Jahrelang fanden Obdachlose im Süden Hamburgs keine Herberge. Das Pik Ass liegt einen stundenlangen Fußmarsch entfernt. Seit 2018 gibt es nun das Harburg-Huus. Der Nachtwächter und einige Bewohner erzählen, wie wichtig die Einrichtung ist. 

Nur wer stark betrunken und aggressiv ist, muss draußen bleiben. Alle anderen finden im Harburg-Huus Zuflucht. “Ein Mann hat mich mal bedroht, weil er nicht reindurfte. Er war verzweifelt, aber sowas geht natürlich nicht. Wir wollen hier einen sicheren Hafen für Obdachlose schaffen”, sagt Axel Feige und nimmt einen Zug von seiner Zigarette.

Feige steht vorm Eingang der Obdachloseneinrichtung. Er passt auf, während die Gäste im  Harburg-Huus schlafen. Diese Nacht sind es sechs Frauen und vier Männer – in getrennten Zimmern. Wenn eines der 15 Betten in den Ein- bis Viererzimmern frei ist, kann er eine weitere Person aufnehmen. Wer einen Platz braucht, drückt auf die Klingel neben der Eingangstür. Feige erklärt dann die Hausordnung und reicht anschließend Zahnbürste und Bettwäsche.

“Ich liebe den Nachtdienst”, sagt der Mann mit den langen Haaren und der Pudelmütze mit einem breiten Lächeln, das sich über seine stoppeligen Wangen spannt. “Wenn alle zur Arbeit gehen, bin ich fertig und habe den ganzen Tag vor mir.” Am Horizont färbt sich der Nachthimmel zartblau.

Bevor er zum Harburg-Huus kam, hat der Gast Marcel in Kneipen die Nacht überbrückt. Foto: Kim Ly Lam

Wenig Hilfe im Süden Hamburgs

Sichere Orte für Obdachlose gibt es in Harburg, einem der südlicheren Stadtteile Hamburgs, nur wenige, so ein Sprecher des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Immer mehr Menschen würden in den Fabrikbaracken neben dem Bahnhof frieren. Wer sich mit Sozialarbeiter*innen unterhält, kann sich von ihnen Handyfotos von Schlaflagern zeigen lassen. Vor den Eingängen des Einkaufscenters nebenan sammeln sich die Schlafsäcke. Seit Jahren nimmt die sichtbare Obdachlosigkeit in Hamburg zu.

“Wenn Obdachlose in Harburg früher nach Hilfe suchten, wurden sie auf Einrichtungen wie das Pik As in der Neustadt verwiesen. Aber ohne Zugticket kommt man nicht weit”, sagt Thorben Goebel-Hansen, Einrichtungsleiter des Harburg-Huus. Die Übernachtungsstätte Pik As liegt in der Neustadt. Goebel-Hansen erzählt von Menschen, die verwundet sind oder Blut husten. Die zu krank sind, um den Weg aus Harburg anzutreten. Durch den Alten Elbtunnel oder über die Elbbrücken sind es knapp 14 Kilometer.

Das DRK habe lange nach einem Ort gesucht, um das Harburg-Huus aufzubauen, sagt Goebel-Hansen. Im Phoenix-Viertel habe man schließlich eines von Hamburgs ältesten Industriegebäuden übernommen und saniert. Über 100 Jahre alt ist das Haus, eine ehemalige Schiffsdieselfabrik mit rostroten Ziegeln.

Seit der Eröffnung im Sommer 2018 wurden über 3500 Übernachtungen gezählt. Die Gäste kommen aus Hamburg, anderen Gebieten Deutschlands, aus der europäischen Nachbarschaft oder dem entfernteren Ausland. Manche sind vierbeinig.

“Wir sind eine der wenigen Tagesaufenthalts- und Übernachtungsstätten in Hamburg für obdachlose Menschen mit Tieren. Anderorts müssen sie sich oft von ihren Gefährten trennen”, sagt Goebel-Hansen. Und damit meist von der letzten Konstante ihres Lebens. Die Tiere haben oft ähnliches Leid erfahren, wie ihre Besitzer*innen. Das verbindet.

Ein kleiner Yorkshire Terrier blickt in die Kamera.
Auch den kleinen Spooky heißt das Harburg-Huus Willkommen. Foto: Kim Ly Lam

Obdachlosigkeit: mehr als ein Winterproblem

Goebel-Hansen will mit dem Harburg-Huus einen Ort schaffen, an dem die Menschen zur Ruhe kommen, sich die Haare waschen können und Essen bekommen. Im Winter wie im Sommer. “In der Winterzeit bekommen wir viele Spenden. Viele Leute sorgen sich, weil es kalt ist. Doch die Not obdachloser Menschen bleibt darüber hinaus bestehen.”

