In „Die Unsichtbaren – wir wollen leben“ erzählt Regisseur Claus Räfle ein Stück Holocaust-Geschichte nach, das im Film bislang kaum Beachtung fand. Und setzt dabei auf ein ungewöhnliches Stilmittel.
Der junge Eugen Friede fährt mit dem Bus zur Arbeit. Er trägt einen Davidstern auf der Brust. „Was machst du denn hier?“ fährt der Schaffner ihn an. „Jemand wie du hat hier nichts zu suchen“. Er habe eine Sondererlaubnis für den Bus, da seine Arbeitsstelle mehr als sieben Kilometer entfernt sei, so Eugen. Er zieht einen Papierfetzen aus seiner Jacke. „Na gut, aber da steht nichts davon, dass du sitzen darfst“. Eugen steht auf. Als der Schaffner außer Sichtweite ist, steckt ihm eine ältere Frau eine Schachtel Zigaretten zu. „Vielen tat man schon leid“, sagt der echte Eugen Friede knapp 70 Jahre später.
Vier Menschen, vier Schicksale
Das Drama erzählt im Wechselspiel von nachgespielten Szenen und Interviews mit den Protagonisten die Geschichte vier junger Juden, die sich wie 7000 andere im nationalsozialistischen Berlin vor dem langen Arm der Gestapo zu verstecken versuchen. Cioma Schönhaus ging nach dem Krieg in die Schweiz. Als seine Eltern nach Theresienstadt deportiert werden, fängt er damit an, professionell Ausweispapiere zu fälschen und rettet damit vielen anderen Juden das Leben. Ruth Gumpel, die später in den USA lebte, wird nach unterschiedlichen Verstecken von einem Oberst der Wehrmacht aufgenommen. Obwohl dieser die wahre Identität der jungen Frau kennt, schützt er sie.
Eugen Friede, der nach langer Zeit in Kanada wieder in Deutschland lebt, wird bei der Familie von Hans Winkler versteckt, der öffentlich Widerstand gegen die Judenverfolgung leistet. Hanni Weißberg, die heute in Paris lebt, gelangt über Umwege zu einer verwitweten Kinokartenverkäuferin, deren Sohn von der Wehrmacht eingezogen wurde. Die beiden führen fortan eine Mutter-Tochter-ähnliche Beziehung.
Ganz nah dran
Die Handlungsstränge der vier Protagonisten wechseln sich regelmäßig ab und überschneiden sich sogar an mancher Stelle – wenngleich die Hauptfiguren nie aufeinandertreffen. Diese vier separaten und in sich abgeschlossenen Handlungen sorgen jedoch dafür, dass es dem Zuschauer teilweise schwerfällt, den Geschichten zu folgen. Immer wieder gibt es Schnitte zu neuen Orten und Charakteren, ohne dass dies in irgendeiner Weise deutlich wird. Gerade zu Anfang des Films kann der Zuschauer dabei leicht die Übersicht verlieren. Einzig gelegentliche Einblendungen, die wie eine Art Zeitachse den historischen Verlauf des zweiten Weltkriegs wiedergeben, bieten Orientierung. Die Schicksale der vier Protagonisten geben so viel her, dass man vermutlich sogar vier eigenständige Filme daraus hätte machen können.
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Dem gegenüber steht die äußerst atmosphärische Inszenierung des Faschismus-Dramas. Tolle Kostüme, stimmungsvolle Kulissen und die einprägsame musikalische Untermalung können dabei auch ein wenig über die zum Teil hölzern wirkende Schauspielleistung hinwegtrösten. Eingestreute Schwarz-weiß-Bilder aus jener Zeit tun ihr übriges. Lediglich die vier Hauptdarsteller können vollends überzeugen und bringen das unvorstellbare Leid, den Hunger und die Paranoia, der sich jüdische Menschen im Untergrund Nazi-Deutschlands ausgesetzt sahen, gekonnt auf die Kinoleinwand. Dabei wird dem Zuschauer eine Perspektive auf das Leben zu Zeiten des Holocausts eröffnet, die selbst im Geschichtsunterricht kaum Erwähnung findet.
Die größte Besonderheit des Dramas ist jedoch die einzigartige Erzählweise. Alle vier Hauptcharaktere sind reale Personen, die den Drehbuchautoren Claus Räfle und Alejandra López ihre Geschichten erzählt haben. Die Interviews, die Räfle und López mit Schönhaus, Gumpel, Friede und Weißberg geführt haben, sind Bestandteil des Films. Immer wieder werden Gesprächsschnipsel in die Szenerie eingestreut, um das Geschehene noch deutlicher zu machen. Das trägt nicht nur zum besseren Verständnis der Handlung bei, sondern erzeugt auch eine ungleiche Nähe zu den Protagonisten, lässt sie realer wirken. Dabei geht die Ich-Erzählperspektive der Protagonisten häufig fließend in die Originaltöne über. Das hat den angenehmen Effekt, dass der Zuschauer durch die Interviewszenen nicht abrupt aus dem Geschehen gerissen wird – auch wenn das nicht vollends vermieden werden kann.
„Die Unsichtbaren – wir wollen leben“ kommt am 26. Oktober ins Kino.