Yehor Opanasenko ist Mitglied der ukrainischen Tennis-Nationalmannschaft. Um seine Heimat sportlich repräsentieren zu können, durfte der 18-Jährige ausreisen und spielt seitdem Tennis in Hamburg. Ein Portrait zwischen Krieg und Zukunftsplänen.

Titelbild: Sarah Lindebner

Yehors Mutter wollte nie, dass aus ihm ein Fußballspieler wird. Deshalb hat sie ihn zum Tennistraining angemeldet. Vier oder fünf Jahre alt war er damals. Genau erinnert er sich nicht daran. Als er älter wurde, nahm er an Turnieren teil. Sie zu gewinnen, hat ihm Spaß gemacht. Also blieb er am Ball. Neben der Schule trainierte er, sechs Tage die Woche, oft zwei Trainings am Tag – für nationale Turniere, internationale Turniere, die Nationalmannschaft.

Yehor Opanasenko spielt auch weiter in Hamburg Tennis. Konzentriert spielt er den Ball zurück über das Netz.
Yehor spielt weiterhin Tennis, um die Ukraine im Sport zu repräsentieren. Foto: Sarah Lindebner

Daran hat sich bis heute nichts geändert. An der Umgebung, in der er trainiert, jedoch schon: Gemeinsam mit seiner Freundin Anna flüchtete Yehor vor dem Krieg in der Ukraine nach Hamburg. Hier, auf dem Tennisplatz in Allermöhe, der durch grünen Maschendraht begrenzt ist, gibt es aber kaum einen Unterschied zu seinem vorherigen Leben. Mindestens zwei Stunden trainiert er an jedem Tag – außer am Sonntag. Am heutigen Mittwochnachmittag ist wenig los. Ein älteres Paar steht auf einem der Plätze, ein Gärtner sägt Äste an einem Baum ab. Die Plätze sind nicht die besten, aber hier zu spielen ist besser, als zwei Stunden in eine Richtung zu fahren, wie sie es die Wochen zuvor getan haben.

Yehor bewegt sich mit dem Selbstvertrauen eines Menschen auf dem Platz, der weiß, was er zu tun hat. Routiniert geht er mit Anna, selbst Profi-Tennisspielerin, ihre Übungen durch – angefangen im kleinen Feld nahe des Netzes gehen sie schnell zu Ballwechseln auf dem großem Feld über. Sie brauchen nur wenige Worte, um zur nächsten Übung zu kommen. Passiert ein Fehler, lachen beide. In der Spielpause teilen sie sich ein Handtuch, um sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen.

Eine Flucht in Etappen

Alles wirkt normal, dabei ist es alles andere als das. Bevor Yehor vor etwa einem Monat nach Deutschland kam, hielt er zwei Monate lang keinen Schläger in der Hand. Er sagt, es fühlt sich an, als müsse er bei Null starten und auf sein altes Spielniveau erst wieder zurückfinden.

Für Tennis blieben keine Gedanken, als Putins Truppen in die Ukraine einmarschierten. Zu Beginn des Kriegs dachte Yehor, er würde träumen. Feuer, Schüsse, Panzer vor der eigenen Haustür, so sagt er, fühlten sich surreal an. Er konnte nicht glauben, dass das die Realität war. Er und seine Familie verließen Kiew: Sie haben ein zweites Haus, etwa 200 Kilometer südlich der ukrainischen Hauptstadt.

Ein oder zwei Wochen blieben sie dort, genau erinnert Yehor sich nicht daran. Dann hörten sich auch dort Bomben explodieren. Daraufhin fuhren sie zu Freunden in die Nähe von Lwiw. Viele Menschen versuchten zu diesem Zeitpunkt von Kiew und anderen Städten aus in den Westen zu kommen, auf den Straßen staute sich der Verkehr. Schlussendlich brauchten sie vier Tage für eine Strecke von gut 800 Kilometern.

Ausreisen als junger Mann – ein Sonderfall

Yehor konnte die Ukraine verlassen, obwohl er 18 Jahre alt ist. Laut Gesetz hätte er im Land bleiben müssen. Das Sportministerium stellte einen Ausreiseantrag für ihn und seinen Trainer, damit er weiter Tennis für das Nationalteam spielen kann. Der Antrag wurde genehmigt.

Yehors Familie blieb in der Ukraine, sein Vater darf das Land nicht verlassen. Sie telefonieren jeden Tag. Soweit gehe es ihnen gut. Während Yehor von ihnen erzählt, wird er langsamer. Sein Blick geht ins Leere, er knetet seine Hände. Seine Augen füllen sich mit Tränen. „Vor zwei Tagen haben sie Bomben beim Bahnhof gehört. Ich glaube, die Station wurde bombardiert und ist komplett zerstört”, sagt er und bittet darum, die nächste Frage zu stellen.

Ein Zimmer in Hamburg-Bergedorf

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine macht sich auch in Hamburg bemerkbar. FINK.HAMBURG hat dazu in der Serie „Ukraine in Hamburg“ Reportagen und Porträts von Betroffenen zusammengestellt. In der Schule und im Ballett, unterwegs mit einer geflüchteten Influencerin und einem Tennisprofi aus Kiew – FINK.HAMBURG zeigt unterschiedliche Herausforderungen und Perspektiven, die mit dem Krieg zusammenhängen.

