Immer mehr Menschen gendern ihre Sprache. Warum eigentlich? Und wie gendert man “richtig”? FINK.HAMBURG forscht nach, ob sich die unterschiedlichen Perspektiven auf diversitätssensible Sprache vereinen lassen.
Von Marina Schünemann und Lilly Brosowsky.
Anatomie des Genderns: Wer wird tatsächlich angesprochen?
Kleines Gender-Lexikon:
Diversitätssensibel bedeutet im Gegensatz zum Begriff “gendersensibel”, dass nicht nur verschiedene Geschlechter in der Sprache berücksichtigt werden, sondern zum Beispiel auch Menschen mit Behinderung.Geschlecht (dt.) = sex/gender (engl.): Im Gegensatz zum Englischen gibt es im Deutschen nur ein Wort für “Geschlecht”. Die Unterscheidung in “sex” und “gender” meint das biologische und das soziale Geschlecht. Bei trans Menschen liegt hier ein Unterschied: Bei trans Frauen ist zum Beispiel das biologische Geschlecht männlich, das soziale Geschlecht aber weiblich.
Cis ist die Bezeichnung für Menschen, bei denen das biologische und das soziale Geschlecht übereinstimmen.
Intersexuell ist die Bezeichnung für Menschen, bei denen das biologische Geschlecht nicht klar als “männlich” oder “weiblich” definiert werden kann.
Non-binär bedeutet, dass sich die Person von der Kategorisierung des sozialen Geschlechts in “männlich” und “weiblich” distanziert. Dies beruht auf der Annahme, das jegliche sozialen Geschlechter lediglich konstruiert und von Vorurteilen in der Gesellschaft bestimmt sind.
Als queer bezeichnen sich Menschen, die nicht den heteronormativen Strukturen entsprechen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn die Person trans ist, homosexuell oder bisexuell.
Kritiker:innen des Genderns argumentieren, das generische Maskulinum meine alle Menschen, unabhängig vom Geschlecht. Besonders deutlich wird dies im Plural: 99 Ärztinnen werden grammatikalisch zu 100 Ärzten, sobald ein männlicher Arzt zu der Gruppe hinzukommt. Bis 2018 galt “Wissenschaftler” im Duden noch generisch für Männer und Frauen – inzwischen wird auch in Deutschlands wichtigstem Wörterbuch eine Unterscheidung zwischen “der Wissenschaftler” und “die Wissenschaftlerin” getroffen.
Feministische Linguist:innen wie Luise F. Pusch argumentieren gegen den Standpunkt, das generische Maskulinum meine alle Menschen mit. Für sie besteht das Wort aus einem explizit männlichen Stamm und der weiblichen Endung “innen”. Offiziell mag das generische Maskulinum sprachlich korrekt sein, inhaltlich wäre es aber anders sinnvoller: Eine Schreibweise mit Genderzeichen bezieht nämlich im Gegensatz zum generischen Maskulinum gleich drei Gruppen mit ein. Hier am Beispiel Student*innen: “Student” spricht cis Männer und trans Männer an. Das Sternchen spricht nonbinäre und intersexuelle Menschen an. Das “innen” spricht cis Frauen und trans Frauen an.
Das Problem mit den Genderzeichen
Trotzdem sind auch Genderzeichen nicht komplett diversitätssensibel, denn sie sind nicht immer barrierefrei. Das heißt, durch die Verwendung von Genderzeichen können Probleme beim Lesen für Menschen mit Behinderung entstehen: Für blinde Menschen und andere Personen, die einen Screenreader verwenden, stellen Sonderzeichen, die als Genderzeichen verwendet werden, teilweise eine Barriere da.
Auch Menschen mit Lernschwächen wie Legasthenie und für manche Menschen im Autismus-Spektrum kann das Sonderzeichen Probleme bereiten und den Zugang zu Texten schwer bis unmöglich machen. Diversitätssensible Sprache sollte nach Möglichkeit gendersensibel und barrierefrei sein, findet etwa Robbie Sandberg, Vorstand des Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg.