Auch Sommerhitze ist ein Problem. Oft sitzen obdachlose Menschen dann wie Ausstellungsstücke im Zug. Ihre Armut kriecht den Passagieren in die Nase. Keine Höflichkeit und kein Lächeln können das ändern. Obdachlosigkeit führt zu gesellschaftlichem Ausschluss. Und sie kann ganz plötzlich können.

“Ich habe nach Hilfe geschrien”

“Ich bin im Harburg-Huus, weil ich von meinem Mann Abstand nehmen musste”, sagt Carina Föllmers*. “Ich habe versucht, bei ihm zu bleiben, aber es ging einfach nicht mehr.” Jeden Abend habe er Bier getrunken oder Whiskey gekippt. Dann kam der Tag, an dem er auf sie einschlug. “Ich habe nach Hilfe geschrien. Eine Freundin von ihm war dabei. Sie hat gelacht.”

Föllmers packte eine Taschen mit den nötigsten Habseligkeiten. Monate später fand sie sich im Harburg-Huus wieder. Ihre Kinder hofft sie in naher Zukunft aus der Obhut holen zu können. Denn es geht bergauf: Seit Kurzem arbeitet sie in einer Physiopraxis und hat ein WG-Zimmer in Aussicht. Sie träumt davon, wieder mit ihren Kindern zusammenzuleben.

Wenn sie über die beiden spricht, knibbelt sie an ihren pinklackierten Nägeln. Ihre Augen werden feucht. “Das, was ich verdiene, reicht noch nicht, um sie nach Harburg zu holen.” Dann fügt die 27-Jährige hinzu: “Ich habe Angst, eine schlechte Mutter zu sein.”

Harburg-Huus als Brücke zurück

“Wir möchten unsere Gäste dabei unterstützen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren”, sagt Henning Eberhardt, Sozialarbeiter beim DRK. Drei Nächte dürfen sie bleiben. Wenn sie am Therapie- und Sozialangebot teilnehmen und im Betrieb helfen, können Ausnahmen gemacht werden. So wie bei Föllmers.

Eberhardt sitzt im angrenzenden Container, einer Schachtel aus Stahl, von der man auf den Außenmühlenweg herunterblicken kann. Er streckt einem beim zweiten Wiedersehen zum Gruß die Faust entgegen und lacht. Es ist ihm wichtig, dass die Gäste im Harburg-Huus würdevoll behandelt werden.

“An manchen Morgen gibt es Bio-Milch zum Kaffee”, sagt er. “Wir kriegen tolles Essen von der Tafel.” Einer Dame aus Frankreich habe er einmal eine hochwertige Funktionsjacke in die Hände gedrückt. “Warum nicht? Unsere Gäste haben es wie andere Menschen verdient, gut zu essen oder sich schön zu fühlen.”

“Das Gefühl der Würde ist kein Privileg für Reiche.”

Die Menschen, die im Harburg-Huus arbeiten, spülen nicht bloß Geschirr oder prüfen die Spendenbestände. Sie hören zu. Etwa beim Nachtdienst, wenn ein Gast durch die Gänge streift, weil er nicht schlafen kann, sagt Nachtwächter Feige. “Einige haben Unglaubliches durchgemacht. In stillen Momenten bekommt man das mit.”

Wie vor einigen Monaten: Die Frau setzte sich in den halbdunklen Essenssaal und begann zu schluchzen. Ob sie reden wolle? Sie schüttelte den Kopf, ihre Tränen tropften auf ihr T-Shirt. Feige nahm sich einen Holzstuhl und setzte sich schweigend daneben. “Ich kann nicht immer helfen, aber ich versuche, da zu sein.”

Jeden Abend schreibt Feige zum Dienstschluss in ein dünnes Logbuch. Dann schließt er die Poststelle ab, das kleine “Aquarium” aus Panzerglas im Flur, und verabschiedet sich von den Kolleg*innen. Draußen ist es mittlerweile hell, die Vögel zwitschern.

Die Bewohnerin Föllmers sitzt schon auf einer Palettenbank und genießt die Sonne. Sie freut sich auf ihren Mietvertrag und hofft auf einen reibungslosen Auszug. Von der neuen Wohnung aus wären es nur wenige Minuten Fußweg zur Einrichtung. Ob sie das Harburg-Huus besuchen würde? “Auf jeden Fall. Die Menschen sind mir ans Herz gewachsen. Und ich weiß ja, dass sie da sein werden.”

*Name von der Redaktion geändert

Titelfoto: Kim Ly Lam

Info:
Das Harburg-Huus sucht freiwillige Helfer*innen im Rahmen eines Ehrenamts (Ansprechpartnerin: Rosa Schlottau) oder Freiwilligen Sozialen Jahres (Ansprechpartner: Thorben Goebel-Hansen).