Yehors Trainer hat einen Freund in der Nähe von Hamburg, zu dem er vorübergehend ziehen konnte. Anna war erst bei ihrer Schwester in Spanien, bevor sie ebenfalls nach Deutschland kam. Eine eigene Wohnung zu finden, war schwierig – entweder bekamen die beiden Absagen oder überhaupt keine Antwort. Erst auf dem Rückweg von einem Turnier in Frankfurt nach Hamburg hatten sie Glück: Über eine Website, auf der Wohnungen für Geflüchtete angeboten werden, fanden sie eine kleine Einzimmerwohnung in Bergedorf.

Tennisspieler Yehor Opanasenko sitzt auf einem Sofa in seiner Wohung, ein Kissen im Schoß.
Abseits vom Tennisplatz wirkt Yehor angespannter. Foto: Sarah Lindebner

Die Wand gegenüber der Eingangstür ist in schwarzer Farbe gestrichen. „Happy New Year“, steht darauf geschrieben. „Super hier!“ Auch eine Zeichnung von einem Lauch ist dabei. Die Kreidebotschaften an der Wand zeugen von früheren Bewohner*innen und ihren Gästen. Yehor hat das Logo der Serie „Breaking Bad“ dazugemalt, seiner Lieblingsserie.

Am Boden liegen zwei Lattenroste mit Matratzen, auf einer davon liegt ein Plüschhund. Anna hat ihn von zu Hause mitgebracht. Es sind die einzigen persönlichen Details in der Wohnung, die mit ihnen in Verbindung stehen. Neben dem Bett sind zwei Sofas, an der Wand hängen Obstkisten als Regale und Lichterketten. Yehor sitzt auf einem der Sofas während er erzählt. Ab und zu scheint er nicht zu wissen, wohin mit seinen Händen, greift nach einem Kissen. Er ist konzentriert – jedoch ist es eine andere Art von Fokus, als auf dem Tennisplatz.

Überall Zerstörung

Obwohl es ihm schwerfällt, will Yehor über die Zustände in der Ukraine sprechen. Über die Freunde, deren Häuser zerstört wurden. Über seine Großeltern, die während des zweiten Weltkriegs aufgewachsen sind und jetzt diesen Krieg miterleben. Über die Leute, die ohne Nahrungsmittel, Wasser und Strom in Bunkern festsitzen. Er zeigt Fotos von den Tennisplätzen in Irpin, auf denen er früher trainiert hat – und von denen jetzt nur noch Ruinen übrig sind. „Jetzt sieht es so aus. Alles ist zerstört. Die meisten Städte sehen so aus, schätze ich. Mariupol. Zerstörung, überall. Alle Städte sind zerstört“, so Yehor.

Anna sitzt am Küchentresen, über Bücher gebeugt, mit dem Rücken zu Yehor. Dennoch hört sie zu: Wenn Yehor Wörter auf Englisch fehlen, bittet er kurz um Geduld, um am Handy nachzuschlagen. Als er davon erzählt, was russische Soldaten den Menschen in der Ukraine antun, sucht er nach dem richtigen Begriff, sagt das Wort auf Ukrainisch. „Vergewaltigen“, hilft Anna aus.

Plan A: Von Hamburg zum Grand Slam

Yehor hat die Ukraine verlassen, um sie auf dem Tennisplatz repräsentieren zu können. Er wird – auch wegen Tennis – nicht in Hamburg bleiben. Im Sommer ziehen Anna und Yehor nach New Mexico in den USA, um dort zu trainieren. Er kennt niemanden dort – aber er weiß von einem Trainer, der auch aus Kiew stammt. Der Plan steht seit September, die beiden haben dort ein Stipendium bekommen.

Yehor wird Kinesiologie studieren, um später den ukrainischen Tennisspielern helfen zu können. Nicht nur ihnen – er glaubt, dass viele Leute medizinische Unterstützung gebrauchen können. Er findet, es ist ein guter Beruf. Vorerst ist das aber Plan B. „Das größte Ziel ist den Grand Slam zu spielen. Ich glaube, das ist möglich“, sagt Yehor. Sein größtes Vorbild ist Roger Federer, er mag seine Art zu spielen.

Yehor Opanasenko steht in seiner Wohnung in Hamburg. Er blickt direkt in die Kamera.
Yehor vermisst die Ukraine. Eines Tages will er dorthin zurückkehren. Foto: Sarah Lindebner

Zuerst muss er sich um ein Visum für die USA kümmern. Beim Beantragen hilft ein alter Freund, der selbst vor kurzem alle nötigen Unterlagen für sich selbst zusammengesucht hat. Nervös ist Yehor nicht. Er glaubt, er wird in den USA eine gute Zeit verbringen. Was danach passieren wird, weiß er noch nicht. Die Regelstudienzeit beträgt vier Jahre, das ist eine lange Zeit. Irgendwann will er wieder in die Ukraine zurück, er vermisst sein Zuhause. Aber erst, wenn der Krieg vorbei ist. Wann das sein wird, weiß er nicht. So bald wie möglich, hofft er.