Das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ ist ein Mythos – das zeigen die Werke von Fotograf Matt Black. FINK.HAMBURG hat mit Kurator Ingo Taubhorn über die aktuelle Ausstellung im Haus der Photographie gesprochen.
Tagebucheintrag von Matt Black, Freitag, 5. Januar 2016. Fresno, Kalifornien:
“Der Busbahnhof in der Stadt riecht übel. Die Toiletten sind am anderen Ende, und der Warteraum ist ziemlich leer; vor allem Frauen sitzen dort mit ihren Taschen: eine junge Frau mit langen Haaren und Handy, eine Frau mittleren Alters in einer schwarzen Reißverschlussjacke, eine alte Frau mit Brille. Der Bus ist weiß, unbeschriftet, und es gibt – mit mir – zehn Passagiere. Der Fahrer verkündet die Regeln: Nicht rauchen, nicht fluchen, keine Musik. Ein Fahrgast antwortet: »Gott segne Sie«. Im Süden fahren wir auf dem Highway 99 durch Tulare, Delano, McFarland, Bakersfield; heruntergekommene Orte wie diese haben mich zu meiner Tour angeregt.”
Der Fotograf Matt Black stammt aus einer ärmlichen Ackerbaugemeinde in Kalifornien. Einer von vielen Orten, in denen vom Mythos des „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ nicht mehr viel übrig ist. Hohe Selbstmordraten, hohe Arbeitslosenquoten, und geringe Schulbildung sind in vielen Teilen der USA allgegenwärtig: Dutzende Gemeinden mit Armutsraten über 20 Prozent sind über das ganze Land verteilt. Abseits der großen Versprechungen des American Dream liegt eine Realität, die von Chancenlosigkeit gezeichnet ist.
Matt Black macht mit seinen Fotografien jene Orte und Menschen sichtbar, die durch das gesellschaftliche Raster fallen. Auf fünf Reisen durch insgesamt 46 US-Bundesstaaten sammelte er das Material für die aktuelle Ausstellung „American Geography“: Eine visuelle Landkarte verknüpft demografische Daten, dokumentarische Bilder, und persönliche Eindrücke miteinander. Die Ausstellung wird als Weltpremiere im Haus der Photographie in Hamburg gezeigt.
Über 100.000 Meilen durch die USA
„Ich wollte, dass die Reise eine sinnvolle Route ergibt, auf der man bei jedem Stopp in einem von Armut betroffenen Gebiet aussteigt. Ich wollte kein Zickzack fahren, um zu vermeiden, dass es so aussieht, als ob ich nach diesen Orten suchen würde. Ich stellte verblüfft fest, dass es möglich war, einmal komplett durch die USA und wieder zurückzureisen, ohne jemals wirklich eine Armutsregion zu verlassen, weil sie alle ineinander übergehen“, sagte Matt Black in einem Interview mit “Halle4”, dem Onlinemagazin der Deichtorhallen.
Bruch mit dem Mythos des American Dreams
Die insgesamt ausgestellten 78 Exponate zeigen, wie tief Armut in der DNA des Landes verwurzelt ist. In verschiedenen Kapiteln begleiten die Besucher*innen Matt Black auf seinen Busreisen quer durch die USA, bei denen er seit 2013 insgesamt über 161.000 Kilometer zurücklegte. Zu sehen sind quadratische Schwarz-Weiß-Bilder und weite Landschaftspanoramen, die von Tagebucheinträgen ergänzt und eingeordnet werden. Der Fotograf schafft es, Zahlen und Fakten zu humanisieren, indem er etwa Volkszählungsdaten mit seinen kontrastreichen Fotos und scharfen Beobachtungen anreichert.
Tagebucheintrag von Matt Black: Donnerstag, 13. Dezember 2018. Port Arthur, Texas.
Das Zentrum von Port Arthur steht nicht nur leer, sondern ist halb verschwunden. Es wurden mehr Gebäude abgerissen, als jetzt noch stehen. Vor den Eingängen von Kaufhäusern sind auf dem Gehweg noch deren Namen in edlem Fliesenmosaik angebracht – Hall’s, Three Sisters, Franklin’s, Levine’s –, aber die Gebäude existieren nicht mehr.
Durch Lücken in der Skyline kann ich direkt hinter der Stadt Schornsteine einer Ölraffinerie erkennen. Es ist die größte in den USA, sagt man mir. Die Krebsrate liegt 40 Prozent über dem texanischen Durchschnitt. Die Armutsrate ist doppelt so hoch. Der Gehweg ist von Gras überwuchert. Eine junge Frau in einem Trainingsanzug geht vorbei; sie ist in Tränen aufgelöst. Ich frage sie, ob sie okay ist, und sie schüttelt den Kopf und geht weiter.
Tagebucheintrag von Matt Black: Samstag, 13. April 2019. Indianola, Mississippi.
