Heiner möchte Barrieren abbauen, und zwar mit unternehmerischem Blickwinkel. Die Idee: eine Stadtführung mit Perspektivwechsel. Er gehört zu den Ehrenamtlichen von StattTour – Hamburg besichtigen im Rollstuhl.

„Einen Rollstuhl zu kaufen, ist etwas sehr Schwieriges, man muss vieles beachten.“ Heiner Scheiding, 20 Jahre, sitzt nicht im Rollstuhl, aber kennt sich trotzdem aus. Hinter ihm ragt die Elbphilharmonie auf. Er spricht von dem Projekt StattTour, zeigt Menschen Hamburg vom Rollstuhl aus, obwohl sie selbst in der Regel nicht auf diesen angewiesen sind. Es geht darum, zu vermitteln, wie barrierefrei Hamburg ist – und wo es noch Probleme gibt.

Heiner sitzt auf einer Bank direkt an der Elbe. Auf der anderen Seite des Flusses sind die Kräne des Hafens zu sehen. Ab und zu fährt ein Schiff vorbei, Möwen schreien. Nur wenige Menschen sind an diesem Montagabend unterwegs. Heiner zeigt auf die Bänke vor ihm. Sie befinden sich auf dem Platz vor der Elbphilharmonie oder „Elphi“, wie Heiner sagt. Der Aufbau ist ein positives Beispiel für Barrierefreiheit. Es sind ein paar Bänke auf dem Weg eingebaut und zwischen ihnen verläuft ein geschwungener Weg, der zum Herunterrollen geeignet ist. Ideal für alle, denen Stufen ein Hindernis sind.

Pflege, Politik oder Sport: Viele Hamburger:innen zeigen gesellschaftlichen Einsatz – und das auf ganz unterschiedliche Weise. FINK.HAMBURG erzählt die Geschichten von 25 Menschen – etwa einem Rikschafahrer, der Senior:innen kutschiert oder einem Pfarrer, der Predigten im Internet versteigert. Das ist alles andere als langweilig, Ehrensache.

Das Problem, eine Treppenstufe nicht überwinden zu können, kennt Heiner aus seinem eigenen Alltag nicht. Auch mit betroffenen Menschen hatte er bislang wenig Kontakt. Sein Lebenslauf verlief bisher eher stromlinienförmig mit dem Ziel, Unternehmer zu werden. Nach dem Abitur hat er zunächst mit zwei Freunden ein Start-up gegründet, das Parfum im Abo vertrieb. Dazu sagt er mittlerweile: „Ich war nicht mehr so d’accord mit der Idee und habe mich davon wegentwickelt.“ Ihm fehle der Sinn bei der Idee, aber Unternehmertum begeistert ihn weiterhin.

Heiner erzählt seinen Lebensweg mit ruhiger, tiefer Stimme, ein Bein über das andere geschlagen. Er hat kurze braune Haare, trägt eine schwarze Jacke und eine schlichte blaue Jeans. Gerade studiert er Wirtschaftspsychologie, weil ihm „normale Wirtschaft zu langweilig wäre“, sagt er. Heiner hat sich für die Fresenius Hochschule entschieden. Sehr teuer im Vergleich zu einer öffentlichen deutschen Universität. Er ist trotzdem überzeugt.

Alles werde sehr praxisnah vermittelt: „Unternehmertum wird dort gelebt“. Die Studiengebühren sind aber so hoch, dass Heiner neben seinem Teilzeitstudium noch bei einer Agentur arbeitet.

Letztes Jahr ist er nach Hamburg gezogen, weil er einfach Lust hatte. Er lebt hier in einer WG. Heiner ist flexibel, da er sein Studium auch an anderen Standorten der Fresenius Hochschule weiterführen könnte. Hamburg hat er hauptsächlich gewählt, weil seine Freundin in der Nähe lebt und er „die Stadt einfach schön findet“. Er lächelt dabei, mit seinen Armen deutet er auf die Umgebung. Das passt zu seinem Ehrenamt, denn bei StattTour geht es schließlich auch darum, Touristen die schönsten Seiten der Stadt zu zeigen.

