Ein Paar hellrosa Ballettschuhe, mehr sind Olena Karandieieva nach ihrer Flucht nicht geblieben. Jetzt tanzt sie mit anderen ukrainischen Künstler*innen beim Hamburg Ballett. Das Projekt zeigt: Tanzen bietet Rückhalt.
Die Nachmittagssonne fällt in die Caspar-Voigt-Straße, auf das Ballettzentrum von John Neumeier in Hamm-Nord. Drinnen laufen Kinder über die Gänge, Trainingsanzüge liegen auf Stühlen, in der Luft liegt ein leichter Linoleumgeruch. Der wichtigste Ort im Haus ist heute der Ballsaal. Für die erste Probe mit Zuschauern wurden zwei Reihen Klappstühle aufgestellt. Es herrscht ein Medienrummel wie sonst nur bei Generalproben. Genauso ungewöhnlich wird die Vorstellung: Das Hamburg Ballett hat für die Produktion des Stücks „For The Air That We Breathe“ insgesamt sieben Tänzer*innen aus der Compagnie des Staatsballetts in Kiew eingeladen.
Ein Novum, eines von vielen, seit Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat. Das Stück sei „mit heißer Nadel gestrickt“ – so zumindest beschreiben es die Kooperationspartner des Kampnagels. Und das ist nicht übertrieben. Zum Zeitpunkt dieser Vorführung haben die Tänzer*innen gerade einmal zehn Tage trainiert. „Wir wussten bis heute Morgen nicht einmal, dass diese Probe vor den Medien stattfinden sollte. Überraschung!“ Vladislav Romashchenko lächelt ein bisschen, als er das sagt.
Man ist die ganze Zeit am Handy, checkt die Nachrichten, kann nicht abschalten. Konzentration für das Training war fast unmöglich.
Er ist einer der Gasttänzer aus der Ukraine. Zusammen mit den anderen ist er aus Ravenna angereist, in seiner Heimat war er schon seit mehr als einem Monat nicht mehr. Jetzt kann er sich wieder auf seine Arbeit konzentrieren. Jetzt ist der Großteil der Freunde und Eltern erst einmal in Sicherheit. Vor einem Monat haben sich noch ein paar von ihnen in der Nähe Butschas aufgehalten – dem Ort, der wie kaum ein anderer für den Schrecken dieses Krieges steht. „Sich auf das Training zu konzentrieren, war fast unmöglich in dieser Zeit“, sagt Vladislav. „Man ist die ganze Zeit am Handy, checkt die Nachrichten, kann nicht abschalten.”
Düsterer Tanz, freudige Stimmung im Hamburg Ballett
Das Stück selbst ist abstrakt, steckt jedoch voller Emotionen. Ukrainische Balladen untermalen die Sehnsucht, den Abschied, die Verzweiflung. Schweres Atmen nach dem Pas De Deux des ersten Solisten des Hamburg Balletts Alexandre Riabko und seiner Partnerin Silvia Azzoni. Insgesamt ergeben die Tänze aus „For The Air That We Breathe“ ein eher düsteres Zusammenspiel. Grau sind die Röcke der Tänzer*innen, schwarz die Anzüge der Tänzer.
Ob das Stück politisch sein soll? „Nein, eigentlich nicht“, antwortet Olec*. Er ist Teil des Ensembles, hat maßgeblich an der Produktion mitgewirkt. Aus Sicherheitsgründen will er unerkannt bleiben. Kunst selbst kann nicht politisch sein, meint er. Man könne Kunst über die Politik machen, aber sie selbst bleibe unabhängig. „Die Ausnahme ist der Krieg, dieser Krieg. Der ist blanker Horror. Da kannst du als Künstler nicht neutral bleiben.“
Das Stück muss nicht politisch sein, es geht um die Tänzer und Tänzerinnen selbst und um das Projekt.