Ich fahre auf dem Highway 49 nach Drew, wo heute Lebensmittel ausgegeben werden. Es kommen vierhundert Menschen. Die High School wurde vor zwei Jahren geschlossen, aber einige Klassenräume werden genutzt, um Grundnahrungsmittel zu verteilen. Heute erhält eine Einzelperson eine braune Papiertüte mit Kartoffeln, Äpfeln, tiefgekühltem Fleisch, eine Familie einen Pappkarton mit denselben Artikeln, aber in größerer Menge.
Fast die Hälfte der Schüler in Drew macht keinen Abschluss. Auf einem Whiteboard in einem Klassenzimmer steht eine handgeschriebene Liste mit Gründen für das Aufgeben: Will cool sein; Die Lehrer erlauben das Brechen von Regeln; Zu häufig vom Unterricht ausgeschlossen; Keine Vorbereitung auf ein Studium; Die Beförderung zur Schule; Keine Zukunftspläne; Denke, es ist zu schwer; Keine Lust auf Vorschriften; Finanzielle Gründe; Schwangerschaft; Versagensängste; Kein Babysitter.
Tagebucheintrag von Matt Black: Mittwoch, 13. November 2019. Lovely, Kentucky.
Es ist kalt, und es liegt Schnee. Samantha und Derek sind in ihrem Wohnwagen. Dessen kaputte Fenster sind mit Sperrholz abgedeckt. Sie lassen auf dem Herd die ganze Nacht eine Flamme brennen, so dass es im Inneren warm ist, aber die Leitungen unter dem Trailer sind eingefroren, weshalb sie kein Wasser haben.
Samantha ist schwanger und musste sich bereits mit mehreren Mageninfektionen herumschlagen. Ihr wurden zweimal Antibiotika verschrieben; sie kann es sich aber nicht leisten, die Rezepte einzulösen. Sie hat vier Tage lang nichts gegessen, hat keine Krankenversicherung und kann keinen Arzt aufsuchen, es sei denn sie geht wieder in die Notaufnahme. Sie hat ihre letzten neun Dollar ausgegeben, um sich vom Krankenhaus nach Hause fahren zu lassen.
Tagebucheintrag von Matt Black: Dienstag, 14. Mai 2019. Calexico, Kalifornien.
Arnulfo lebt in einer Hütte am New River, der hier, von Mexiko kommend, die Grenze passiert. Es soll der am stärksten verschmutzte Fluss in den USA sein. Das Wasser riecht schon von weitem nach Abwässern und Chemikalien. Vor seiner Hütte hat Arnulfo eine Feuerstelle, einen Strandschirm und ein Solarmodul, um sein Handy aufzuladen. An seinem Fahrrad hat er seitlich eine Machete festgebunden. Gelegentlich geht er über die Grenze nach Mexiko. »Da drüben bin ich ein reicher Mann; hier bin ich bloß obdachlos.« Die Hütte seines Nachbarn ist abgebrannt; übrig sind ein Haufen verkohlter Bretter, Planenreste und schwarz gewordenes Papier.
Tagebucheintrag von Matt Black: Sonntag, 26. Februar 2017. Indianola, Mississippi.
Heute ist der 200. Jahrestag der Gründung des Staates Mississippi. Im Zentrum von Drew reißt ein Trupp Bauarbeiter einen alten Friseurladen ab, Ziegel für Ziegel, um sie als Altmaterial zu verkaufen. Ich lerne Irene Sommers (81) kennen. Sie hat ihren linken Fuß Heck, ihren rechten Dora genannt. Sie ging 30 Meilen (ca. 48 km) zu Fuß, um Essensgutscheine im Wert von 49 Dollar abzuholen. Ich nehme am Gottesdienst im Trinity House of Prayer in Moorhead teil. Das Eingangslied heißt „Better Days ahead« (Bessere Tage liegen vor uns), aber als ich der Predigt zuhöre, komme ich ins Grübeln. »Wir haben es alle vermasselt, verbockt, wir wissen gar nichts«, sagt der Pastor von der Kanzel. »Amerika ist zu groß, um es von außen zu zerstören, wir werden von innen heraus zerstört werden.«
“Black vermittelt ein Gefühl von Machtlosigkeit”
FINK.HAMBURG hat mit dem Kurator des Hauses der Photographie, Ingo Taubhorn, gesprochen, der die Ausstellung gemeinsam mit Matt Black konzipierte:
FINK.HAMBURG: Wie kam es zu der Zusammenarbeit?
Ingo Taubhorn: Matt Black ist seit letztem Jahr vollwertiges Mitglied der Agentur Magnum, eine der bekanntesten Agenturen für Fotografen. Ich habe schon oft mit Magnum zusammengearbeitet und so wurde das Projekt gewissermaßen an mich herangetragen.
Seit über zwei Jahren beschäftige ich mich mit unterschiedlichen Herangehensweisen und Formen dokumentarischer Fotografie unter der Fragestellungen: Wie leben wir und wie wollen wir leben? Mit Blacks Ausstellung konnte der Blick auf die Dokumentarfotografie in unterschiedliche Richtungen erweitert werden.