Ein neues Sonderzeichen?
Sandberg nutzt selbst einen Screenreader und kennt die Probleme mit dem Gendersternchen. Er ist überzeugt, dass nur ein neues Sonderzeichen die lange Debatte um das korrekte Gendern beenden kann. “Das würde für mich sämtliche Probleme auf einen Schlag lösen”, sagt er. Durch ein eigenes Zeichen wäre gewährleistet, dass Screenreader auf das Genderzeichen eingestellt werden können, ohne dass ein Zeichen an anderer Stelle fehlt.
Dies sei nämlich das Problem beim Genderstern: Das Sternchen-Sonderzeichen können Nutzende zwar abschalten, sodass sich die Lücke anstelle des Zeichens wie ein Glottisschlag anhört – allerdings wird der Stern dann auch an anderen Stellen nicht vorgelesen, wo er wichtig wäre. Dies ist etwa bei Pflichtfeldern auf Online-Formularen der Fall. Dieses Problem würde ein Zeichen, speziell fürs Gendern, lösen. Doch auch ein neues Sonderzeichen könnte neue Hindernisse bedeuten.
Als Glottisschlag bezeichnet man die kurze Pause in der Aussprache, wenn ein gegendertes Wort vorgelesen wird. Student*innen klingt dann zum Beispiel wie “Student … innen”. Damit soll deutlich werden, dass es sich weder um die komplett männliche (generisches Maskulinum), noch die komplett weibliche Form handelt, sondern um beide. Je nach (geschriebener) Genderform schließt der Glottisschlag auch Menschen außerhalb des binären Systems (Mann und Frau) ein.
Das richtige Gendern
In einem Artikel der FINK.HAMBURG-Reihe “Diversitätssensible Sprache” geht es um Meinungen aus der queeren Community. Zur Sprache kommt unter anderem Aaron. Er ist ein trans Mann und hat sich aus dieser persönlichen Perspektive mit gendersensibler Sprache beschäftigt: Aber auch er ist sich manchmal unsicher, wie man nun “richtig” gendert. Er gibt zu Bedenken, dass Sprache – und damit auch diversitätssensible Sprache – von der Akzeptanz der breiten Gesellschaft abhängig ist. Ein neues Zeichen, welches auf jetzigen Tastaturen noch nicht vorhanden ist und nur durch eine neue Tastenkombination einzufügen wäre, könnte die Akzeptanz selbst jener Leute schmälern, die gendersensible Sprache eigentlich richtig und wichtig finden: “Ich glaube ein neues Zeichen würde es verkomplizieren”, argumentiert Aaron. “Wenn das niemand auf seiner Tastatur hat, muss man es ständig irgendwo rauskopieren oder man muss eine neue Tastenkombination lernen. Die Mühe machen sich die meisten Leute nicht mal mit Akzenten. Das würde dazu führen, dass weniger gegendert wird, weil noch eine Barriere hinzukommen würde.”
“Je einfacher man es den Menschen macht, zu gendern, desto mehr Menschen würden das auch tun” – Aaron.
Die “Mitgemeint”-Falle
Christoph Busch ist Journalist und Drehbuchautor und erfand durch einen Zufall das Binnen-I: Er schrieb gerade an einem Buch über freie Radios: “Aus Bequemlichkeit hatte ich statt Hörerinnen und Hörer, ‘HörerInnen’ geschrieben, weil ich noch auf der Schreibmaschine schrieb”. Der Verlag war begeistert von der neuen Schreibweise und ließ es so. In den 1980er Jahren war das Binnen-I ein großer Schritt in Richtung diversitätssensibler Sprache. Selbst die feministische Linguistin Luise F. Pusch übernahm diese Gendervariante. Dazu erfand sie den Glottisschlag, also die kleine Pause in der Aussprache vor der Endung “innen”.
