststigmatisierung ist keine Seltenheit: Betroffene übernehmen die Annahmen des Umfeldes und bewerten sich selbst als verrückt.
Warum wir psychische Erkrankungen anders behandeln
Es hat einen Grund, dass psychische Erkrankungen mit solchen Stigmata belegt sind: Sie sind auf den ersten Blick nicht sichtbar. Melina Grützner spricht auf ihrem Instragramkanal @melinaophelia offen über Themen wie mentale Gesundheit. Sie denkt, dass wir psychische Erkrankungen in unserer Gesellschaft anders behandeln, “weil wir in einer Leistungsgesellschaft leben. Wir leben in einer Gesellschaft, in der psychische Erkrankungen keine Erkrankungen oder keine sichtbare Verletzung sind, die so etwas wie eine Heldenverletzung sein könnten. Das bedeutet aber auch, dass wir funktionieren wollen in der Leistungsgesellschaft, in der wir leben. Das können wir aber nicht, wenn wir sagen, dass wir nicht so leistungsfähig sind, wie wir´s gerne wären, weil wir erkrankt sind.”
Häufig spiele auch die Angst vor dem Unbekannten eine Rolle beim Umgang mit psychischen Erkrankungen, so Stephanie Wuensch. Auch Schuldzuweisungen an die betroffene Person tragen zur Stigmatisierung psychischer Krankheiten bei. Diese Stigmata sind häufig sehr tief in unseren Köpfen verankert und gar nicht so leicht wegzubekommen. Um sie zu bekämpfen, ist es wichtig, dass wir öffentlich über psychische Erkrankungen sprechen.
Entstigmatisierung, wie geht das?
Die Stiftung Freundeskreis Ochsenzoll ist einer der großen Träger im (sozial-)psychiatrischen Bereich in Hamburg. Sie will die Lebensbedingungen von Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder seelischen Behinderung verbessern. Deshalb engagiert sie sich mit Projekten für mehr Austausch zu psychischer Gesundheit und für Kinder psychisch kranker Eltern.
Eine Möglichkeit sind Vereine und Initiativen, die sich für die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen einsetzen. Sie bilden einen Safe-Space für den Austausch unter Betroffenen und Angehörigen. Die Stiftung Freundeskreis Ochsenzoll bietet seit vielen Jahren Hilfestellungen zum Thema psychische Erkrankungen: “Wir versuchen zu beruhigen und die Angst zu nehmen und aufzuklären, was nun wirklich hinter Depressionen, Persönlichkeitsstörungen oder Angststörungen steckt. Und dass es auch völlig normal ist, dass Menschen mal in einer seelischen Krise sind,” erklärt Stephanie Wuensch. Vereine, Stiftgungen und Initiativen leisten mit Beratungen, Veranstaltungen und öffentlicher Kommunikation wichtige Aufklärungsarbeit, um psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren.
Die Dosis macht das Gift: Die Sache mit den sozialen Medien
Soziale Medien spielen beim Thema psychischer Erkrankungen eine umstrittene Rolle. Auf der einen Seite kann die übermäßige Nutzung die mentale Gesundheit verschlechtern. Auf der anderen gibt es aber auch sinnvolle Beiträge und Informationsangebote, die psychisch Erkrankte unterstützen können. Soziale Medien bieten zudem die Möglichkeit zum Austausch unter Betroffenen. Der offene Umgang mit Themen wie psychischer Erkrankung und Therapie trägt ebenfalls zur Entstigmatisierung bei.
Es gibt mir das Gefühl, dass ich in dieser ganzen Scheinwelt noch ein bisschen was Positives rausbringen kann. – Melina Grützner
So begründet auch Melina Grützner, warum sie auf Instagram offen über ihre mentale Gesundheit spricht. “Ich wollte einfach den Leuten das Gefühl geben, dass sie ok sind, so wie sie sind und dass es ok ist, wenn man psychisch erkrankt. Ich bin damit auf eine Resonanz gestoßen, mit der ich so nicht gerechnet hätte. Klar ist das irgendwo mit Scham verbunden und es war für mich auch nicht einfach öffentlich darüber zu sprechen, aber die Rückmeldung, die ich damit bekomme, ist wunderschön.”
Aufklärungsarbeit in der Schule
Auch die Schule ist laut Wuensch ein wichtiger Ort, um Aufklärung zu betreiben, “weil wir auch deutliche Zunahmen bei Kindern und Jugendlichen im Bereich von seelischen Krisen feststellen.” Die Schule sei immer schon ein Ort gewesen, wo Kinder auch schlecht behandelt würden von anderen Kindern, das wisse jede Generation zu berichten. Die Aufklärungsarbeit in den Schulen helfe den Kindern sich selbst aber auch Mitschüler:innen besser einschätzen zu können. Auch die Lehrer müssten für die gesamte Bandbreite psychischer Erkrankungen sensibilisiert werden.
Schule ist ein wichtiger Ort, um über psychische Probleme aufzuklären. – Stephanie Wuensch
Bereits in der Schule anzusetzten, würde nicht nur das Leben der Kinder und Jugendlichen verbessern, sondern auch die Krankenkassen und Steuerzahler entlasten. Es würde auch – kapitalistisch gedacht – bessere Arbeitskräfte und gesündere und glücklichere Menschen schaffen, so Melina Grützner.
Psychische Erkrankungen: Offener Umgang und Verständnis
Je offener ich auch in meinem privaten Umfeld mit meiner mentalen Gesundheit umgehe, desto mehr ist auch meine Lebensqualität gestiegen. – Melina Grützner
Nicht zuletzt braucht es zur Entstigmatisierung Offenheit, Neugier und Verständnis, um Betroffenen im Umgang mit einer psychischen Erkrankung zur Seite zu stehen. Stephanie Wuensch fordert deshalb, “dass es gesellschaftlich normal wird, auch über das innere Empfinden zu sprechen. Auch wenn’s mal nicht so gut ist. Und dass der oder die einzelnen das Gespräch und das Verständnis suchen und eben nicht sagen: Nun reiß dich mal zusammen. Das ist glaube ich die beste Möglichkeit sich dem Thema anzunähern.”
Hier findest Du Hilfe
Du leidest unter Ängsten, Depressionen oder gar suizidalen Gedanken? Die Telefonseelsorge erreichst du unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222 rund um die Uhr. Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen ist unter 0 800 / 777 22 44 täglich von 8 bis 20 Uhr in Corona-Krisenzeiten erreichbar und berät. Alle Angebote sind anonym und kostenlos. Auf der Seite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung findet sich zudem ein Überblick über Unterstützungs- und Beratungsangebote.
Illustration: Charlotte Götze