Unternehmertum sinnvoll gestalten

Heiner sucht einen tieferen Sinn bei seiner Arbeit. Er erzählt das ruhig und eher nebenbei. Mit seinen 20 Jahren wirkt er sehr ernst und bestimmt. Bei der Sinnfrage half ihm ein Freund weiter: Der stellte ihm Enactus vor, eine weltweite Studierendeninitiative, die nachhaltige Projekte mit Unternehmertum vereint.

Die Initiative in Hamburg betreut momentan drei Projekte, StattTour ist eins davon. Heiner spricht das Konzept an, obwohl er selbst kaum Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderung hatte. Anders als seine Mitbewohnerin: Sie arbeitete mit behinderten Menschen zusammen und so wurde in der WG häufiger über  Inklusion gesprochen.

Manchmal lacht er verlegen

StattTour ist mittlerweile drei Jahre alt, und Heiner seit Oktober 2020 dabei. Es wurde zum idealen Projekt für ihn: die Kombination aus einer sinnvollen Aufgabe und der unternehmerischen Perspektive. Wenn Heiner über sein Ehrenamt spricht, hört man Begeisterung in seiner Stimme. Manchmal kann er eine Frage nicht beantworten, weil er noch nicht lange genug Mitglied ist. Dann lacht er verlegen, aber verspricht, bei seinen Teamkolleg:innen nachzufragen. Zusammen mit einem anderen Studenten leitet er das Team, obwohl er der jüngste ist. Das scheint ihn nicht zu stören und für ihn nicht weiter erwähnenswert zu sein. Er hat sich der Aufgabe angenommen.

Neben ihm sind momentan neun weitere Menschen ehrenamtlich engagiert, bis auf Björn. Björn ist der einzige Tourguide des Teams. Für die Touren wird er bezahlt. Er erklärt Hamburg aus der Sicht eines Rollstuhlfahrers. Außerdem bringt er eine neue Perspektive ins Team, da keines der Teammitglieder selbst auf einen Rollstuhl angewiesen ist. „Es wäre schon etwas anderes, wenn jemand von uns im Rollstuhl sitzen würde“, sagt Heiner schulterzuckend, das Team suche gerade nach Verstärkung und hoffe auch auf Zuwachs durch Menschen mit Behinderung.

“Viel Fun dabei”

Leider finden seit einem Jahr keine Touren mehr statt. „Das geht wegen Corona nicht“, sagt Heiner. Auf der Webseite können Gutscheine für eine Tour nach der Pandemie gekauft werden. „Ein paar Gutscheine haben wir schon vertrieben“, aber „wenn wir darauf angewiesen wären, ginge es nicht“. Momentan beschäftigt sich das Team damit, das Projekt bekannter zu machen, beispielsweise über LinkedIn. Dort macht Heiner Werbung: Zum einen um StattTour als möglichen Unternehmensausflug zu bewerben und zum anderen, um neue Investoren:innen zu finden.

Er selber konnte noch nie an einer Tour teilnehmen und kennt StattTour nur als Onlineprojekt. Für Heiner heißt Corona: Das Leben online weiterführen. So, wie es für viele andere in seinem Alter auch ist. Das gilt für sein Ehrenamt als auch für sein Studium.

Heiner erzählt, dass die Touren gut angenommen wurden, wenn sie denn stattfinden konnten. Die Teilnehmenden wurden in Zweierteams aufgeteilt und wechselten sich mit dem Rollstuhl ab. Am Ende jeder Führung wurde das Erlebte reflektiert. Ein positives Bild blieb den Teilnehmenden im Kopf, die meisten hätten die Tour spannend gefunden. „Es ist auch immer viel Fun dabei“, weiß Heiner aus Erzählungen. Auch wenn eine Gruppe Rollstuhlfahrender auffällt, deshalb ist das Motto von StattTour: „Barrieren abbauen – in den Köpfen und auf den Straßen!“

Er sitzt noch immer auf der Bank an der Elbe und langsam wird es kalt. Heiner erzählt noch ein bisschen von den Mitgliedern seiner Initiative und dass dort verschiedene Studiengänge aufeinandertreffen. Das gefällt ihm. Raus aus der Privatuni, rein in andere Welten, mit denen er sich noch nicht gut auskennt. Aber immer mit dem Ziel, Unternehmertum sinnvoll zu gestalten.

Foto: Elisabeth Birkner