In der gesprochenen Sprache gendert Christoph Busch allerdings, indem er Männer und Frauen explizit anspricht, also zum Beispiel “Kollegen und Kolleginnen”. Diese Art zu gendern ist niedrigschwellig und er hofft, dass sich damit alle angesprochen fühlen. Weil intersexuelle und nonbinäre Menschen nicht explizit angesprochen werden, hat allerdings das Binnen-I – wie das generische Maskulinum, nur in abgeschwächter Form – ebenfalls ein “Mitgemeint”-Problem.
Auch Kris, die an der Universität Hamburg Gebärdensprache studiert und nonbinär ist, hat FINK.HAMBURG im Interview zu ihrer Perspektive zur diversitätssensibler Sprache befragt. Genau wie Aaron berichtet Kris im Interview, dass gerade der Glottisschlag sie aufhorchen lässt. Sie werten ihn als Zeichen, dass sich der/die Sprecher:in Gedanken über Gender und eine diverse Gesellschaft macht und diese auch in der Sprache abbilden möchte. Für Kris ist das ein Zeichen von Respekt und Anerkennung: “Wenn mir gegenüber im Alltag diversitätssensible Sprache verwendet wird, löst das bei mir eine großartige Euphorie aus. Ich fühle mich dann auch mehr angesprochen und ich werde aufmerksamer”.
Ein Genderzeichen, das verbindet
Die Erfinderin des Glottisschlag, Luise F. Pusch, sieht beim Genderstern Probleme. Durch den Genderstern würde das Wort zerrissen, dadurch wirke die weibliche Endung wie eine Anhängsel. Das suggeriere eine geringere Relevanz des weiblichen Geschlechts und spricht gegen den Anspruch der Gleichberechtigung in der diversitätssensiblen Sprache. “Das kann es nicht gewesen sein, dass wir Frauen uns schon wieder mit einer abgespaltenen Endung abfinden sollen”, sagt sie im Interview mit FINK.HAMBURG. Dasselbe gilt auch für andere Sonderzeichen, die zwischen dem Wortstamm und einer weiblichen Endung stehen, z. B. der Doppelpunkt oder der Unterstrich.
Stattdessen schlägt sie ein eigenes, verbindenes Zeichen vor: Statt den Genderstern zwischen den Stamm des Wortes “Student” und die Endung “innen” zu platzieren, stünde der Stern anstelle des i-Punktes. Auf der Tastatur wäre dies ähnlich umzusetzen wie zum Beispiel das @-Zeichen, welches ebenfalls nachträglich zur klassischen Schreibmaschinen-Tastatur hinzugefügt wurde. Durch das Drücken der “Alt Gr”-Taste könnte man den neuen Buchstaben dann unkompliziert beim Schreiben nutzen.
Auf der Suche nach einem Kompromiss
Annalena Knors arbeitet als Inklusionsberaterin für Museen und ist selbst blind. Ihr Vorschlag zu diversitätssensibler Sprache kommt ohne ein Sonderzeichen aus: Die Y-Variante nach Hermes Phettberg. Aus “Schüler und Schülerinnen” bzw. “Schüler*innen” wird “Schülys”. In der Einzahl wäre der/die Schüler:in dann ein “Schüly”. Allerdings gibt sie selbst zu Bedenken: “Ich merke, dass ich mich in meiner Sprache nicht traue, das so radikal durchzusetzen. Ich habe den Eindruck, dass die Debatte aktuell etwas überhitzt ist zu dem Thema und ich kann mir vorstellen, dass die Leute müde sind”, so Knors.