Trotzdem existiere das Stück nicht als Statement, sondern hauptsächlich für die Tänzer*innen selbst. Die Zusammenarbeit mit dem Hamburg Ballett sei das Beste, was man ihnen zu dieser Zeit ermöglichen könne. Sie proben teilweise mehr als zwölf Stunden täglich. Erschöpfung hat Olec aber noch bei niemandem gespürt. „Die Compagnie kümmert sich umeinander. Sie sind sehr froh, hier sein zu dürfen.“
Olena Karandieieva, eine der Tänzerinnen aus Kiew, hat nach der Probe das größte Lächeln im Gesicht. Als sich im Anschluss ein Fotograf durch die Menge schält und sagt, dass John Neumeier jetzt bereit für ein Bild mit den Tänzer*innen sei, beendet sie mit einem großen „Yes, Yes!“ sofort alle Interviews und ist weg.
Keine Nationalitäten, sondern Menschen, die zusammenkommen
Szenenwechsel. Drei Tage nach der Probe vor den Medien: die Premiere des Stücks. Das Publikum spricht deutsch, englisch, ukrainisch. Zwei Shows waren eigentlich an einem Wochenende geplant, eine dritte hatte das Kampnagel-Team wegen der hohen Nachfrage hinzugefügt, Ende Mai ist eine weitere in Lübeck geplant. Olec kündigt das Stück an, neben ihm übersetzt eine Dolmetscherin.
Die Bewegungen des Stücks wirken freudiger und kraftvoller als noch in der Probe – Olenas Lächeln scheint noch breiter. Man merkt ihr nicht an, dass sie einen ganzen Monat lang in Kiew überhaupt nicht trainieren konnte. „Jeden Tag heulten die Sirenen wegen der Luftangriffe und wir mussten nach unten in den Keller.“ Sie zeigt auf ihre hellrosa Spitzenschuhe. Sie sind das Einzige, was ihr aus dem Heimatballett noch geblieben ist. „Aber es ist wundervoll, dass uns hier nochmal die Möglichkeit gegeben wurde, bei diesem Projekt mitzuwirken.“
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine macht sich auch in Hamburg bemerkbar. FINK.HAMBURG hat dazu in der Serie “Ukraine in Hamburg” Reportagen und Porträts von Betroffenen zusammengestellt. In der Schule und im Ballett, unterwegs mit einer geflüchteten Influencerin und einem Tennisprofi aus Kiew – FINK.HAMBURG zeigt unterschiedliche Herausforderungen und Perspektiven, die mit dem Krieg zusammenhängen.
Das Projekt rund um „For The Air That We Breathe“ zeigt deutlich: Tanzen bietet einen Rückhalt. Auf der Bühne ist das Stück in vollem Gange. Olena lässt sich tragen, vollführt einen Spagat in der Luft. Olec steht am Rand und schaut den Künstler*innen zu, mit denen er die vergangenen Wochen verbracht hat. „Bei solchen Kreationen gibt es keine Nationalitäten mehr, dann besteht das Team nur noch aus Menschen, die genau dafür zusammenkommen“, sagt er. Vladislav rollt auf der Bühne über den Boden, springt in die Luft, dynamisch, bewegend. Der letzte Ton verklingt, Verbeugung, tosender Applaus.
„Du musst zeigen, was in der Ukraine passiert”
Die Stiftung zur Förderung der Hamburgischen Staatsoper hat die Künstlergehälter übernommen, Einnahmen gingen vollständig an die Beteiligten. Das Stück stellt den Auftakt zu Größerem dar: Ende Juni sollen weitere Projekte folgen. Kampnagel kümmert sich aktuell um Fördergelder, um Stipendien und längere Aufenthalte der Tänzer*innen zu ermöglichen.
Auch Vladislav und Olena würden gerne noch bleiben. Dank der Opernstiftung haben sie inzwischen Wohnungen in Hamburg gefunden und sind nicht mehr auf das Ballettzentrum als vorläufige Unterkunft angewiesen. Sie können also weiter tanzen für den Zusammenhalt, gegen die Zerstörung. „Mein Vater hat mir zu Hause mal gesagt: Junge, dich hier im Land rekrutieren zu lassen, das bringt nichts“, erzählt Vladislav. Er bleibt gefasst, wenn er von der Heimat spricht, nur seine Stimme wird ein wenig leiser. „Er sagte: Du musst anderen zeigen, was in der Ukraine passiert. Anderen über die ukrainische Kultur und das Theater erzählen. Auch das ist unglaublich hilfreich.“
*Name geändert