Außerdem haben wir bemerkt, dass das Thema Amerika bei vielen Besuchern immer noch sehr virulent ist. Da kam die Idee, das Projekt zu einem Zeitpunkt zu veröffentlichen, in dem Amerika stark in der Öffentlichkeit steht – während der US-Wahlen 2020.
Können Sie uns einen Einblick in die Konzeption der Ausstellung geben?
Taubhorn: Die Konzeption dabei war, Gemeinden aufzusuchen mit Armutsraten von über 20 Prozent und dann vor Ort die Dinge auf sich zukommen zu lassen, mit den Menschen zu sprechen, die teilweise ihre Türen öffnen. Wichtig war dabei, immer die Würde des Anderen aufrechtzuerhalten. Matt Black nutzte die Kamera, um bestimmte Situationen einzufangen, aber nicht um sensationshungrig zu sein. Zum Konzept gehört auch, dass er Armut nicht versachlichen will.
Wie sind die Werke von Black entstanden?
Taubhorn: Der wichtigste Schlüssel, um zu verstehen, warum Matt Black dieses Projekt gemacht hat, ist seine Herkunft. Wenn man sich Kalifornien auf der Zunge zergehen lässt, dann denkt man an etwas, das den Mythos des Golden State ausmacht, wie Baywatch, Silicon Valley oder Hollywood. Matt Black sagt, das stimmt auch teilweise, aber da, wo er herkommt, dem kalifornischen Central Valley, ist das alles nicht da. Es ist eine der fünf ärmsten Regionen in den Vereinigten Staaten. Das war im Prinzip der Ausgangspunkt, an dem Black losgegangen ist – um den Mythos zu brechen mit Bildern aus diesem anderen Kalifornien.
Mit welchen Techniken arbeitet er?
Taubhorn: Mit seinen quadratischen Bildern nähert er sich der Thematik auf eine journalistische Art und Weise und verabschiedet sich von der Begrifflichkeit des Voyeuristischen und das macht seine Arbeit auch so spannend. Sobald das Medium schwarz-weiß ist, geht man von einem artifiziellen Moment aus. Gleichzeitig sind die Bilder dadurch unglaublich schwer zeitlich einzuordnen – es gibt keine Farben, an denen man sich orientieren kann. Die Bilder könnten auch in den 30ern aufgenommen worden sein, aber alle sind in den Jahren 2015, 2016 bis 2020 entstanden.
Angelehnt an seine vier Road Trips wollte Black die Ausstellung nach den unterschiedlichen Richtungen sortieren und demnach in vier Kapitel aufteilen. Jede einzelne Reise beginnt er mit einem Tagebucheintrag. Auf einmal bin ich mitten im Geschehen. Die emotionalen Texte sind für mich auch ein Zeichen für seine individuelle Betrachtung und dass keine wissenschaftliche Fallstudie in Form von Bild und Text dahintersteckt.
Wie lief die Zusammenarbeit mit dem Künstler ab?
Taubhorn: Diese Ausstellung ist eine der ersten in dieser Größe mit einem Künstler, die letztendlich nur über Telefon und Zoom-Konferenzen realisiert worden ist. Im März haben die Vorbereitungen begonnen: Wir sind das erste Mal mit Laptop und offener Kamera und umgedrehtem Bildschirm durch die Halle gegangen. Es musst erst einmal eine Methode gefunden werden, über die Distanz miteinander arbeiten zu können. Die größte Herausforderung war, das Gefühl und die Atmosphäre der Halle digital zu übermitteln.
Was ist für Sie das Besondere an Blacks Werken?
Taubhorn: Black vermittelt ein Gefühl von Machtlosigkeit. Durch die Existenz der Bilder wird das, was die derzeitige amerikanische Politik zu vermitteln versucht, ad absurdum geführt. Und ich glaube, das wird in diesen Bildern ganz klar und deutlich.
Eine Frage der Perspektive
Neben den Tagebuchauszügen wird die Ausstellung durch Fotografien von Gegenständen ergänzt, die Matt Black auf seinen Reisen fand. Das Zusammenspiel der einzelnen Komponenten schafft ein bedrückendes Bild einer tief gespaltenen Gesellschaft – das Gegenteil eines “goldenen Staates”. Die Menschen und Orte, die im Fokus der Arbeit stehen, wirken, als hätte man sie bereits vergessen – oder als hätte man nie gewusst, dass sie überhaupt existierten.
Titelbild: Victoria Szabó
Die Ausstellung “American Geography” von Matt Black ist noch bis zum 31. Januar 2021 im Haus der Photographie der Deichtorhallen als Weltpremiere zu sehen. Aufgrund der Corona-Pandemie ist diese derzeit geschlossen. Wann das Haus der Photographie wieder öffnet, und alle weiteren Informationen findet ihr auf der offiziellen Seite der Deichtorhallen.