Genderneutral und barrierefrei
Robbie und Kris schlagen deshalb – unabhängig voneinander – eine weitere Möglichkeit vor, die genderneutral und barrierefrei wäre. Robbie sagt: “Ich versuche ganz viel, neutrale Formulierungen zu nehmen, also zum Beispiel sage ich statt “Kolleg*innen” dann “Team”. Das funktioniert natürlich nicht immer, aber öfter als man denkt. Man kann es ziemlich schnell in den eigenen Wortschatz integrieren, dann muss man auch gar nicht mehr viel überlegen”.
Genderneutral = Gendersensibel?
Faktencheck
Studie: LGBT+ Pride 2021
Global Study von Ipsos.Elf Prozent aller Befragten Deutschen gaben an, sich “nur, vor allem oder gleich viel” vom eigenen Geschlecht angezogen zu fühlen (d. h. nicht heterosexuell zu sein).
Die Studie ist repräsentativ für Deutsche unter 75 Jahren.
Der Nachteil beim genderneutralen Sprechen: Genderstern und Glottisschlag sollen irritieren und somit zum Nachdenken anregen, wie Alex Baur von der Queer Media Society erklärt: “Wenn man sich zum Beispiel die LGBT+Pride-Studie 2021 anschaut, dann haben im Jahr 2021 elf Prozent der befragten Deutschen angegeben, dass sie sich irgendwo in dem queeren Spektrum identifizieren. Die Dunkelziffer ist natürlich viel größer. Queere Menschen, nicht-binärer Menschen sind überall und werden nicht repräsentiert.” Deshalb nutzt er den Genderstern und den Glottisschlag als politisches Statement. Das fiele durch die genderneutrale Form weg.
Laut Kris gibt es nicht die One-Size-Fits-All-Lösung. Es werde immer Gruppen und Individuen geben, die sich mit der einen oder anderen Form des Genderns weniger wohl fühlen. “Meiner Meinung nach geht es bei diversitätssensibler Sprache primär darum, so viele Perspektiven wie möglich zu berücksichtigen”, sagt Kris. Es geht also auch um die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner.
Eine einheitliche Form des Genderns, da sind sich alle Befragten einig, wäre wünschenswert. Dann könnten blinde Menschen wie Robbie Sandberg und Annalena Knors ihre Screenreader ein für alle Mal einstellen. Aaron, der sich bisher unsicher ist, auf welche Art er gendern soll, hätte Klarheit. Und vielleicht würde diese einheitliche Form dann sogar in Regelwerke eingebunden werden.
Sprache im Wandel
Dies deutete der Rat für deutsche Rechtschreibung 2021 in ihrer Erklärung zu geschlechtergerechter Sprache an. Momentan ist das Gendern offiziell orthografisch und teilweise grammatikalisch inkorrekt. Das wird häufig als Gegenargument in der Genderdebatte genannt. Es ist jedoch kein Argument, das die Debatte beenden könnte. Denn Sprache ist immer im Wandel und war auch schon immer im Wandel.
Gäbe es eine Einigung über ein neues Zeichen, könnten Organisationen und Dachverbände dies in ihre Regelwerke und Richtlinien aufnehmen, wie etwa der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband bestätigte. Auch Screenreader könnten dann einmalig mit dem neuen Zeichen programmiert werden.
Mit dem Rat für deutsche Rechtschreibung wäre dann auch die höchste Instanz der deutschen Rechtschreibung vom Gendern überzeugt. Dies könnte auch zu mehr Akzeptanz in der breiten Gesellschaft führen. Das wäre wünschenswert – denn Akzeptanz in der Gesellschaft ist letztendlich das, was sich die Beteiligten in dieser Debatte alle wünschen.
Transparenz-Hinweis: Die Interviews mit den Protagonist:innen dieses Artikels wurden einzeln, also unabhängig voneinander geführt. Dies fand im Rahmen einer Artikelreihe über Gendern statt. Darin wird das Thema aus verschiedenen Perspektiven detailliert beleuchtet. Die anderen Artikel aus der Reihe findet ihr hier.
Titelbild: Lilly Brosowsky