John Carroll Lynch ist nicht mit David verwandt – und doch weist sein Erstling “Lucky” erstaunliche Parallelen zum Werk des Starregisseurs auf. Mit der Geschichte eines alten Eigenbrödlers, der über das Sterben nachdenkt, wurde das 25. Hamburger Filmfest eröffnet.
Lest hier alle Rezensionen, Interviews und Texte rund um das 25. Filmfest Hamburg.
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Staubige, unendlich scheinende Steppe. Mittendrin blühen nur ein paar Kakteen. In dieser fast trostlosen Szenerie bewegt sich auch die Zeit im Tempo einer Landschildkröte. Das stille Nichts der Landschaft Arizonas bildet die Kulisse der spirituellen Reise des 90-jährigen, kettenrauchenden Weltkriegsveteranen Lucky (gespielt vom erst kürzlich verstorbenen Schauspieler Harry Dean Stanton), der zurückgezogen in seiner alten Hütte ein isoliertes Leben führt. Den Großteil seiner Freunde hat er überlebt. Familie? Hat er nicht.
Gezeichnet ist Luckys Lebensabend von immer gleichen Routinen: Mentholzigarette und Yoga-Übungen nach dem Aufstehen, Filterkaffee um 12:00 Uhr mittags, ständige Kreuzworträtsel und die Bloody Mary in seiner Lieblingsbar am Abend. Erst, als er schließlich beim Kaffee zusammenbricht, beginnt Lucky sich mehr und mehr mit seinem nahenden Ende zu beschäftigen. “Was ist Realismus?”, die Frage findet er in einem Kreuzworträtsel. „Realismus ist eine Haltung, Gewohnheit oder Situation hinzunehmen, wie sie ist, und der entsprechende Umgang damit“, so steht es im Lexikon. Lucky beginnt eine Suche nach dem Sinn und beschäftigt sich zum ersten Mal mit der Unausweichlichkeit des eigenen Todes.
Mehr als ein Bezug zum berühmten Namensvetter David Lynch
Das Drama “Lucky” ist John Carroll Lynchs Erstlingswerk. Der US-Schauspieler ist einem breiten Publikum bisher eher bekannt als rauchender Deputy Warden McPherson in “Shutter Island” oder als vielfältiger Seriendarsteller etwa in “The Walking Dead”. John Carroll Lynch ist weder verwandt noch verschwägert mit seinem Namensvetter David.
Und doch ist die Handschrift von David Lynch in “Lucky” unverkennbar. Nicht nur, dass dieser mit dem Charakter Howard eine Nebenrolle im Film übernimmt, auch sein cineastischer Einfluss ist sichtbar. Wenn Lucky sich zum Beispiel einer unwirklich rot leuchtenden Tür nähert, auf der “Exit” zu lesen ist und ein lautes, verzerrtes Gitarrenriff sich zum Höhepunkt verdichtet, wird dem Zuschauer vielleicht “Eraserhead” einfallen. Doch bevor es zum erwartbaren Knall kommt – Szenenwechsel. Die Auflösung der Situation bleibt John Carroll Lynch wie sein offenkundiges Vorbild David Lynch dem Publikum gewollt schuldig.
Auch Hauptdarsteller Harry Dean Stanton ist kein Unbekannter im Lynch-Universum. Der Charakterschauspieler drehte mehrfach mit dem Regisseur, zum ersten mal in der Rolle eines Privatdetektivs in “Wild at Heart”. In der kürzlich reaktivierten Fernsehserie “Twin Peaks” spielt er zudem den schrulligen Besitzer eines Wohnwagenplatzes. Nach Stantons Tod würdigte ihn David Lynch als “großartigen Schauspieler und fantastischen Menschen.” Die Premiere des Films erlebte Stanton nicht mehr.
Leben und Tod als Leitmotiv
Um den Tod geht es auch in “Lucky”, oder vielmehr um die Angst davor. Es geht um verpasste Chancen oder nicht eingeschlagene Lebenswege. So stellt Lucky irgendwann fest: Es bleibt nichts, auch wenn wir noch so sehr versuchen, an den Dingen festzuhalten. Die Wahrheit ist, dass alles einmal verschwinden wird und niemand übrig bleibt.
Lucky beginnt, seine Routinen zu durchbrechen. Beginnt, sich Menschen und Dingen zuzuwenden.
Und so ist “Lucky” kein Abgesang auf das Leben, sondern ein bittersüßes Lächeln. Jeder sucht den Sinn auf seine Weise, der Mann mit den klaren Routinen genauso wie der Mann mit der Schildkröte. Jeder, den Lucky trifft, bedauert etwas anderes – aber darin sind sie vereint. Am Ende kommt man beklommen und getröstet zugleich aus dem Kino: Der Tod ist unvermeidlich, aber es gibt ein Leben davor.
John Carroll Lynchs Drama “Lucky” wurde beim 25. Hamburger Filmfest als Eröffnungsfilm gezeigt. Der offizielle Kinostart in Deutschland ist am 8. März 2018.